Redner(in): Michael Naumann
Datum: 04.03.1999

Anrede: Anrede,
Quelle (evtl. nicht mehr verfügbar): http://archiv.bundesregierung.de/bpaexport/rede/31/11831/multi.htm


Interview der Wochenzeitung "Das Parlament" mit Dr. Michael Naumann, Staatsminister beim Bundeskanzler, Beauftragter der Bundesregierung für Angelegenheiten der Kultur und der Medien

Frage: Herr Staatsminister Naumann, die neue Bundesregierung hat durch die Schaffung Ihres Amtes beim Bundeskanzler ein Zeichen in Richtung Aufwertung der Kultur gesetzt. Welches sind die inhaltlichen Akzente Ihrer Arbeit und in welchen Bereichen werden Änderungen gegenüber der vorigen Regierung angestrebt?

Naumann: Gerade jetzt, da Europa politisch, sozial und ökonomisch immer mehr zusammenwächst, ist es notwendig, ein besonderes Gewicht auf die je eigenen Kulturen zu legen und die kulturellen Dimensionen des Einigungsprozesses zu stärken. Europa besteht aus Ländern und Regionen mit eigener kultureller Identität. Es ist eine wichtige Aufgabe, die kulturelle Vielfalt gegenüber einer erfolgreichen Wirtschafts- und Währungsunion, gegenüber der gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik nicht nur zu behaupten, sondern auch tatkräftig zu fördern. Das Europa der Zukunft wird nicht als reine Interessensunion bestehen können. Das ist einer der Gründe dafür, warum die neue Bundesregierung der Kultur sowohl auf internationaler Ebene als auch in der Bundespolitik einen ganz neuen Stellenwert einräumen wird. Sie setzt dabei auf den offenen Dialog zwischen Politik und Kultur. Daß der neue Bundestag einen Kulturausschuß eingerichtet hat, unterstützt diese Bemühungen und drückt außerdem die neuen kulturpolitischen Aufgaben aus, vor denen wir stehen. Da geht es auch um die Bewahrung regionaler Eigenheiten gegenüber Zentralisierungstendenzen. Und es geht um die je eigenen Geschichten, also um historische Identität.

Lassen Sie mich einige Schwerpunktthemen nennen, die die Kulturpolitik in der nächsten Zeit bestimmen werden: Da alle Kulturpolitik direkt oder indirekt vom Erinnern handelt, werde ich im Einvernehmen mit den Ländern eine neue Gedenkstättenarbeit in Deutschland anregen. Im Mittelpunkt sollen dabei bedeutsame Einrichtungen stehen, die im öffentlichen Bewußtsein als exemplarisch für einen bestimmten Verfolgungskomplex angesehen werden. Die von der alten Bundesregierung geförderten Gedenkstätten lagen ausschließlich in den neuen Bundesländern. Wir werden prüfen, ob sich der Bund nicht auch an der Pflege von Gedenkstätten in den alten Ländern beteiligen sollte.

Ein weiterer Schwerpunkt meiner Arbeit wird in der kulturellen Förderung der Hauptstadt Berlin liegen. Ich hoffe sehr, daß das Parlament den Plänen der Bundesregierung, die Hauptstadt-Kulturförderung in diesem Jahr um 60 auf 120 Millionen zu verdoppeln, zustimmen wird. Auch die Förderung neuer kultureller Einrichtungen und Projekte in den neuen Ländern bildet einen wichtigen Schwerpunkt unserer Kulturpolitik. Hierfür sind im Regierungsentwurf des Haushalts 1999 zusätzlich 120 Millionen DM vorgesehen.

Darüber hinaus will die Koalition das Stiftungsrecht novellieren und im Rahmen der Steuerreform neue Möglichkeiten für Mäzene, Stifter und Kultursponsoren eröffnen und steuerrechtlich attraktiv machen; die erforderlichen Novellierungen im Bereich des Medien- und des Urheberrechts vorlegen. Ziel dabei bleibt - ganz im Sinne der grundgesetzlich garantierten Kunst- , Informations- und Meinungsfreiheit - die Stärkung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks sowie eine Reform der medialen Außenrepräsentanz; im Rahmen der deutschen EU-Präsidentschaft eine Initiative zur Erhaltung der Buchpreisbindung auf europäischer Ebene starten. Ich halte die Qualität des deutschen Buch- und Verlagsgewerbes für einmalig in der Welt und möchte sie vor den Anfechtungen einer entfesselten Marktwirtschaft geschützt wissen. Das gilt auch für die Autorinnen und Autoren. Aus diesem Grund verteidigt die neue Bundesregierung den gebundenen Ladenpreis. Schließlich bilden die Stärkung des deutschen Films, die Verbesserung der Künstlersozialversicherung sowie die Intensivierung der Pflege des kulturellen Erbes ( insbesondere Denkmalschutz, Museen, Kulturen der Minderheiten ) weitere wichtige Schwerpunkte unserer Kulturpolitik.

