Redner(in): Gerhard Schröder
Datum: 03.10.2000

Anrede: Anrede,
Quelle (evtl. nicht mehr verfügbar): http://archiv.bundesregierung.de/bpaexport/rede/76/20676/multi.htm


Ich will Sie alle sehr herzlich hier willkommen heißen und zunächst ein paar Bemerkungen machen. Insbesondere eine Bemerkung - wenn mir das gestattet ist - zu einer wirklich großen Rede, zu Deiner, lieber Jaques Chirac:

Ich glaube, alle, die Dir zugehört haben, haben Deine tiefe Sympathie und Deine Verbundenheit mit Deutschland und den Deutschen gespürt. Und was Du alles so über Dresden und seine kulturhistorische und aktuelle Bedeutung wusstest, das hat manchen von uns - angenehm natürlich aber doch auch - erstaunt. Eine so profunde Kenntnis der Kulturgeschichte Dresdens, das war eine wunderbare Überraschung, die Du uns allen gemacht hast.

Ich danke aber auch allen anderen, die heute hier hergekommen sind. Und ich denke, die Feier heute Morgen hat klar gemacht, wie sehr sich die Deutschen freuen über die wiedergewonnene Einheit, auch wenn das noch nicht so zum Ausdruck gekommen ist, wie wir - und der Herr Bundespräsident hat ja darauf hingewiesen - das von den Feierlichkeiten in Frankreich zum Beispiel gewöhnt sind.

Meine sehr verehrten Damen und Herren, die Völker, die Sie vertreten, die haben uns geholfen, diese Einheit wieder zu erlangen. Sie haben einen Prozess in Gang gesetzt, der nur wenige Monate später zur staatlichen Einheit führte.

Dass dieser Prozess nur möglich war, weil die Menschen in der früheren DDR sich ein Herz gefasst haben, ich denke, das ist als Respekt und als Verbeugung vor den Menschen heute deutlich geworden.

Aber ich möchte auch an ein Weiteres erinnern. Daran nämlich, dass die deutsche Einheit nur möglich wurde, weil die Völker Mittel- und Osteuropas gegen Unfreiheit und Diktatur aufbegehrt haben. Menschen, die sich in der Charta 77 zusammengeschlossen hatten. Aber auch diejenigen, die die polnische Solidarität gegründet und ausgemacht haben. Sie alle haben uns, den Deutschen, ein Beispiel für die Kraft gegeben, die man entwickeln kann, wenn es um Freiheitskampf geht.

Ich denke, dass es deshalb angemessen ist, heute, zehn Jahre später, auch an Jugoslawien zu denken und deutlich zu machen, dass sich das serbische Volk völlig unmissverständlich für den demokratischen Wandel entschieden hat. Vojislav Kostunica hat die Wahlen am 24. September gewonnen. Daran gibt es keinen Zweifel. Ich denke, es kommt darauf an, dass dieser Erfolg - der auch ein Erfolg der Demokratie ist - auf friedlichem Wege realisiert wird. Hierzu zähle ich auf die Menschen, die friedlich in Serbien für ihr Recht, das sie erkämpft haben, demonstrieren. Hierzu zähle ich auch auf die Solidarität aller in Europa, ob Mitglied der Union aktuell oder sehr bald, die an diesem Freiheitskampf interessiert sind.

Ich zähle aber auch auf Wladimir Putin, mit dem ich über diese Fragen in den letzten Tagen mehrfach gesprochen habe, und von dem ich weiß, dass er um Russlands Verantwortung für diesen Prozess sehr wohl weiß.

Die Mauer - darauf ist hingewiesen worden - haben die Menschen zum Einsturz gebracht. Aber wir haben auch Grund, den Völkern, die unsere Nachbarn sind, dankbar zu sein. Wir erinnern uns dankbar der bahnbrechenden Entscheidung der damaligen ungarischen Regierung zur Grenzöffnung. Das war wirklich das Ende des Eisernen Vorhangs nach mehr als 40 Jahren Trennung.

Deswegen ist die Verpflichtung, die wir aus der deutschen Einheit zu ziehen haben, die, für die Einheit Europas unmissverständlich und mit allen unseren Möglichkeiten einzutreten. Auch das ist in der Rede sowohl des Bundespräsidenten als auch des französischen Staatspräsidenten deutlich geworden.

