Redner(in): k.A.
Datum: 05.05.2010

Untertitel: am 05. Mai 2010 in Ludwigshafen
Anrede: Anrede,
Quelle (evtl. nicht mehr verfügbar): http://www.bundesregierung.de/nn_1498/Content/DE/Rede/2010/05/2010-05-05-herzog-kohl,layoutVariant=Druckansicht.html


Anrede!

Das ist die erste Rede und damit auch die erste Laudatio meines Lebens, die ich mit einem Dichterwort beginne. Friedrich Schiller hat es 1798 ausgesprochen, zwar in Bezug auf Wallenstein, aber es passt auf jeden, der einmal am Rad der Geschichte mitgedreht hat, und Schiller hat es wohl auch so gemeint: Von der Parteien Gunst und Hass verwirrt

schwankt sein Charakterbild in der Geschichte ".

Man kann diese Worte natürlich auch auf Helmut Kohl beziehen, der bei Gott auch am Rad der Geschichte mitgedreht hat. Aber da stockt man dann schon. Man kann die Dinge Stand von heute nämlich auch genau umgekehrt sehen: "Er steht", und was schwankt ist eher die Geschichte, zumindest die Geschichtsschreibung über ihn und die Begleitgesänge der öffentlichen Meinung dazu. Er steht ". Wenn dieser Satz richtig sein soll, dann muss es in seiner Persönlichkeit allerdings Elemente geben, die ihn sein Leben lang bestimmt haben, nach außen sichtbar und nach innen von verpflichtender, steuernder Kraft. Davon muss hier zunächst einmal die Rede sein.

I. Manche von diesen Elementen sind rasch aufgezählt, weil er sich selbst immer wieder auf sie berufen hat: das katholische und dennoch liberale Elternhaus, die Zugehörigkeit zu einer Generation, die den Krieg noch am eigenen Leibe miterlebt hat und daher weiß, was Krieg ist, die Zugehörigkeit aber auch zu einer Generation, die in der Politik viel zu wenige Vorgänger hatte und daher Chance und Last zugleich allzu früh in schwere Verantwortungen gerufen war, und schließlich die Geburt am Rhein, die ihn mehr als andere zum Frieden, zur Aussöhnung mit Frankreich und damit zur Einigung Europas rief.

Eine Konstante, die nur von außen her beurteilt werden kann und über die auch ich nur aus dem engen Sektor meiner persönlichen Erfahrungen sprechen kann, ist sodann die oftmals bezeugte und manchmal bestrittene Verlässlichkeit von Helmut Kohl. Ich habe es, wie ich glaube, schon einmal erzählt: Wenn es in meiner Zeit als Bundesratsbevollmächtigter galt, in den Verhandlungen, die einem Bundesratsplenum vorausgehen, für Rheinland-Pfalz ins Obligo zu gehen, dann war es zwar selbstverständlich, das mit dem MP abzusprechen. Klappte das aber nicht, musste ich also selbst entscheiden, so wusste ich, dass er mein gegebenes Wort niemals zurückholen und mich so desavouieren würde, wie sich das manche meiner Kollegen immer wieder gefallen lassen mussten. Ich habe später noch viele andere Beweise für diese Erfahrung erlebt aber lassen wir dieses eine Beispiel, schon aus Zeitgründen, pars pro toto stehen.

Natürlich habe auch ich in den vergangenen Wochen wieder einmal die Berichte gelesen, nach denen sich der Machtmensch Helmut Kohl um seiner eigenen Macht willen von vielen seiner Getreuen getrennt habe, ja sie fallen gelassen habe. Aber da muss man unterscheiden: Wer selbst grobe Fehler gemacht hat, wer etwa zum Kampf gegen Kanzler und Parteivorsitzenden angetreten ist, der kann sich schwerlich auf Loyalitätspflichten des Angegriffenen berufen, nur weil er unterlegen ist. Der dann noch verbleibenden Fälle ist eine geringe Zahl, und hier steht, wenn ich richtig rechne, Wort gegen Wort. Vieles davon ist schon zwischen den Beteiligten nicht mehr auszumachen; auch sind manche Fronten zu verhärtet. Nur: Einseitige Verdikte von dritter Seite brauchen zumindest wir Unbeteiligten uns nicht anzutun und erst recht nicht gefallen zu lassen.

