Redner(in): Angela Merkel
Datum: 13.05.2010
Untertitel: am 13. Mai in Aachen
Anrede: Sehr geehrter Herr Premierminister, lieber Donald Tusk, liebe polnische Delegation, sehr geehrter Herr Ministerpräsident, lieber Jürgen Rüttgers, Herr Oberbürgermeister, sehr geehrte Trägerinnen und Träger des Karlspreises, sehr geehrtes Karlspreiskomitee, Exzellenzen, meine Damen und Herren,
Quelle (evtl. nicht mehr verfügbar): http://www.bundesregierung.de/nn_1498/Content/DE/Rede/2010/05/2010-05-13-karlspreis,layoutVariant=Druckansicht.html
ich freue mich, dass wir heute zu dieser besonderen Feierstunde in Aachen zusammengekommen sind. Seit nunmehr 60 Jahren zeichnet der Internationale Karlspreis zu Aachen Persönlichkeiten und Institutionen aus, die sich um Europa und die europäische Einigung verdient gemacht haben. Seit 60 Jahren gibt er der europäischen Integration ein Gesicht ganz im Sinne Jean Monnets, des ersten Ehrenbürgers Europas. Dieser stellte mit Blick auf die europäische Einigung einmal fest ich zitiere: "Nichts ist möglich ohne die Menschen, nichts ist dauerhaft ohne Institutionen."
Dieser Satz bringt für mich das Erfolgsrezept Europas auf den Punkt. Es ist das Engagement überzeugter Europäer, wie sie hier auch in Gestalt der Trägerinnen und Träger des Karlspreises versammelt sind, die mit Mut und Leidenschaft die europäische Einigung vorantreiben, und es sind Institutionen wie das Europäische Parlament, die Europäische Kommission oder der Europäische Rat, die diesen Fortschritt dauerhaft machen.
Es ist gut, dass der Aachener Karlspreis seit 60 Jahren die Schrittmacher der europäischen Integration würdigt. Denn ohne sie wäre Europa noch heute eine bloße Idee, nur eine Hoffnung auf dauerhaften Frieden und Verständigung. Mit ihnen aber konnte sich diese Hoffnung erfüllen. Mit ihnen und dank ihnen ist Europa heute geeint, sind wir Bürgerinnen und Bürger der Europäischen Union heute zu unserem Glück vereint, wie es in der Berliner Erklärung heißt, die wir 2007 zum 50. Jubiläum der Unterzeichnung der Römischen Verträge verabschiedet haben.
Europa braucht auch weiterhin mehr als alles andere leidenschaftliche, überzeugte und überzeugende Europäer, die unser gemeinsames Haus mit Leben erfüllen, es ausbauen und erhalten. Donald Tusk ist einer von ihnen. Mit ihm wird vieles von dem sichtbar, was der Kern der europäischen Idee und der europäischen Erfolgsgeschichte ist. Die erste große Antriebskraft ist sein klares Bekenntnis zu Toleranz und Vielfalt. Europa lebt von seiner Vielfalt, der Vielfalt unserer Nationen, Regionen, Sprachen und Mentalitäten. Europa das sind Brüssel und Straßburg, aber eben nicht nur; Europa, das sind alle unsere Dörfer und Gemeinden, alle Städte und Regionen.
Wer Donald Tusk kennt, weiß, dass ihn eine große Leidenschaft prägt, nämlich die Leidenschaft, mit der Stadt Danzig verbunden zu sein. Danzig, dieser Schmelztiegel polnischer, kaschubischer und deutscher Tradition, steht als jahrhundertealte Hafenstadt und Handelsmetropole symbolisch für die regionale Vielfalt in Europa. Die Geschichte Danzigs zeigt: Vielfalt kann zu Spannungen und Konflikten führen. Doch sie zeigt auch: Vielfalt ist ein großer Schatz, der bereichern und begeistern kann, wenn, ja, wenn man wie Donald Tusk bereit ist, sich auf andere einzulassen, die Welt auch einmal mit den Augen des anderen zu sehen.
Lieber Donald, du schreibst in deinem Buch "Einst in Danzig" ich zitiere: "Als Erwachsener begann ich, mich Schritt für Schritt an die Wahrheit über das Schicksal der Familie und der Stadt heranzutasten. Je mehr ich erfuhr, desto weniger verstand ich. Denn dieses Wissen warf mich aus bekannten Bahnen, zerstörte Klischees und Schemata, nach denen das Verständnis der jüngsten Geschichte so simpel und eindeutig war. Das, was ich entdeckte, war schwierig, schmerzhaft und gleichzeitig auch faszinierend."
