Redner(in): Gerhard Schröder
Datum: 27.09.2000

Anrede: Meine Damen und Herren,
Quelle (evtl. nicht mehr verfügbar): http://archiv.bundesregierung.de/bpaexport/rede/23/19723/multi.htm


Anrede!

Die Gelegenheit, zum Auftakt der diesjährigen Herbstsitzung der Parlamentarischen Versammlung des Europarats zu Ihnen sprechen zu können, nehme ich gleich aus mehreren Gründen gern wahr.

Zum einen haben der Europarat und die europäischen Völker in dieser Woche Anlass, ein besonders wichtiges Jubiläum zu feiern: den 50. Jahrestag der Verabschiedung der Europäischen Menschenrechtskonvention durch den Europarat.

Zweitens, weil es ebenfalls ziemlich genau 50 Jahre her ist, dass erstmals deutsche Abgeordnete in die damals noch "Beratende Versammlung" des Europarates einziehen konnten.

Dies war ein bedeutender Schritt auf dem Weg der Deutschen zurück in die europäische Völkerfamilie.

Und drittens, weil sich gerade in diesen Tagen der Europarat erneut in einer seiner wesentlichen Funktionen zu beweisen hat - nämlich: moralische und politische Instanz für die Einhaltung der Grund- und Menschenrechte in Europa zu sein.

Am vergangenen Sonntag hat sich die Bevölkerung Jugoslawiens für einen demokratischen Wandel entschieden. Dies steht außer Zweifel.

Wir sollten nun alle geschlossen darauf dringen, dass der zum Ausdruck gebrachte Wille des serbischen Volkes akzeptiert wird und es zu keiner Eskalation der Gewalt kommt.

Ein demokratisches Jugoslawien, in dem die Menschenrechte geachtet werden, wird wieder seinen ihm zustehenden, gleichberechtigten Platz in Europa einnehmen.

es ist immer wieder gesagt worden, dass unser Kontinent Europa nicht allein geographisch definiert werden kann."Europa", das war in der Geschichte immer ein politisches Projekt - im Guten wie im Bösen.

Europa wird von seinen Menschen gemacht. Und deshalb zählt es umso mehr, dass unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg, nach Völkermord und entsetzlicher Zerstörung, mutige Menschen sich daran machten, ein neues, freies und gerechtes Europa zu bauen.

Mehr als 1000 Delegierte aus mehr als zwanzig Ländern kamen im Mai 1948 zu diesem Zweck in Den Haag zusammen.

Am Ende stand der Beschluss, in Europa eine wirtschaftliche und politische Union herbeizuführen, die auf eine gemeinsame Charta der Grund- und Menschenrechte gebaut werden sollte.

Dies war der Anfang des Europarats - und eigentlich auch der Anfang der europäischen Integration.

Die Gründer dieser Bewegung waren übrigens keineswegs nur Politiker. Es waren Frauen und Männer, die den Prinzipien der europäischen Aufklärung, den Idealen von der Freiheit und der Würde des Menschen sowie dem Prinzip der Vorherrschaft des Rechts leidenschaftlich verpflichtet waren.

Auch aus Deutschland, dem Land, das so viel Leid und Vernichtung über seine Nachbarn und sich selbst gebracht hatte, hatten sich viele, vor allem junge Menschen dieser "Europarats-Bewegung" angeschlossen.

Und für die junge Bundesrepublik war der 1949 gegründete Europarat die beste Gelegenheit zu beweisen, dass sie es ernst meinte mit Demokratie, Rechtsstaat und Respekt vor den anderen.

Der Europarat war die erste internationale politische Organisation, der die Bundesrepublik Deutschland beitreten konnte.

Mit dieser Möglichkeit wurden aus Gegnern europäische Partner. Weitere Etappen im europäischen Einigungswerk folgten, bis hin zu einer politischen Wirtschafts- , Sozial- und Währungsunion, von der die Gründer des Europarates wohl höchstens geträumt hätten.