Die Verlässlichkeit Helmut Kohls hat übrigens eine sehr viel interessantere, weil außenpolitische Dimension. Seine Leistungen für die Wiedervereinigung Deutschlands sind in den letzten Wochen und Monaten so einhellig unterstrichen worden, dass ich dem nichts Neues mehr hinzufügen kann.

Oft ist dann aber das Wort vom "Zeitfenster" gefallen, das nur kurz offen gewesen sei und das Kohl eben entschlossen genutzt habe. Ich will davon nicht den geringsten Abstrich machen, weise aber doch auf das ältere und größere Zeitfenster hin, das Kohl in jahrelangen Bemühungen selbst geöffnet hatte, als noch niemand an Wiedervereinigung zu denken wagte. Schritt für Schritt hat er in der Welt Vertrauen in das demokratische Deutschland, in seine Politik und nicht zuletzt in seine eigene Person geschaffen. Ohne dieses Kapital wären 1989 und 1990 die massiven Bedenken gegen die Wiedervereinigung, die es sogar bei vielen unserer Alliierten gab, nicht zu überwinden gewesen, übrigens auch von Helmut Kohl selbst nicht, wenn sich die große Chance etwa schon 1983 oder 1984 aufgetan hätte. Zwei Zeitfenster waren es also: eines, das ihm gleichsam vor die Füße gespielt wurde, von dem er dann aber beherzt Gebrauch machen konnte, eines aber auch, das er mühsam erst selbst hatte schaffen müssen!

II. Eine andere Konstante, die von außen her zu beurteilen ist, ist die Kraft der Persönlichkeit, die Helmut Kohl zu allen Zeiten ausgestrahlt und eingesetzt hat. Wir wissen es alle: Solche Stärke oder Macht ist mitunter etwas Zwiespältiges, selbst wenn sie vom Innersten eines Menschen ausgeht. Sie kann falsch gebraucht, aber sie kann auch zu positiven Zwecken eingesetzt werden je nachdem spricht man dann von diktatorischem Verhalten oder von Durchsetzungsfähigkeit. Wenn es sich aber um einen Regierenden vom Kaliber Helmut Kohls handelt, scheint nach verbreiteter Ansicht beides gleichzeitig möglich zu sein. Fehlt ihm diese Kraft, dann wird ihm jede Regierungsfähigkeit abgesprochen, besitzt er sie dagegen, so wird er zum Machtmenschen erklärt, und der arglose Beobachter fragt sich, wie es die Herren Präzeptoren denn gerne hätten wahrscheinlich hätten sie nur gern einen anderen Wahlausgang gehabt. Wir lernen daraus nur eines: Unter solchen Umständen ist es nicht sehr sinnvoll, das Thema weiter zu verfolgen.

Zur Stärke der Kohlschen Persönlichkeit haben übrigens stets zwei besonders seltene Varianten gehört: einerseits die Fähigkeit, Rückschläge, Enttäuschungen und selbst Demütigungen zu überwinden, und andererseits eine fast übermenschliche Geduld und Gelassenheit, ein "langer Atem", wie man so sagt. Aber auch das ist bei ihm flugs ins Negative verkehrt worden. Kaum einer von den Deutern unserer Politik hat je daran gedacht, dass Gelassenheit eigentlich eine uralte und wohlbegründete stoische Tugend ist. Das Schlagwort, das eigens für Helmut Kohl erfunden wurde, heißt ganz anders es heißt "aussitzen", und dazu muss ich nun doch einige Worte sagen, weil es dabei um einen zentralen Aspekt dessen geht, was man politisches Entscheiden nennt.

Es ist an sich eine Binsenwahrheit, scheint aber doch wenig bekannt zu sein: Die Richtlinienkompetenz des Art. 65 GG soll nicht irgendwie und am besten nur rhetorisch ausgeübt werden Merkposten: "Machtwort" - , sondern sie soll erstens zu möglichst richtigen Entscheidungen führen und vor allem diese Entscheidungen sollen dann auch durchgesetzt, in die Realität übertragen werden. Und da gibt es eben, um beides zu sichern, bewährte Methoden, nicht nur in der Politik, sondern überall im Leben. Da niemand, wie man so sagt, die Weisheit mit dem Löffel gefressen hat, wird er gut daran tun, eine anstehende Frage zunächst einmal aufzuwerfen oder aufwerfen zu lassen und sie eine Zeit lang öffentlich diskutieren zu lassen. Das ist nicht nur guter demokratischer Brauch, sondern es dient meist auch der Sache selbst. Und außerdem: Würde man es nicht tun, käme sofort der Vorwurf der einsamen Beschlüsse auf; man wäre also auch so nicht vor der öffentlichen Verdammung sicher. Vor allem aber behält der Regierende unter solchen Umständen die Souveränität über die Zeitplanung, die für die Durchsetzung seiner politischen Absichten entscheidend sein kann. Und da geht es nicht nur, wie meist unterstellt wird, um Wahltermine, sondern um vielfache, noch nicht abgeschlossene Entwicklungen, beispielsweise im außenpolitischen, wirtschaftspolitischen, finanzpolitischen Umfeld um die "politische Großwetterlage" also. Im normalen Leben heißt das "Timing" und wird als Kunst betrachtet. Nur in der Politik soll es falsch sein!

