Redner(in): Gerhard Schröder
Datum: 07.10.2000

Anrede: Sehr geehrter Herr Professor Engelhardt, meine sehr verehrten Damen und Herren!
Quelle (evtl. nicht mehr verfügbar): http://archiv.bundesregierung.de/bpaexport/rede/79/21079/multi.htm


Wenn der Deutsche Naturschutzring heute seinen 50. Geburtstag feiert, heißt das: Er ist fast so alt wie die Bundesrepublik Deutschland und das Grundgesetz und immerhin älter als die Bundeswehr.

Ich finde das schon bemerkenswert. 1950, mitten in der Zeit des Wiederaufbaus, als die Menschen vor allem Sorge um das Dach über dem Kopf, den Arbeitsplatz und die materielle Zukunft hatten, gründeten 15 Verbände einen Dachverband, um den Naturschutz in unserem Land voranzubringen. Das war 20 Jahre bevor der Umweltschutz in unserem Land als Thema in die Schlagzeilen kam.

Zu den Gründungsvätern gehörte damals schon Professor Engelhardt, der den Verband seit 1968 als Präsident leitet und das Bild des Deutschen Naturschutzrings geprägt hat.

Sie, verehrter Professor Engelhardt, haben mit Ihrem Engagement und Ihrer Begeisterungsfähigkeit wirklich Beispielhaftes für den Umwelt- und Naturschutz geleistet. Dafür haben Sie sich Dank und Anerkennung verdient.

Meine Damen und Herren!

Diese Anerkennung drückt man wohl am besten aus, wenn wir auf das Erreichte zurückblicken und versuchen, eine Standortbestimmung der Umwelt- und Naturschutzpolitik in unserem Land zu leisten.

Im Deutschen Naturschutzring engagieren sich heute mehr als 5 Millionen Menschen in über 100 Mitgliedsverbänden für den Natur- und Umweltschutz. Während andere gesellschaftliche Institutionen unter Mitgliederschwund leiden, hat die Zahl der Mitglieder in den Umweltverbänden in den letzten Jahren sogar noch deutlich zugenommen. Ohne ihr vorbildliches umweltpolitisches Engagement hätte der Umweltschutz im Bewusstsein der Bürgerinnen und Bürger nicht den hohen Stellenwert erlangt. Es waren die Umweltverbände, die das Waldsterben und die Gefahren der Kernenergie zu den großen politischen Themen machten. Darauf können Sie wirklich stolz sein.

Dennoch sehen wir heute realistisch, dass die Sorge um den Arbeitsplatz und die wirtschaftliche Entwicklung für viele Menschen im Vordergrund steht. Daraus folgt nun keinesfalls, dass Umwelt- und Naturschutz zum Randthema wird. Ganz im Gegenteil: Wie die ökologische und ökonomische Modernisierung optimal miteinander verknüpft werden können, gehört zu den spannendsten Zukunftsthemen. Die Lösung dieser Zukunftsfrage kann nur gelingen, wenn wir die gesamte Gesellschaft daran beteiligen, und wenn auch die Umweltverbände ihren konstruktiven Beitrag leisten. Deshalb ist die Suche nach dem Konsens immer wieder so wichtig.

Das gilt für eine nachhaltige Energiepolitik, für den Klimaschutz, aber auch für den Naturschutz. In der Energiepolitik heißt das zum Beispiel, dass wir Klimaschutz, Ressourcenschonung, Versorgungssicherheit und Beschäftigung nur durch eine Effizienz-Revolution erreichen können. Durch die Verbindung von Spitzentechnologie und Sparsamkeit, in Zusammenhang mit der Erschließung und dem Einsatz erneuerbarer Energien.

Beim Naturschutz haben wir es zum Beispiel mit dem Problem der Privatisierung von Naturschutzflächen in den ostdeutschen Ländern zu tun. Hier hat die Beharrlichkeit der Umweltverbände schließlich zu einem guten Ergebnis geführt.

Meine Damen und Herren,

Ein halbes Jahrhundert Deutscher Naturschutzring ist aber auch ein guter Anlass, die Instrumente unserer Umweltpolitik zu überprüfen. Möglicherweise verdecken die inzwischen breitgefächerten Aktivitäten den Kern des Ganzen. Stimmen die Prioritäten und Koordinaten der Umweltpolitik noch? Ist die Vielzahl der Paragraphen wirklich ein effizienter Beitrag zum Umweltschutz? Nutzen wir die innovativen Potenziale für einen modernen Umweltschutz? Oder haben Politik, Wirtschaft und Verbände sich in den gewachsenen Strukturen eingerichtet?