Der Europarat bleibt damit Symbol für den geglückten Anfang der heute so selbstverständlich wirkenden Einbettung Deutschlands im zusammenwachsenden Europa.

Und ich will das hier ganz deutlich sagen: Deutschland und die Deutschen sind dem Europarat zu großem Dank verpflichtet.

Meine Damen und Herren,

spätestens seit der Zeitenwende 1989/1990 hat der Europarat eine wirklich pan-europäische Bedeutung erlangt.

In diesem Gremium entsteht in einigen wichtigen Bereichen das neue Gesicht Europas.

Wie in den Jahrzehnten zuvor leistet der Europarat erneut Unterstützung beim Aufbau demokratischer und rechtsstaatlicher Strukturen auf unserem Kontinent.

Seit dem Fall der Berliner Mauer hat Ihre Organisation 16 Reformstaaten aus Mittel- und Osteuropa aufgenommen.

Zwei weitere Kandidaten sollen in Kürze Mitglieder werden.

Die seit 1990 vollzogene Öffnung des Europarates nach Mittel- und Osteuropa kann in ihrer politischen, aber auch in ihrer praktischen Bedeutung nicht hoch genug geschätzt werden.

Sie ist Ausdruck praktizierter Solidarität beim Aufbau eines auf eine gemeinsame Werteordnung gestützten Europas.

Der Europarat verwirklicht Stück für Stück die Vision eines Europas ohne Trennungslinien.

Die Mitgliedschaft im Europarat ist zugleich auch die Einführung in eine Wertegemeinschaft, in deren Mittelpunkt der Schutz von unveräußerlichen Rechten steht.

Europa ist auf diesem Fundament politischer, sozialer und wirtschaftlicher Rechte, kurz: des umfassenden Katalogs der Bürger- und Menschenrechte, gebaut.

Die Überwachung und der Schutz dieser Rechte sind spezifische Beiträge des Europarats bei der Gestaltung unseres Kontinents.

Diese gemeinsamen Werte bilden den verlässlichen Rahmen einer intensiven Zusammenarbeit zwischen allen europäischen Staaten.

Die umfassende Integration der neuen Mitglieder aus Mittel- und Osteuropa im Europarat ist daher ein wichtiger Beitrag beim Zusammenwachsen unseres Kontinents.

Das Gütezeichen des Europarats bleibt eine Voraussetzung, um am europäischen politischen Einigungsprozess im Rahmen der Europäischen Union teilzunehmen.

Der Europarat leistet dabei auch einen wichtigen Beitrag zur Harmonisierung und zur Schaffung eines gemeinsamen Rechtsverständnisses.

Bereits mehr als 170 Konventionen sind verabschiedet.

Dabei wird - von der kulturellen Zusammenarbeit bis zur Biomedizin - eine Vielzahl von gesellschaftlichen Fragen geregelt: stets im Geiste der Durchsetzung der Grundrechte gegen jede Willkür.

Lassen Sie mich feststellen, dass der Europarat in den vergangenen mehr als 50 Jahren die große, wenn auch nicht immer schlagzeilenträchtige Leistung vollbracht hat, einen rechtlichen Rahmen zu schaffen, innerhalb dessen politisch aufgeklärte, tolerante und friedliebende zivile Gesellschaften sich in Europa entwickeln können.

Meine Damen und Herren,

der Schutz der Menschenrechte in Europa ist unser gemeinsames vorrangiges Anliegen.

Die Europäische Menschenrechtskonvention ist hier unser gemeinsamer Wegweiser.

Sie und der aus ihr erwachsene Europäische Gerichtshof für Menschenrechte sind bedeutsame Instrumente zum Schutz der Menschenrechte von inzwischen nahezu 800 Millionen Menschen in den 41 Mitgliedstaaten des Europarates. Die Achtung der Menschenrechte bleibt eine dauerhafte Aufgabe.