Um im Übrigen wissen wir doch, wie es in der Welt so geht: Will man hundert Punkte erreichen, muss man zweihundert fordern, in der Bundespolitik zumal, wo für Verhandlungen mit Verbänden, Bundesländern und Vermittlungsausschuss noch ausreichend Kompromissmasse nötig ist.

Nur glaubt einem dann, wenn alle Kompromisse geschlossen und nur noch hundert Punkte übrig sind, niemand mehr, dass man genau das erreicht hat, was man von Anfang an wollte, sondern es heißt landauf landab, man hätte die Hälfte seiner Ziele verfehlt. Da hält man sich doch lieber von vornherein eine Zeit lang bedeckt und wartet ab. Im Einzelfall mag das ja falsch sein, im Normalfall ist es aber eine sehr effektive Methode des Regierens.

Man sieht jetzt aber auch, worum es in der Debatte um das Aussitzen wirklich geht. Es gibt Leute, die dem Regierungschef einen wichtigen Teil seiner Richtlinienkompetenz aus den Händen winden wollen und dazu öffentlichen Druck durch das Ausstreuen negativer Vokabeln erzeugen.

Eine Regierung, die etwas auf sich hält, kann das nur voller Gelassenheit an sich abprallen lassen. Dann allerdings muss das Ergebnis des Verfahrens für sich und die Regierung sprechen, sonst geht die Sache daneben.

Helmut Kohl weiß das alles seit je und hat es im Regelfall auch virtuos gehandhabt. Auch er behauptet nicht, immer alles richtig gemacht zu haben, und wahrscheinlich gibt er heute sogar zu, dass er sich über den Erfolg mancher taktischen Finessen allzu diebisch gefreut hat - was ihm sogleich wieder den Vorwurf der Selbstgefälligkeit eingetragen hat. Aber besonders gute Betragensnoten hat er wohl schon als Schüler nicht angestrebt.

III. Mit allen diesen Eigenschaften ist ihm, nimmt man nur alles in allem, eine gewaltige Lebensleistung geglückt. Ich will nach den Publikationen der letzten Tage nur 6 Punkte skizzieren.

1. Noch als junger Mann hat er das schwer gebeutelte und rückständige Land Rheinland-Pfalz erneuert und in die Reihe der interessanteren Bundesländer geführt.

2. Auch die CDU, die durch eine lang dauernde Regierungszeit im Bund verschlissen war, hat er, wenn auch nur mit zeitlich limitierter Wirkung, zu einer geschlossenen und entscheidungskräftigen Partei umgeformt.

3. Im Ausland hat er für Deutschland und nicht zuletzt auch für seine eigene Politik ein riesiges Vertrauenskapital geschaffen. Politiker, die vorher mit Deutschland nur irgendwie hatten paktieren wollen, hat er zu Freunden gemacht.

4. In den Jahren zwischen 1983 und 1989 hat seine Regierung den Bundeshaushalt saniert. In den letzten dreißig Jahren war Deutschland der vernünftigen Staatsquote von vierzig Prozent nie näher als in diesen Jahren.

5. Die europäische Integration ist während seiner Regierungszeit entschiedener und weiter voran getrieben worden als jemals vorher und nachher, und es ist ein böswilliges Gerücht, dass ihm das alles im Zusammenhang mit der Wiedervereinigung von anderen abgenötigt worden sei.

6. Und schließlich die Wiedervereinigung selbst. Von den zwei Zeitfenstern, durch die sie möglich wurde, habe ich schon gesprochen.