In der Tat, Europa zu erfahren, ist eine spannende Entdeckungsreise. Es ist eine Reise, auf der aus dem Bewusstsein eigener Traditionen und Wurzeln heraus die Neugier und die Kraft erwachsen, offen zu sein für andere, dazuzulernen und dies als Bereicherung zu erfahren. Es ist die lebendige Vielfalt der Sprachen, Kulturen und Regionen, die uns aufeinander zugehen lässt, die uns bereichert. Diese Vielfalt in Offenheit gilt es zu bewahren. Dann haben Rassismus und Antisemitismus keinen Platz in Europa. Dann bleibt Europa der Kontinent der Toleranz und des Friedens, ein Kontinent mit Zukunft. Dabei gilt es vor allem auf eine Kraft zu bauen und zu vertrauen: auf die Kraft der Freiheit. Sie ist Voraussetzung für unsere Vielfalt. Genau diese Kraft der Freiheit ist die zweite Antriebskraft Donald Tusks. Ich werde deine Rede in Hamburg beim Matthiae-Mahl nicht vergessen.
Das Eintreten für die Freiheit zieht sich wie ein roter Faden durch die polnische Geschichte. Ich erinnere zum Beispiel an das Hambacher Fest 1832, bei dem Polen gemeinsam mit Deutschen und Franzosen für ihre Freiheit einstanden. Ich erinnere an die Danziger Leninwerft, in der in den 70er Jahren des 20. Jahrhunderts, getragen von dem Stolz und dem Selbstbewusstsein der Werftarbeiter, der polnische Freiheitskampf begann, der am Ende ganz Europa erfasste und veränderte. Die Wiedervereinigung Deutschlands und die Einheit Europas sind ohne ihn nicht denkbar. Denn der Weg zur Freiheit und Einheit Europas begann am Danziger Werfttor und führte von dort zum Brandenburger Tor. Es war das polnische Volk, das den Weg der Freiheit für ganz Europa entscheidend bereitet hat.
Donald Tusk war von Anfang an dabei, als Mitbegründer des unabhängigen polnischen Studentenverbandes, als Mitglied der Solidarność und als Redakteur unabhängiger Zeitschriften. Nach der Verhängung des Kriegsrechts im Dezember 1981 wirkte er politisch im Untergrund. So, wie Donald Tusk zeit seines Lebens auf die Kraft der Freiheit vertraut und immer weiter vertraut hat, so müssen wir alle in Europa uns immer bewusst sein: Freiheit ist niemals selbstverständlich. Ob in Europa oder überall auf der Welt Freiheit, Demokratie und Menschenrechte müssen jeden Tag aufs Neue verteidigt und geschützt werden.
Der historische Umbruch Europas vor über 20 Jahren hat dich, lieber Donald, schließlich ganz in die Politik geführt. Hier kannst du deine Ideale leben. Und so hast du auch auf europäischer Ebene deine dritte Antriebskraft aktiviert: die Bereitschaft zu Partnerschaft und Kooperation. Du bist überzeugt davon: Viele Ziele in Europa können wir nicht einzeln, sondern nur gemeinsam erreichen; es gibt Lösungen, die für alle gut sind. Solche Lösungen willst du finden. Das ist genau der Geist, der Europa ausmacht. Ohne ihn gäbe es heute kein geeintes Europa.
Von besonderer Bedeutung war dein Eintreten für den Vertrag von Lissabon. Du hast den Vertrag in Lissabon unterschrieben und dich konsequent für seine Ratifizierung eingesetzt. Dieser alles andere als selbstverständlichen Konsequenz haben wir es zu verdanken, dass die Europäische Union heute auf einer erneuerten vertraglichen Grundlage steht.
Nicht zuletzt auf dieser Grundlage fußt meine feste Überzeugung: Unser Europa wird auch die heutige Krise unserer gemeinsamen Währung bewältigen. Der Euro ist unsere Währung. Und er ist doch mehr als eine Währung. Er ist der bisher weitreichendste Schritt auf dem Weg der europäischen Integration. Der Euro steht für die europäische Idee. Ich bleibe bei meiner Vision, dass eines Tages alle Mitgliedstaaten der Europäischen Union den Euro als Zahlungsmittel haben werden. Die Regierungen haben den Bürgerinnen und Bürgern Stabilität des Euro und Stabilität der Preise versprochen. Dieses Versprechen müssen wir einhalten.
Meine Damen und Herren, reden wir nicht darum herum: Die Krise um die Zukunft des Euro ist nicht irgendeine Krise. Sie ist die größte Bewährungsprobe, die Europa seit 1990, wenn nicht sogar in den 53 Jahren seit Verabschiedung der Römischen Verträge, zu bestehen hat. Diese Bewährungsprobe ist existenziell. Sie muss bestanden werden. Gelingt das nicht, dann sind die Folgen für Europa und darüber hinaus unabsehbar. Gelingt es aber, dann wird Europa stärker sein als zuvor.