Auseinandersetzungen zwischen Staaten, zunehmend aber auch innerstaatliche Konflikte haben uns in den vergangenen zehn Jahren immer wieder in ungeschminkter Klarheit vor Augen geführt, dass das Ende des Kalten Krieges nicht gleichbedeutend war mit dem Ende von Konflikten.

Aus dieser Erkenntnis hat Europa wichtige Schlüsse gezogen.

Es hat sich in den letzten Jahren zusehends besser organisiert. Es hat versucht, gemeinsame Antworten auf die Herausforderungen zu finden und sein Handeln auf eine gemeinsame Plattform zu stellen.

Wir sind allerdings aufgefordert, in drei wesentlichen Punkten unsere gemeinsamen Anstrengungen fortzusetzen.

Erstens: Wir müssen noch intensiver als bislang dem europäischen Rechtsraum Geltung verschaffen und uns dafür einsetzen, dass die europäische Wertegemeinschaft auch in den mit ihr verbundenen Pflichten respektiert wird.

In diesem Bereich nimmt der Europarat eine Vorreiterrolle ein.

Mehr als alle anderen europäischen Organisationen hat er sich in den vergangenen Jahren ein effizientes Instrumentarium geschaffen, das die Überprüfung der Einhaltung mitgliedschaftlicher Verpflichtungen sicherstellt.

So können potentielle Missstände in einem frühen Stadium erkannt und bekämpft werden.

In diesem Zusammenhang kommt dem Monitoringverfahren der Parlamentarischen Versammlung und des Ministerkomitees eine wichtige Rolle zu.

Andere wichtige Instrumente wie der sogenannte Anti-Folter-Ausschuss, die Europäische Kommission gegen Rassismus und Intoleranz und der vergangenes Jahr erstmals ernannte Menschenrechtskommissar des Europarates sind ebenfalls zentrale, vorbeugende Instrumente des Europarates.

Es wäre zweifelsohne nützlich, eine breitere Öffentlichkeit in den Europarat-Ländern über die positive Wirkung dieser Institutionen zu informieren.

Zum Beispiel könnten künftig die Ergebnisse des Monitoringverfahrens des Ministerkomitees veröffentlicht werden.

Zweitens: Ein Europa der Menschen und der Menschenrechte, wie es der Europarat von Beginn an auf seine Fahnen geschrieben hatte, ist unvereinbar mit Rassismus, Antisemitismus und Fremdenfeindlichkeit.

Die Geschichte des vergangenen Jahrhunderts hat gezeigt, dass wir Europäer diesen mörderischen Tendenzen frühzeitig entgegentreten müssen.

Dass Rassismus nicht überwunden ist, dass es Menschen gibt, die aus dieser blutigen Geschichte nicht lernen wollen, das müssen wir auf europäischen - und leider nicht zuletzt auf deutschen - Straßen auch heute noch beobachten.

Die Bundesregierung hat dazu eine unumstößliche Haltung: Eine tolerante Gesellschaft kann und wird Intoleranz und rassistische Gewalt nicht tolerieren.

In der Auseinandersetzung mit dem Rechtsradikalismus setzt Deutschland auf die Verteidigung des Rechtsstaates und seines Gewaltmonopols. Auf den Schutz von Verfolgten und Minderheiten. Auf den Dialog mit allen, die sich ausgegrenzt fühlen und zum Dialog bereit sind.

Und vor allem: Auf die Widerstandsfähigkeit einer demokratischen Zivilgesellschaft.

In diesem Bestreben fühlen wir - nicht nur die Bundesregierung, sondern das demokratische Deutschland insgesamt - uns bestens unterstützt von den Aktivitäten des Europarats.

Das Arbeitsprogramm des Europarats "gegen Rassismus und Intoleranz" ist wirklich nur vorbildlich zu nennen. Ich will auf die Einzelheiten hier nicht eingehen.