Als erstes müssen wir den Kern, das eigentliche Anliegen der Umweltpolitik, deutlich machen. Es geht um die langfristige Sicherung unserer natürlichen Lebensgrundlagen für die lebenden und für zukünftige Generationen. Deshalb hat der Umweltschutz zentrale Bedeutung für eine nachhaltige Entwicklung von Wirtschaft und Gesellschaft.

Nur in Verbindung mit einer langfristigen Sicherung der natürlichen Lebensgrundlagen kann es auf Dauer auch eine gesunde wirtschaftliche Entwicklung geben. Das sind zwei Seiten einer Medaille.

Damit stellt sich die Frage nach den Prioritäten der Umweltpolitik. Am Anfang steht die Erkenntnis, dass für einen wirksamen Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen die weltweiten Entwicklungen von ausschlaggebender Bedeutung sind. Wenn jährlich 12,5 Millionen Hektar tropischer Naturwälder verloren gehen, dann hat dies auf das Ökosystem Erde massive Auswirkungen. Das gleiche gilt für die knapper werdenden Wasserreserven, die Überfischung der Meere, die Zerstörung fruchtbarer Böden und erst recht für den Klimaschutz. Schon heute führen diese Entwicklungen zu massiven Wanderungsbewegungen und gefährden damit die Stabilität ganzer Regionen.

Gleichzeitig müssen wir sehen, dass eine einzelne Regierung diese Entwicklungen nur begrenzt beeinflussen kann. Nur in lang andauernden, schwierigen Verhandlungsprozessen im Rahmen internationaler Umweltabkommen gelingt es Schritt für Schritt, sich international auf Ziele und Maßnahmen zu verständigen. Dennoch wird die Bundesregierung diesen Weg mit Nachdruck weiter gehen. So werden wir gemeinsam mit den anderen europäischen Ländern uns bei der bevorstehenden Klimakonferenz in Den Haag dafür einsetzen, dass die Nutzung der Instrumente tatsächlich zu der in Kyoto vereinbarten Verminderung der Treibhausgase führt.

Gleichzeitig brauchen wir für den weltweiten Handel neben dem ökonomischen auch einen ökologischen Ordnungsrahmen. Wir brauchen Mindeststandards für den Umweltschutz im Welthandel, bei Auslandsinvestitionen und bei der Exportförderung. Bisher werden solche Mindeststandards von den Entwicklungsländern abgelehnt. Sie befürchten, dass wir mit Umweltstandards lediglich unsere Märkte von Importen abschotten wollen. Erst wenn es uns gelingt, das Eigeninteresse der Entwicklungsländer zu mobilisieren, werden wir vorankommen. Dabei kommt es entscheidend darauf an, dass die Industrieländer mit gutem Beispiel vorangehen.

Wenn die Menschen in der Dritten Welt sehen, dass wir mit dem Klimaschutz ernst machen und durch eine effiziente Nutzung von Rohstoffen und Energie gleichzeitig unsere Kosten vermindern, wird das auch für sie ein Anreiz sein, diesen Weg zu beschreiten. Dabei brauchen die Entwicklungsländer unsere Unterstützung.

Bei den Prioritäten der nationalen Umweltpolitik müssen wir uns fragen, ob wir uns nicht zu lange auf den Erfolgen des technischen Umweltschutzes ausgeruht haben. Sicher, Luft und Gewässer sind heute so sauber wie seit Jahrzehnten nicht mehr. Gleichzeitig wurde zu wenig beachtet, dass Natur und Landschaft zunehmend in Anspruch genommen werden. Nach Feststellungen des Sachverständigenrats für Umweltfragen sind mehr als zwei Drittel der vorhandenen naturnahen Lebensräume für Tiere und Pflanzen gefährdet.

War früher der Naturschutz parteiübergreifend ein konsensstiftendes Thema, so steht er heute ein ums andere Mal im Mittelpunkt umweltpolitischer Kontroversen. Einerseits müssen wir anerkennen, dass die Verminderung des Natur- und Landschaftsverbrauchs zu den drängenden umweltpolitischen Herausforderungen unseres Landes gehört. Andererseits leben wir in einem dicht besiedelten Industrieland. Im Spannungsverhältnis zwischen Schutz und Nutzung sind wir auf tragfähige Kompromisse angewiesen. Es wird auch in Zukunft Vorhaben geben, die wegen ihrer Bedeutung für Arbeitsplätze oder strukturschwache Regionen Eingriffe in Schutzgebiete notwendig machen.

Dort, wo der Bund Verantwortung trägt, werden wir einen Beitrag leisten, um den Naturschutz voranzubringen. Dabei geht es vor allem um die Sicherung des nationalen Naturerbes.