Sie sehen, es handelt sich um eine Fülle von Aufgaben. Insgesamt geht es mir darum, die Ausgabenpolitik der Bundesrepublik für die Kultur transparenter zu machen, sie zu koordinieren und der parlamentarischen Kontrolle zu öffnen.

Frage: Im vergangenen Jahr ist kontrovers über den Sinn und Zweck der Schaffung eines Bundeskulturministeriums diskutiert worden. Deutet Ihre komplizierte Amtsbezeichnung "Staatsminister beim Bundeskanzler, Beauftragter der Bundesregierung für Angelegenheiten der Kultur und der Medien" an, daß Sie lediglich auf einem schmalen Feld zwischen dem Auswärtigen Amt und den Bundesländern agieren können? Gibt es organisatorische Veränderungen auf dem Sektor der Kulturpolitik?

Naumann: Im Amt des neuen Staatsministers für Kultur und Medien werden die kulturpolitischen Zuständigkeiten und Kompetenzen des Bundes gebündelt. Er ist Ansprechpartner und Impulsgeber für die Kulturpolitik des Bundes; er ist Interessenvertreter für die deutsche Kultur auf internationaler, besonders auf europäischer Ebene. Selbstverständlich berücksichtigt das neue Amt die Kulturhoheit der Länder; die Bündelung der kulturpolitischen Zuständigkeiten und Kompetenzen steht aber keineswegs in einem Konkurrenzverhältnis zur Kulturhoheit der Länder und Kommunen. Im Gegenteil: Wo es möglich ist, soll sie gestärkt werden. Gerade wenn man bedenkt, daß es in der deutschen Geschichte die unheilvolle Verbindung von machtbessenem politischen Zentralismus mit den Herrschaftsträumen von Diktatoren gegeben hat, kann man die Vorzüge unseres föderalen Systems nicht genug betonen.

Eine weitere, nicht nur organisatorische Neuerung ist die bereits erwähnte Einrichtung eines Ausschusses für Kultur und Medien im Deutschen Bundestag. Angesichts der Bedeutung der Kultur und der Medien für unsere Gesellschaft ist ein derartiger Ausschuß in besonderer Weise geeignet, kulturrelevante Themen und Anliegen auf parlamentarischer Ebene zu begleiten oder zu formulieren.

Frage: Können und werden Sie Einfluß auf die Gestaltung der auswärtigen Kulturpolitik nehmen und wie wird die Abstimmung der Kulturpolitik zwischen Bund und Ländern erfolgen?

Naumann: Die Auswärtige Kulturpolitik ist weiterhin Aufgabe des Auswärtigen Amts; doch besteht Einigkeit zwischen dem Außenminister und mir, daß wir uns in allen wichtigen Fragen, die die Kultur betreffen, vertrauensvoll abstimmen. Bei der Abstimmung zwischen Bund und Ländern wird selbstverständlich die Kultusministerkonferenz unter Beachtung der jeweiligen Zuständigkeiten einbezogen werden.

Frage: Was kann die Kultur zum Zusammenwachsen zwischen Ost und West leisten? Werden neue Initiativen angestrebt?

Naumann: Ost und West ( -Deutschland ) sind kulturell in jeder Hinsicht gleichrangig. Die Kulturlandschaft zwischen Weimar und Dresden, zwischen Quedlinburg, Potsdam und Schwerin steht der in West- und Süddeutschland in nichts nach. Für die Bürgerinnen und Bürger in den neuen Ländern - die aber gerade kulturell auf sehr alten Traditionen fußen - ist das zunächst ein Grund, selbstsicher und optimistisch in die Zukunft zu schauen: Der Osten hat keineswegs nur eine schwierige Wirtschaftslage in die Einheit mitgebracht, sondern - neben der Schaffenskraft und Kreativität seiner Bürgerinnen und Bürger - unermeßliche Kunstschätze - und übrigens auch wunderschöne Naturlandschaften!