Gewiss: Das kleinere ist ihm gleichsam von der Geschichte vor die Füße gespült worden. Aber er hat es genutzt, wie es nicht besser genutzt werden konnte. Und vor allem: Er hatte das große Fenster des internationalen Vertrauens in das soviel größer werdende Deutschland geschaffen, ohne das die Wiedervereinigung viel problematischer, vielleicht sogar unmöglich geworden wäre.

Und weil wir gerade bei der Wiedervereinigung sind, will ich ein paar Worte zu den Fehlern sagen, die dabei tatsächlich oder eingebildet gemacht worden sind.

Natürlich sind Fehler gemacht worden, schon weil niemand auf die Entwicklung des Jahres 1989 und ihren rasanten Ablauf wirklich vorbereitet sein konnte. Aber es waren ungleich weniger Fehler, als heute von vielen Kritikern so leichtfertig behauptet wird. Ich verweise nur auf das Buch "Die Bilanz", das der frühere Finanzminister von Sachsen-Anhalt, Professor Karl-Heinz Paqué , im vergangenen Jahr auf den Markt gebracht hat aus eigener Erfahrung und nicht auf Grund schöner theoretischer Träume. Ich lese nur drei Sätze aus seinem Resümee vor: "Nicht das Erreichte ist enttäuschend, sondern die Aufgabe war extrem schwierig … . Vielleicht war dies eine der schwierigsten und teuersten Aufgaben, die das Schicksal jemals zu vergeben hatte, zumal in Zeiten der Globalisierung. Die Deutschen haben diese Aufgabe im Wesentlichen bewältigt." Die Geschichte schwankt also auch hier, hier vielleicht am deutlichsten. Oder soll ich sagen: "Sie schwenkt" ?

Da ist es auch kein Argument, wenn heute auf dieses oder jenes hingewiesen wird, was damals mit den Lehren der Nationalökonomie nicht übereinstimmte. Natürlich muss diese Wissenschaft in der Politik gehört und ernst genommen werden. Aber auch sie kann nicht der einzige Maßstab sein, auch nicht in wirtschaftlichen Fragen, das alleinige Deutungsrecht kann man auch ihr nicht überlassen. Man überlässt die Außen- und Sicherheitspolitik ja auch nicht allein den Generälen, und wenn in Justiz oder Verwaltung etwas aus dem Ruder läuft, ändert man ganz einfach die Gesetze.

Nur ein Fehler von 1989/90 ist wirklich nicht zu verzeihen. Man hat die Bürger der untergehenden DDR nicht deutlich genug vor den Betrügern gewarnt, die sich sofort auf sie stürzten und ihnen zu überhöhten Preisen Massen von alten Ladenhütern andrehten. Dafür war Helmut Kohl freilich am wenigsten zuständig. Nur: Das hat Vertrauen gekostet, das wir noch heute bitter nötig hätten.

IV. Aber zurück zu Helmut Kohl: Den Leistungen und Erfolgen seiner Laufbahn entsprechen bemerkenswerte Parallelen in der Ämterklimax: Landtagsabgeordneter mit 29, Landtags-fraktionsvorsitzender mit 33, Ministerpräsident mit 39 Jahren. Und dann im Bund: mit 43 Jahren Bundesvorsitzender der CDU und schließlich mit 49 Jahren Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland das alles flankiert von hohen Ämtern in der Europäischen Volkspartei.

Freilich: Die Niederlagen und Rückschläge dürfen hier nicht übersehen werden, damit nicht der billige Eindruck des Glückskindes entsteht. Den Bundesvorsitz der CDU hat er erst nach einer veritablen Niederlage erreicht ( "Saarbrücken" ! ) , die Bundestagswahl von 1976, in der er das phänomenale Ergebnis von 48,6 Prozent erreichte, führte trotzdem nicht in das Bundes-kanzleramt, die von 1980, bei der er Franz Josef Strauß Platz machen musste, geriet ebenfalls zu einer Niederlage und die sechs Jahre als Oppositionsführer waren ein so steiniges Brot, wie es das Leben auf der Oppositionsbank nur eben sein kann. Von den menschlichen Bitternissen dieser Jahre will ich nur an die Entführung und Ermordung seines Freundes Hanns-Martin Schleyer erinnern.

Geschenkt worden ist ihm also nichts, und mancher Erfolg, um den ihn andere beneideten, mag für ihn mit Galle vermengt gewesen sein. Aber Erfolge waren es am Ende eben doch, und das Beste, was wir Dir wünschen können, ist, dass Du auf sie heute ohne Enttäuschungen und ohne Groll zurückblicken kannst. Die Genugtuung über sie und der Stolz auf sie steht Dir ohnehin zu.