Zunächst einmal hat die Bundesregierung die Privatisierung der Naturschutzflächen in den neuen Bundesländern gestoppt. Noch vor der Sommerpause hat der Bundestag ein Gesetz verabschiedet, wonach 50 000 Hektar der geschützten Flächen von der BVG kostenlos an die Länder oder Naturschutzverbände abgegeben werden. Weitere Flächen stehen für den Tausch zur Verfügung.

Zweitens sind wir uns mit der Bundesstiftung für Umwelt einig, dass neben dem technischen Umweltschutz auch die finanzielle Förderung des Naturschutzes als Stiftungszweck verankert werden soll. Mit dem Flächenerwerb und der Bundesstiftung haben wir gute Voraussetzungen geschaffen, um das nationale Naturerbe zu erhalten. Damit kann ein Beitrag geleistet werden, um die Entwicklung von Nationalparks und überregional bedeutsamen Schutzgebieten zu finanzieren. Für mich gehören der Nationalpark Bayerischer Wald und der Nationalpark Wattenmeer genauso zum Reichtum unseres Landes wie der Kölner Dom und Schloss Neuschwanstein.

Gerade in den neuen Bundesländern gibt es ausgedehnte und wertvolle Schutzgebiete, die mit ihren Naturschönheiten einmalig sind. Hier bietet sich die große Chance, die Natur so zu erleben, dass daraus auch ein verstärktes Engagement für Natur und Umwelt erwächst.

Wenn es gelingt, gemeinsam mit den Bürgermeistern und Landwirten Konzepte zu entwickeln, wie der Schutz der Gebiete mit einer naturverträglichen wirtschaftlichen und touristischen Entwicklung verknüpft werden kann, wird dies auch die Kontroverse um den Naturschutz entschärfen.

Nicht zuletzt haben wir uns vorgenommen, noch in dieser Legislaturperiode ein Naturschutzgesetz zu verabschieden, das den heutigen Anforderungen entspricht. Dafür brauchen wir von allen Seiten Augenmaß und Kompromissbereitschaft. Entsprechend seiner beschränkten Gesetzgebungskompetenzen wird sich der Bund auf Rahmenvorschriften beschränken.

Dennoch wäre es wichtig, wenn wir gemeinsam mit den Ländern eine neue Strategie für einen modernen Naturschutz entwickeln könnten.

Meine Damen und Herren!

Der Naturschutz ist ein gutes Beispiel dafür, dass die langfristig angelegte Entwicklung eines Naturraums nur gelingen kann, wenn von vorn herein die Interessen an einer wirtschaftlichen Entwicklung berücksichtigt und die Betroffenen einbezogen werden. Wie in einer Flussaue oder in einer Berglandschaft naturverträgliche Landwirtschaft und Tourismus gestaltet werden können, muss jeweils vor Ort mit den Beteiligten erwogen und erprobt werden. Ich weiß, dass dies manchmal ein mühseliges Geschäft ist. Aber: Wenn der Naturschutz nur von außen mit staatlichen Geboten und Verboten durchgesetzt werden soll, verliert er in der Region jeden Rückhalt.

Meine Damen und Herren!

Die Zukunft unseres Landes hängt ganz wesentlich davon ab, ob es uns gelingt, umwelt- , wirtschafts- und beschäftigungspolitische Ziele erfolgreich zu verknüpfen. Dies ist der Kern einer Strategie der Nachhaltigen Entwicklung. Bisher arbeiten die Akteure in diesen Politikfeldern zu häufig neben- oder gegeneinander. Wer nur isoliert umweltpolitische Ziele verfolgt, wird an den gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Realitäten scheitern. Wir brauchen Innovationen für eine effiziente Nutzung natürlicher Ressourcen. Im Sinne einer Effizienzrevolution brauchen wir das verbrauchsarme Auto genauso wie das hocheffiziente Kraftwerk und das Niedrigenergiehaus.

Solche innovative Lösungen entlasten die Umwelt. Sie vermindern zudem die Abhängigkeit unseres Landes von Energieimporten. Gleichzeitig gehen davon Impulse für die wirtschaftliche Entwicklung und die Schaffung von Arbeitsplätzen aus.

Ich bin sicher: In Zukunft werden diejenigen Länder an der Spitze liegen, die diese Optimierungsaufgabe am besten lösen und ökologische und ökonomische Effizienz intelligent miteinander verknüpfen.

Um auf diesem Weg voranzukommen, hat die Bundesregierung einen Staatssekretärsausschuss für Nachhaltige Entwicklung eingerichtet. Ebenso werde ich in den nächsten Wochen die Mitglieder eines Rats für Nachhaltige Entwicklung berufen.

Meine Damen und Herren!