Für "Westler" ist nach den langen Jahren der Trennung die Kultur im Osten ein in vieler Hinsicht noch unentdeckter Schatz. Erstmals seit Kriegsende ist es für sie ja wieder möglich, die Geburtsstätten zum Beispiel der Reformation, der Barockmusik oder auch der modernen Architektur in Mitteldeutschland persönlich unbefangen zu erleben.

West- und Ostdeutsche werden sich überhaupt erst durch Kultur und Geschichte darüber bewußt, was es heute in Europa heißt, Deutscher zu sein. Ein solches "einigendes Band" brauchen wir nach der desaströsen Vergangenheit mehr als andere. Es kann ja nicht sein, daß wir lediglich durch die Deutsche Mark unsere Identität erhalten haben, die deshalb mit dem Euro gleichsam verschwindet. Kultur gibt Maßstäbe für Freiheit, Menschenwürde und Toleranz, unabhängig auch von der ökonomischen Tagesform.

Damit bin ich bei Ihrer Frage nach den "neuen Initiativen". Es ist ja leider auch heute noch deutlich sichtbar, daß die konkreten Bedingungen für kulturelle Arbeit im Osten sehr viel schwieriger als im Westen sind. Denken Sie nur an die weithin verschlissenen Gebäude klassischer Theater und Museen. In diesem ganzen Jahrhundert ist doch in den neuen Ländern die kulturelle Bausubstanz nicht durchgreifend erneuert worden. Hier haben wir eine große Verantwortung. Ich hoffe, das Parlament bestätigt uns in dieser Absicht.

Wir werden mit dem zusätzlich bereitgestellten Geld, wenn die Länder und Städte mitziehen, zugunsten der Kultur einen Wendepunkt erreichen. Kultur wird nicht länger "kaputt gespart", sondern nimmt an Bedeutung zu. Wichtiges kann vor dem Verfall gerettet werden, neue Akzente sind möglich, die Attraktivität der Regionen wird gestärkt.

Frage: Welche Rolle kommt der Kulturstadt Weimar zu?

Naumann: Diese erste europäische Kulturstadt kann in den neuen Bundesländern eine Brücke schlagen zwischen kulturellem Erbe und politischen Aufgaben und Fragestellungen, die sich aus unserer Geschichte ergeben. Für Thüringen und für die neuen Länder insgesamt bietet sich mit Weimar als Kulturstadt die große Chance, ihr Land, ihren seit der Einigung erzielten Fortschritt und vor allem ihren kulturellen Reichtum zu präsentieren.

Frage: Welche Bedeutung haben kulturpolitische Initiativen auf europäischer Ebene? Wird man die kulturpolitische Kompetenz Europas stärken müssen, um so etwas wie eine "europäische Identität" zu befördern?

Naumann: Kulturpolitische Initiativen auf europäischer Ebene halte ich für ein sehr wichtiges Gestaltungsinstrument europäischer Politik. Darüber hinaus sind europaweite kulturpolitische Initiativen - etwa von Vereinigungen, Interessenverbänden oder von Künstlerinnen und Künstlern und Kulturschaffenden selbst - unterstützenswerte Aktivitäten, die die Vielgestaltigkeit der europäischen Kulturen zum Ausdruck bringen können und helfen, miteinander in Kontakt zu kommen.

Unter den Politikbereichen der Europäischen Union bildet die Kultur einen relativ jungen, wenn auch aufstrebenden und dynamischen Zweig. Nachdem die wirtschaftliche Integration große Fortschritte gemacht hat und mit der Einführung der europäischen Währung eine neue Stufe erreicht ist, stellt sich immer drängender die Frage, wie die europäische Integration weiter verwirklicht werden kann. Hier spielt die Kultur eine ganz entscheidende Rolle. Wir wollen nicht vergessen, daß es sich bei der Europäischen Union nicht nur um einen Wirtschaftsraum handelt, sondern daß wir es hier mit einem einmaligen, faszinierenden und vielgestaltigen Kulturraum zu tun haben.

Unsere europäische Identität hat ihre Wurzeln in dieser Vielgestaltigkeit der nationalen und regionalen Kulturen. Wir können sie fördern durch eine bessere wechselseitige Kenntnis der Geschichte, der Traditionen und Gewohnheiten unserer europäischen Nachbarn. Indem wir die anderen wahrnehmen und verstehen, lernen wir sehr viel mehr über unsere eigene Identität, als wenn wir nur uns selbst bespiegeln. Unser Selbstverständnis als Deutsche kann - vor allem auch vor dem Hintergrund unserer Geschichte - sicher nicht ganz durch eine europäische Identität ersetzt werden. Doch wird, je mehr Europa zusammenwächst, auch das Bewußtsein einer Einheit in Vielfalt wachsen.