Im Übrigen zeigt schon ein oberflächlicher Blick in die Publikationen der jüngstvergangenen Tage, dass das mehr und mehr auch wieder die Meinung des deutschen Volkes ist. Der Pulverdampf der letzten Jahre scheint sich zu verziehen und den Blick auf die Leistungen frei zu machen. Es scheint zu sein, wie ich es zu Beginn andeutete: Nicht Helmut Kohl selbst, sondern sein Charakterbild in der Geschichte beginnt zu schwanken auf die positive Seite.

Das scheint sogar für die Spendenaffäre zu gelten, die in den letzten Jahren die Öffentlichkeit so erregt hat und die immer noch am Köcheln gehalten wird. Dass Helmut Kohl in dieser Frage das Parteiengesetz verletzt hat, steht fest und wird auch von ihm nicht bestritten. Wenn ich recht sehe, beginnen unsere Mitbürger aber auch die Dimensionen der Affäre klarer einzuschätzen. Schließlich hat Kohl sich in voller Öffentlichkeit selbst dazu bekannt und außerdem haben auch seine schärfsten Gegner nicht behaupten können, dass er sich persönlich bereichert habe. Zu einer Aussage über den Spender verpflichtet gewesen wäre er allein vor einem staatlichen Gericht und allenfalls vor einem Untersuchungsausschuss, und als er dort weiter schwieg, hätten auch nur diese gegen ihn Zwangsmaßnahmen ergreifen können, nicht aber alle jene, die das gern getan hätten. Das ist nicht geschehen und das kann man nicht auch noch ihm anlasten. Der Verstoß gegen das Parteiengesetz bleibt.

Aber künftige Juristengenerationen, zumindest diese, werden von alldem nur noch wissen, dass Helmut Kohl der Mann war, der zwar den § 25 Absatz 3 Satz 1 und 2 des Parteiengesetzes einmal nicht beachtet hat, der aber den Wiedervereinigungsauftrag des Grundgesetzes erfüllt hat.

Ich würde das alles gar nicht mehr erwähnen, wenn es dabei nicht auch um die allgemeine Frage der Bewertung historischer Persönlichkeiten ginge, eine Frage, mit der wir Deutschen uns immer schwer getan haben. Im Grunde haben wir einen tief eingewurzelten Wunsch nach Heldenverehrung. Sowohl nach positiver als auch nach negativer Heldenverehrung und immer hundertprozentig. Ein großer Maler muss für viele von uns zugleich ein edler Mensch sein, sonst entstehen auch Zweifel an der Qualität seiner Bilder. Und ein großer Sportler darf nach denselben Regeln weder in Ferienzeiten einen über den Durst trinken noch sich gar mit fremden Frauen sehen lassen; tut er es trotzdem, so geht auch sein Ansehen als Sportler dahin.

Bei führenden Politikern treibt man solchen ethischen Rigorismus sogar noch weiter. Sie dürfen eigentlich gar nichts mehr anderes tun als Vorbilder für alles und jedermann sein und sie dürfen dabei nicht einmal nach der Vorbildeigenschaft jener fragen, die von ihnen verlangen, Vorbilder zu sein.

Im Prinzip stimmt das ja alles. Nur das Hundertprozentige, das dabei mit schöner Regelmäßigkeit ins Spiel kommt und das eben so typisch deutsch ist, führt uns bei der Beurteilung anderer immer wieder über die Grenzen der Vernunft und oft auch der Menschlichkeit hinaus.

Helmut Kohl hat, solange ich ihn kenne, diese Gefährlichkeit des hundertprozentigen Anspruchs immer gekannt und hat sich gegenüber den Fehlern anderer daher meist toleranter gezeigt als viele unserer Zeitgenossen. Auch das mag ihm nicht immer ganz geglückt sein. Aber im Prinzip hat er Zeit seines Lebens danach gelebt, und es steht ihm zu, dass auch er danach beurteilt wird.

Gemessen an diesem Maßstab versteht es sich fast von selbst, dass ihm unser Volk in seiner großen Mehrheit mit Dankbarkeit, ja mit Bewunderung begegnet und dass wir alle, die wir hier versammelt sind, uns heute vor ihm verneigen.