Wer könnte als Deutscher die tatkräftige Unterstützung der Flüchtlinge durch die Reformstaaten vergessen? Und wer hat nicht mit den Menschen in den Zügen, die in die Freiheit fuhren, gezittert, um die Frage, ob sie ihre Ziele würden erreichen können? Wir Deutschen haben in jenen Momenten von unseren Nachbarn, von Ihnen, die Sie die Völker dieser Nachbarn vertreten, in einzigartiger Weise Sympathie und Unterstützung erfahren. Das ist der wirkliche Auftrag, jedenfalls empfinde ich das so aus der geglückten Einheit: Deutschland hat sich um die Reformen in den mittel- und osteuropäischen Staaten zu kümmern und sie in besonderer Weise zu unterstützen.

Es ist darauf hingewiesen worden, ohne unsere Freunde im transatlantischen Bündnis, wäre die deutsche Einheit auch nicht gelungen. Und ich will hier sehr deutlich die Rolle der Vereinigten Staaten hervorheben, ohne die - glaube ich - die weltpolitische Konstellation nicht hätte eintreten können, die uns schließlich zur Einheit gebracht hat. Aber auch ohne die Partnerschaft und das Vertrauen der Völker und der weitblickenden Führung der damaligen Sowjetunion und anschließend Russlands hätten wir es niemals schaffen können.

Bitte nehmen Sie es mir so ernsthaft ab, wie ich es hier sage: Ich bitte Sie, dafür den Dank der Deutschen zu übermitteln und in ihren Ländern deutlich zu machen, dass wir um unsere daraus resultierende Verpflichtung sehr wohl wissen.

Meine sehr verehrten Damen und Herren,

vor diesem Hintergrund sehe ich zwei wesentliche Verpflichtungen, die wir haben. Und ich verspreche Ihnen im Namen der deutschen Regierung, dass wir unbeirrt dafür eintreten werden:

Die Eine betrifft Deutschland und die Deutschen und sie heißt: Wir haben die Aufgabe, in unserem Land für wirtschaftliches Wohlergehen zu sorgen, weil - Göran Persson hat mir das gelegentlich gesagt - an der wirtschaftlichen Kraft Deutschlands nicht nur das Wohlergehen unserer Menschen hängt. Die wirtschaftliche Kraft, die wir entwickeln, hilft auch Europa und den Europäern. Deshalb: Für eine starke Wirtschaft einzutreten ist auch eine Verpflichtung, die wir unseren Partnern in Europa gegenüber haben.

Zweitens: Ich sehe die Verpflichtung, das europäische Sozialmodell, das allen Menschen Teilhabe ermöglichen soll an den wirtschaftlichen Werten, aber auch an den Entscheidungen in Deutschland, maßgeblich zu verankern - mit unseren Partnern zusammen. Aber Deutschland hat dort eine wesentliche Rolle.

Und Drittens: Ich denke, was heute angeklungen ist, ist der feste Wille der deutschen Politik und der Deutschen insgesamt zur Demokratie, die wir nach dem zweiten Weltkrieg aufgebaut haben. Dieser feste Wille sollte von Ihnen wirklich ernst genommen werden. Und das heißt vor allem, dass wir nie wieder in unserem Land Rechtsradikalismus und Gewalt eine Chance geben werden. Es ist die feste Überzeugung nicht nur der deutschen Politik, sondern der deutschen Gesellschaft insgesamt, dass derartige Machenschaften in Deutschland und bei den Deutschen nie wieder eine Chance erhalten.

Zum Schluss: Die Verpflichtung - ich sagte es - aus der Einheit heißt, für Europas Einheit zu kämpfen. Und dieser Kampf bedeutet, dass die Deutschen in besonderer Weise aufgerufen sind, sich für die Erweiterung stark zu machen. Und dies so schnell es uns möglich ist. Das ist der Grund, lieber Jaques Chirac, warum wir gemeinsam auf dem Gipfel in Nizza dafür sorgen werden, dass durch unsere gemeinsamen Anstrengungen jene institutionellen Reformen realisiert werden können, die die Basis für eine erfolgreiche Erweiterung sind. Das verstehe ich als unsere gemeinsame Verantwortung. Das verstehe ich als Konsequenz aus der Einheit, als unsere Verpflichtung.

Noch einmal herzlichen Dank dafür, dass Sie hier hergekommen sind. Und ich hoffe, Sie nehmen gute Eindrücke mit nach Hause, gute Eindrücke von zehn Jahren gelungener Einheit. Vielen Dank. Quelle: Phoenix, BPA-Mitschrift )