Frage: Welche Bedeutung messen Sie der Auseinandersetzung zwischen Herrn Walser und Herrn Bubis bei? Inwiefern wird sie die Debatte um das Berliner Holocaust-Mahnmal beeinflussen?

Naumann: Über Martin Walsers Rede in der Paulskirche sind eigentlich genug Worte gewechselt worden; sie ist nur eine Stimme in einer seit vielen Jahren stattfindenden Debatte über den Holocaust. Diese Debatte wird mit unterschiedlichen Akzenten und Fragestellungen geführt und zeigt recht deutlich, daß sich dieses Land nach dem Krieg zu einer demokratischen Gesellschaft entwickelt hat, die sich in einer moralisch-ethischen Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte selbst verständigt. Daß die Formen der öffentlichen Diskussionen für viele bisweilen unerträglich scheinen, gehört wohl gerade zu den Risiken dieses Selbstverständigungsprozesses. Walser, der von sich selber sprach, dachte wahrscheinlich, er spräche für Deutschland, und dieser Eindruck wurde dadurch verstärkt, daß er seine Rede an einem für die deutsche Demokratiegeschichte so symbolhaften Ort wie der Paulskirche hielt. Die teilweise sehr heftigen Reaktionen auf Walsers Rede erklären sich zum großen Teil aus diesem Widerspruch. Was die Diskussion um die Rede gezeigt hat - und was auch die seit über zehn Jahren geführte Auseinandersetzung um ein Holocaust-Denkmal in Berlin deutlich macht, ist die historische Einmaligkeit dieser Form der Selbstverständigung in unserem Land, in einer zivilen Gesellschaft, über die Quellen unserer Geschichte.

Frage: Welche Bedeutung kommt Ihrer Meinung nach Mahnmalen im Unterschied zu historischen Museen zu? Und wie beurteilen Sie die oft beklagte "Inflation" von Mahnmalen?

Naumann: Robert Musil sagte einmal, Denkmäler seien dazu da, unsichtbar zu werden. Ein Denkmal birgt außerdem die Gefahr in sich, als "Schlußstrich" unter ein abgeschlossenes Kapitel der Geschichte verstanden zu werden. Es verkörpert ein quasi ritualisiertes Gedenken, das sich auf bestimmte historische Momente verengt und so statisch wird. Je mehr Mahnmale errichtet werden, desto mehr verstärkt sich dieser Eindruck. Im Gegensatz dazu erhalten historische Museen Geschichte in ihren Zusammenhängen lebendig und können zu einer mehr aktiven Erinnerung anregen."Inflation" kenne ich allerdings nur bei Preisen.

Frage: Welche Initiativen sind im Hinblick auf die Verbesserung des Stiftungsrechts zu erwarten?

Naumann: Die Koalition hat, wie bereits erwähnt, die Absicht, das Stiftungsrecht zu novellieren und im Rahmen der Steuerreform neue Möglichkeiten für Mäzene, Stifter und Kultursponsoren zu eröffnen und steuerrechtlich attraktiver zu gestalten. Natürlich sollen von den Verbesserungen auch die Stiftungen in anderen Bereichen - ich denke zum Beispiel an Umweltschutz, Jugend, Altenhilfe, Wissenschaft und Forschung - profitieren. Ungeachtet der beachtlichen finanziellen Leistungsfähigkeit und Ersparnisse bleibt die Stiftungsfreudigkeit der Deutschen bislang weit hinter dem Engagement in vergleichbaren Ländern insbesondere im angloamerikanischen Raum zurück. Dabei bieten Stiftungen engagierten Bürgern, die es in unserem Land genauso wie in den anderen Staaten gibt, die Möglichkeit, einen dauerhaften Beitrag zum Wohl der Allgemeinheit zu leisten. Nicht zuletzt wegen des unzureichenden Regelungsrahmens des deutschen Stiftungs- und Steuerrechts werden die Chancen indes nicht ausreichend genutzt. So besteht teilweise eine Rechtsunsicherheit über die Gründungserfordernissse einer rechtsfähigen Stiftung, außerdem mangelt es an steuerlichen Anreizen für Stifter. Durch eine Reform der entsprechenden Vorschriften im Bürgerlichen Gesetzbuch kann zum Beispiel das aus dem 19. Jahrhundert stammende staatliche Genehmigungsverfahren durch ein Eintragungsverfahren in das Stiftungsregister - entsprechend dem bei den Amtsgerichten geführten Vereinsregister - ersetzt werden.