Vergessen wir für einen Moment all die Rettungspakete, die wir in diesen Wochen beraten und verabschieden, vergessen wir für einen Moment all die Milliardensummen, die zurzeit die Diskussion beherrschen 20, 40, 100, 400, 700 Milliarden. Vergessen wir Börsenkurse und Ratingagenturen. Vergessen wir für einen Moment die Diskussion um Auslöser und Ursache dieser Krise. Waren es die Griechen, von denen manche sagen, es sei doch immer klar gewesen, dass sie sich nicht an alle Regeln halten würden? Oder waren es die europäischen Institutionen, von denen andere sagen, dass doch nur Naive hätten erwarten können, dass sie tatsächlich genau hinsehen, wenn genau hingesehen werden muss? Vergessen wir für einen Moment die Unterschiede der Temperamente hier südliche Länder, von denen behauptet wird, dass sie die Dinge schon immer etwas lockerer gesehen haben, dort nördliche Länder, von denen es heißt, sie gingen sowieso immer pedantisch an die Sache heran, dann östliche Länder, über die geurteilt wird, dass man überhaupt noch nicht wisse, was sie machen werden, und schließlich noch ganz andere Länder, die sowieso nicht alles mitmachen, was der Kontinent für Europa vorsieht. Vergessen wir für einen Moment auch die immer wieder zu lesenden Bewertungen der nennen wir es unterschiedlichen Charaktere der politischen Akteure: auf der einen Seite der Tatkräftige, der Mutige, der Schnelle, auf der anderen Seite der oder vielleicht die Zögernde, Zaudernde, Abwartende, Stabilitätsbesessene, spät Entscheidende und alle möglichen Varianten dazwischen.
Vergessen wir all das, was sehen wir dann? Wir sehen, dass sich Beamte aus Europa und allen Mitgliedstaaten, Finanzminister, Außenminister, Staats- und Regierungschefs seit Monaten wieder und wieder Tage und Nächte in Marathonsitzungen um die Ohren schlagen. Warum tun sie das? Ja natürlich, um Griechenland zu retten. Aber warum das? Ja natürlich, weil wir eine Währung haben und selbst nicht in den wirtschaftlichen Abwärtstrend kommen wollen. Das ist alles richtig, aber in der allergrößten Not gibt es doch immer noch das Pfund, die D-Mark, den Franc und die Drachme. Warum also Griechenland retten, warum den Euro retten, warum unzählige Tage und Nächte, um nach harten, manchmal zähen Verhandlungen ein gemeinsames Ergebnis zu erzielen? Weil wir spüren: Scheitert der Euro, dann scheitert nicht nur das Geld. Dann scheitert mehr. Dann scheitert Europa, dann scheitert die Idee der europäischen Einigung.
Die Idee der europäischen Einigung ist die bestechendste, großartigste, verheißungsvollste Idee, die Europa je gesehen hat. Diesen Kontinent verbindet mehr als ihn trennt immer noch. Trotzdem müssen wir auf den Befund schauen. Seit der Verabschiedung des Maastricht-Vertrages 1992 wurde Europa größer, doch die innere Verfasstheit hat nicht Schritt gehalten. Anders gesagt: Wir haben eine gemeinsame Währung, aber wir haben keine gemeinsame politische und wirtschaftliche Union. Genau das müssen wir ändern. Das zu schaffen, darin liegt die Chance dieser Krise. Wir müssen diese Krise zum Anlass nehmen, Versäumtes nachzuholen Versäumnisse, die auch durch den Lissabon-Vertrag nicht behoben wurden. Wir müssen das schaffen, weil wir wissen ich zitiere: "Ein unvollendetes Bauwerk kann dem Zahn der Zeit nicht standhalten. Es muss fertiggestellt werden; sonst zerfällt es." So hat es der frühere belgische Ministerpräsident und Karlspreisträger Leo Tindemans 1975 formuliert. Dieser Satz ist aktueller denn je.