Ein Thema, das die öffentliche Aufmerksamkeit stark beschäftigt hat, ist die Stromerzeugung aus Kernenergie. Gemeinsam mit den Umweltverbänden, aber auch weiten Teilen der Gesellschaft ist die Bundesregierung der Überzeugung, dass Kernenergie keine nachhaltige Form der Energieversorgung sein kann. Deshalb hat die Bundesregierung mit den Versorgungsunternehmen die geordnete Beendigung der Kernenergie und damit als erste Industrienation den umfassenden Ausstieg aus der Kernenergie vereinbart.

Meine Damen und Herren!

In der Energiepolitik und beim Atomkonsens war von Anfang an klar, dass es nicht so sehr um einen Ausstieg ging, sondern um den Einstieg in eine zukunftsfähige Energieversorgung. Vor allem geht es darum, diese mit den Klimaschutzzielen optimal zu verknüpfen. Dabei sind vor dem Hintergrund des liberalisierten europäischen Energiemarktes nationale Regelungen nur in einem engen Rahmen möglich.

Die frühere Bundesregierung hat ehrgeizige Klimaschutzziele formuliert. Sie hat es aber versäumt, die zur Umsetzung erforderlichen Maßnahmen zu ergreifen. Den vielen Worten und Ankündigungen hat sie keine Taten folgen lassen. Nach dem Regierungswechsel stehen wir vor der Tatsache, dass bis 2005 nur noch wenig Zeit für zusätzliche Maßnahmen bleibt. Trotz dieser schwierigen Ausgangslage halten wir an den bestehenden Klimaschutzzielen fest. Noch in diesem Monat wird die Bundesregierung ein Klimaschutzprogramm vorlegen, das ein umfangreiches Maßnahmenpaket enthält.

Das Programm enthält folgende Schwerpunkte:

Erstens: Die Bundesregierung hält an der ökologischen Steuerreform fest.

In maßvollen und berechenbaren Schritten wird der Energieverbrauch mittelfristig verteuert. Damit geben wir die notwendigen ökonomischen Anreize für einen effizienten Energieeinsatz.

Zweitens: Wir werden die Kraft-Wärme-Kopplung ausbauen. Die kombinierte Nutzung von Strom und Wärme führt hier zu einem besonders hohen Wirkungsgrad.

Drittens: Die größten Minderungspotenziale bestehen im vorhandenen Gebäudebestand. Mit unserem Förderprogramm wollen wir jährlich 300 000 Wohnungen sanieren. Damit schaffen wir in erheblichem Umfang neue Arbeitsplätze.

Viertens: Einen wichtigen Beitrag leistet auch die Wirtschaft. Die Selbstverpflichtungserklärung aus dem Jahre 1996 wird substanziell weiterentwickelt. Vor allem sind die jetzt vereinbarten Zielvorgaben wesentlich anspruchsvoller.

Fünftens: Im Gegensatz zur Industrie weist der Verkehrssektor nach wie vor steigende Emissionen auf. Dies gilt insbesondere für den Güterverkehr.

Deshalb gehört zu den wichtigsten Maßnahmen die Einführung einer streckenabhängigen Autobahnbenutzungsgebühr für schwere Lkw ab 2003. Meine Damen und Herren!

Zusammenfassend bin ich der Überzeugung, dass sich die umweltpolitische Halbzeitbilanz der Bundesregierung sehen lassen kann:

Der Atomausstieg ist vereinbart.

Erneuerbare Energien werden massiv gefördert.

Das Klimaschutzprogramm liegt in wenigen Tagen vor.

Das nationale Naturerbe wird gesichert.

Das Sofortprogramm zur Verminderung der Ozonbelastung wird umgesetzt.

Zum Schluss möchte ich auf meine anfänglichen Bemerkungen zurückkommen. Der Umweltschutz gehört zu den politischen Kernzielen der Bundesregierung. Dies bedeutet aber auch, dass wir alte Strukturen überprüfen und ausgetretene Pfade verlassen müssen.

Andererseits wird gerade in dieser Zeit - und nicht erst im Zusammenhang mit den abscheulichen Anschlägen von Rechtsextremisten - immer wieder von der Notwendigkeit gesprochen, das zivilgesellschaftliche Engagement zu stärken. Dieses Engagement wird gerade bei jungen Leuten durch kaum etwas so sehr herausgefordert und gefördert wie beim Umwelt- und Naturschutz. Umweltorganisationen wie die Verbände im Deutschen Naturschutzring zählen für die Jugendlichen von heute zu den attraktivsten Betätigungsmöglichkeiten. Denn hier sehen sie, dass sich eine positive gesellschaftliche Zielsetzung mit praktischem Tun zur Erhaltung von bedrohten Flächen und Landschaften verbinden lässt.

Für diese Perspektive können wir den Umweltverbänden und dem Deutschen Naturschutzring nur dankbar sein. Und ich wünsche Ihnen auf diesem Weg weiterhin viel Erfolg.