Aber das "Best examples" -Programm des Europarats will ich doch hervorheben. Diese Initiative, mit der europaweit nachahmenswerte Aktionen und Aktivitäten von Regierungen, aber auch und vor allem von Mitbürgern veröffentlicht und ausgezeichnet werden, ist meiner Ansicht nach beispielhaft für den Weg, den wir alle zu gehen haben.

Diese "Best examples" zeigen uns: Widerstand gegen Rassismus und Intoleranz ist nicht nur nötig. Sondern auch möglich.

Drittens: Es liegt im Interesse Europas, dass der Europarat künftig mehr als bisher von den Bürgern der Mitgliedstaaten wahrgenommen wird.

Europa darf nicht als Konstrukt von Technokraten und Diplomaten missverstanden werden.

Es sind die Menschen, die dem europäischen Gedanken seine Seele verleihen.

Eine solche Identifikation der Menschen mit der europäischen Idee ist aber nur möglich, wenn dieses große Europa, für das der Europarat steht, die kulturelle Vielfalt und die Identität der Völker achtet, die unter seinem Dach vereinigt sind.

Von ganz zentraler Bedeutung - Sie alle wissen es - ist hierbei die Rolle der Sprache. Daher würde ich es besonders begrüßen, wenn Deutsch - die neben Russisch innerhalb des Europarat- Gebietes am meisten gesprochene Muttersprache - ein größeres Gewicht im Europarat erhielte.

Meine Damen und Herren,

das Aufgabenfeld des Europarates ist auch zu Beginn des 21. Jahrhunderts weit gefächert und anspruchsvoll.

Anlässlich seiner ersten Rede vor der Parlamentarischen Versammlung bemerkte Carlo Schmid am 1. August 1950: Man erwartet von uns die lebendigste Beteiligung an den Bemühungen der demokratischen Europäer, die ein Europa der Freiheit und der Gerechtigkeit zu schaffen im Begriffe sind, in dessen Mitte sich Ungerechtigkeiten und Unstimmigkeiten im Geiste des Friedens und der freiheitlichen Menschenrechte werden lösen lassen ".

Nach der erfolgreichen Einbindung fast aller europäischen Staaten symbolisiert der Europarat bereits heute den Schulterschluss der Völker des europäischen Kontinents.

Er sollte sein ganzes Potential für die bevorstehenden wichtigen Reformen einsetzen und seine eigenständige und komplementäre Rolle im Prozess der weiter gefassten europäischen Integration unterstreichen.

Zur Schaffung einer modernen europäischen Gesellschaft brauchen wir auch die Beiträge des Europarats.

Dem Kampf gegen Korruption und Geldwäsche, gegen Rassismus und Fremdenfeindlichkeit sowie der Förderung von sozialen Rechten kommt gerade in der Epoche der Globalisierung eine ganz zentrale Bedeutung zu.

Hinzu kommen Fragen mit denen sich der Europarat in jüngster Zeit befasst hat: zum Beispiel Bioethik und Internetkriminalität.

Diese Zukunftsthemen muss der Europarat mit Nachdruck aufgreifen. Hier hat er eine entscheidende Rolle bei der Zukunftssicherung des Standortes Europa.

Um die Entwicklung unseres Kontinents in zentralen Bereichen zu begleiten, brauchen wir mehr denn je seinen Sachverstand und sein Engagement.

Meine Damen und Herren,

der Europarat vereint eine große Erfahrung im Bereich der zwischenstaatlichen Kooperation mit seinem Charakter als "Ideenhaber" - wie der große Europäer Robert Schuman den Europarat einmal bezeichnet hat.

Deshalb bleibt er als ein wesentlicher Baustein in der Architektur Europas unerlässlich.

Und deshalb bin ich zuversichtlich, dass der Europarat auch im 21. Jahrhundert seinen unersetzbaren Beitrag zum beharrlichen Aufbauwerk in Europa leisten wird.