Wie also kann das Haus ganz fertig werden? Wie soll unser Europa in zehn oder 20 Jahren aussehen? Zunächst: Mit ein wenig Glück, vor allem aber mit Disziplin und Geschick, wird Europa sich von den Turbulenzen der aktuellen Wirtschaftskrise erholt haben. Das ist das Mindeste. Aber mehr noch: Europa wird die Probleme ehrlicher beim Namen nennen müssen, Europa wird vertragliche Konsequenzen ziehen und sich stärker wirtschafts- und finanzpolitisch verzahnen müssen, als es das heute ist. Europa wird sich stärker um die wirklichen Zukunftsprobleme kümmern müssen. Und jenseits des Ökonomischen wagen wir nach der gemeinsamen Währung vielleicht weitere Schritte, zum Beispiel den hin zu einer gemeinsamen europäischen Armee. Am Ende geht es um unsere Werte und Grundsätze: Demokratie, Wahrung der Menschenrechte, nachhaltiges wirtschaftliches Wachstum, eine stabile Währung, sozialer Frieden. Das 21. Jahrhundert kann Europas Jahrhundert werden.
Eine besondere Rolle in diesem geeinten Europa kommt ohne Zweifel den deutsch-polnischen Beziehungen zu. Polen und Deutschland haben vor 20 Jahren ihre volle Souveränität nahezu gleichzeitig wiedererlangt. Wir sind Nachbarn, die einander brauchen. Diese Wahrheit wurde in der Vergangenheit immer wieder missachtet. Der deutsche Überfall auf Polen, mit dem der Zweite Weltkrieg begann, hat unermessliches Leid über Polen und Europa gebracht. Die Erinnerung an diese Zeit ist in Polen wie in Deutschland lebendig.
Donald Tusk ist überzeugt: Wenn sich solche Schreckenszeiten nicht wiederholen sollen, wenn wir Europäer die Globalisierung nach unseren Wertvorstellungen mitgestalten wollen, dann müssen wir im Bewusstsein unserer Verantwortung vor der Geschichte unser Gewicht in Zukunft gemeinsam in die Waagschale werfen.
Kooperation statt Konfrontation dafür steht Donald Tusk. In diesem Geist gestaltet er Polen als wirtschaftliches, politisches und kulturelles Kraftzentrum in Europa. In diesem Geist hat er mutige Schritte auf die Nachbarn Polens zu gemacht: mit seiner Rede bei der Gedenkfeier am 1. September 2009 auf der Westerplatte in Danzig, an der auch der russische Ministerpräsident Wladimir Putin und ich teilgenommen haben, oder bei der Begegnung von Donald Tusk und Ministerpräsident Putin in Katyn vor fünf Wochen Katyn, dem Ort tragischer Ereignisse in der Vergangenheit und dem Ort der tragischen Ereignisse vor wenigen Wochen. Ich darf Ihnen sagen: Deutschland hat die Trauer Polens geteilt.
An beiden Orten, in Danzig und Katyn, bei beiden Gelegenheiten zeigte Donald Tusk, worauf es aus seiner Sicht viertens ankommt: darauf, den Blick nach vorn, in die Zukunft zu richten, und zwar im Bewusstsein der leidvollen Kapitel unserer Geschichte. Verantwortung vor der Geschichte und Gestaltung einer gemeinsamen Zukunft diese Tugenden eines verantwortungsvollen europäischen Politikers zeichnen meinen Kollegen und Freund Donald Tusk aus. Er baut Vertrauen auf.
So freue ich mich, dass Polen in der zweiten Hälfte des nächsten Jahres zum ersten Mal den Vorsitz im Rat der Europäischen Union innehaben wird. Es gibt große Aufgaben, die die Europäische Union gerade unter polnischem Vorsitz angehen wird. Dazu zählt die Ausgestaltung der Partnerschaft mit den östlichen Nachbarn der Europäischen Union, mit Russland, aber natürlich auch mit den Vereinigten Staaten. Schon heute sage ich dem polnischen Vorsitz jede Unterstützung zu, die gewünscht wird. Ja, mehr noch: Ich glaube, es ist Zeit für Deutschland und Polen, unsere europapolitische Zusammenarbeit noch weiter zu intensivieren. Das können wir auf den Regierungskonsultationen unserer beiden Länder in wenigen Tagen tun. So können wir die deutsch-polnische Zusammenarbeit zu einem wichtigen Stützpfeiler der Europäischen Union ausbauen. Letztlich geht es um nicht mehr und nicht weniger als um die Fortschreibung der einzigartigen Erfolgsgeschichte der europäischen Integration.
Lieber Donald Tusk, dein konsequenter und leidenschaftlicher Einsatz für Europa stiftet Mut und Zuversicht. Heute wird dir der Internationale Karlspreis zu Aachen verliehen. Dazu gratuliere ich dir von Herzen. Dieser Preis soll dir Bestätigung und zugleich auch Ansporn sein, das weiter zu tun, was du seit so vielen Jahren mit Leib und Seele tust: für ein Europa zu arbeiten, das dem Wohl der Menschen dient, das der Freiheit dient.
Nochmals meinen herzlichen Glückwunsch.