Bisher sind die Voraussetzungen für die Errichtung einer Stiftung in den unterschiedlichen Bestimmungen der Stiftungsgesetze der Länder geregelt. Aber auch steuerrechtlich müssen wir einiges ändern, um die Bereitschaft zu erhöhen, Stiftungen zu gründen und in Stiftungen zu investieren. Nach meiner Einschätzung läßt sich dies insbesondere dadurch erreichen, daß die Möglichkeiten zur Rücklagenbildung und zur Abzugsfähigkeit von Spenden erweitert werden. Außerdem sollte die Befreiung von der Erbschaftssteuer bei der Weiterleitung des ererbten Vermögens an eine Stiftung auf alle gemeinnützigen Zwecke ausgedehnt werden.

Frage: Wie stehen Sie zu dem Vorschlag von Finanzminister Lafontaine hinsichtlich der Besteuerung der Bücherlagerbestände von Verlagen?

Naumann: Der Ausschluß der Teilwertabschreibung, beispielsweise bei der steuerlichen Bewertung der Lagerbestände von Verlagen, gehört zu den Vorschriften, mit denen das Steuerentlastungsgesetz die Bemessungsgrundlage für die Besteuerung verbreitert. Im Klartext: Die Verlage müßten für die Bücher am Lager erheblich mehr Steuern zahlen als bisher. Die Verlage würden die Lager aus Kostengründen reduzieren. Die Folge wäre, daß die Buchhandlungen nicht mehr wie bisher fast jedes Buch - auch solche, die schon ein paar Jahre alt sind - innerhalb weniger Stunden beschaffen könnten. Der deutsche Buchmarkt würde massiv an Substanz verlieren. Ich halte das nicht für den richtigen Weg. Die höheren Steuern schaden unserer Buchkultur. Ich habe mich deshalb - auch im Gespräch mit Bundesfinanzminister Oskar Lafontaine - dafür eingesetzt, daß die geltenden steuerlichen Vorschriften zugunsten des Buches bestehen bleiben. Ich bin zuversichtlich, daß die Bundesregierung und die Koalitionsfraktionen letztlich eine Entscheidung für das Buch treffen werden.

Frage: Welche kulturpolitische Rolle messen Sie der Hauptstadt Berlin zu, und welche Akzentsetzungen sind von Seiten des Bundes zu erwarten?

Naumann: Für die Kulturpolitik unserer Regierung sind die Hoffnungen auf ein Hauptstadtleben, das unser kulturelles Selbstverständnis in seiner ganzen Vielfalt zu repräsentieren vermag, beträchtlich. Bereits heute ist Berlin mit seinen Museen, seinen Theatern, Galerien, Opern, Orchestern, freien Bühnen und einer äußerst kreativen Off-Szene eine kulturelle Drehscheibe. Berlin war außerdem immer eine Stadt gleichsam transitorischer Kultur, in der sich Künstler und Künstlerinnen aus West- und Osteuropa trafen. Hier stellt sich Deutschland dem Ausland vor - und umgekehrt.

Die große Bedeutung, die ich der Kultur in Berlin beimesse, können Sie schon daran erkennen, daß die Hauptstadt-Kulturförderung - ich erwähnte es schon - beträchtlich aufgestockt wird. Ich hoffe, der Deutsche Bundestag wird dem zustimmen. Mit Nachdruck werde ich mich für die Neuorganisation der Kulturförderung Berlins einsetzen. Da die bisherige Kulturförderung aus dem Hauptstadtfinanzierungsvertrag Ende 1999 ausläuft, bietet sich die Chance, die Förderstrukturen neu zu gestalten, um damit die finanziellen Mittel effektiver einsetzen zu können. Dabei wird es das Ziel der Verhandlungen mit dem Bundesland Berlin sein, ein weniger aufwendiges Förderverfahren zu entwickeln, das sowohl eine anteilige Mitfinanzierung herausragender Kultureinrichtungen als auch eine flexible Förderung einzelner Projekte beinhaltet.

Ein neues Nationaltheater braucht Berlin gewiß nicht. Die Stadt verfügt bereits jetzt über ein breit gefächertes Angebot an Kultureinrichtungen mit herausragenden Veranstaltungen von hoher Professionalität, die zum Teil auch internationales Ansehen genießen. Doch besteht hinsichtlich der neuen Rolle Berlins als Bundeshauptstadt ein gewisser Nachholbedarf auf kulturellem Gebiet, der aber weniger durch mehr Geld als durch kreative Kulturpolitik gestillt werden kann.