Redner(in): Hans Martin Bury
Datum: 08.10.2000
Anrede: Anrede,
Quelle (evtl. nicht mehr verfügbar): http://archiv.bundesregierung.de/bpaexport/rede/34/21234/multi.htm
Sehr geehrte Frau Prälatin Margenfeld,
sehr geehrter Herr Landrat Haas,
sehr geehrter Herr Smoliakov,
sehr geehrte Damen und Herren,
es ist mir eine große Freude heute mit Ihnen in der ehemaligen Synagoge Freudental die Veranstaltungsreihe "Jiddisch hat noch nicht sein letztes Wort gesprochen" zu eröffnen. Die kommenden Wochen werden die jiddische Sprache und Kultur durch Vorträge, Lesungen und Konzerte hier in Freudental und darüber hinaus lebendig werden lassen.
Nicht nur an diesem Ort war Jiddisch früher dank einer großen Zahl jüdischer Mitbürger Alltagssprache. Die Geschichte des Jiddischen ist untrennbar verbunden mit dem Völkermord an 6 Millionen Juden in Deutschland und Europa durch das nationalsozialistische Unrechtsregime.
Die Mörder vernichteten jüdisches Leben und jüdische Kultur in Deutschland. Und sie nahmen der deutschen Kultur ein Stück ihrer Identität und ihrer Lebendigkeit.
Eine Szene aus dem Film "Zug des Lebens" des rumänischen Regisseurs Radu Mihaileanu kam mir bei der Vorbereitung dieser Veranstaltungsreihe in den Sinn: Der Film spielt im Jahre 1941 irgendwo in Osteuropa. Deutsche Truppen rücken vor, töten oder deportieren die Menschen. Um diesem Schicksal zu entgehen, beschließt ein jüdisches Schtetl, sich selbst zu deportieren - nach Palästina. Zur Tarnung besorgen sie sich einen Zug, deutsche Uniformen und Waffen. Für die Inszenierung müssen einige in die Rolle der Nazis schlüpfen. Doch neben nachvollziehbarem Unwillen gibt es ein praktisches Problem: die Sprache."Wie spricht man akzentfreies Deutsch?"
Die Erklärung im Film lautet: "Jiddisch ist eine Parodie des Deutschen und hat obendrein Humor. Ich verlange also nicht mehr von Ihnen - wenn Sie perfektes Deutsch sprechen wollen ohne jiddischen Akzent - als den Humor wegzulassen".
Soweit der Film. Umso mehr freue ich mich, dass Sie die Schätze der jiddischen Sprache, von denen Isaac Singer in seiner Nobelpreisrede von 1978 gesprochen hat, heben und der Welt mit dieser Veranstaltungsreihe vor Augen führen werden.
Anrede
die Bundesregierung hat mit der Initiative zur Errichtung der Bundesstiftung "Erinnerung - Verantwortung - Zukunft" einen wichtigen Beitrag geleistet, um erlittenes Unrecht zu entschädigen, vor allem aber als Unrecht anzuerkennen. Die Erleichterung, dass diese Geste endlich möglich war, mischt sich bei mir jedoch mit Unverständnis, dass es länger als ein halbes Jahrhundert gedauert hat, bis eine deutsche Regierung diesen Schritt getan hat. Damit ist ein finanzieller Schlussstrich gezogen, einen moralischen Schlussstrich kann und darf es nicht geben. Deshalb ist mir die, im Namen und Auftrag der Stiftung angelegte Verbindung aus Erinnerung, Verantwortung und Zukunft so wichtig. Die scheußlichen Anschläge der jüngsten Zeit auf jüdische Einrichtungen, lassen auch besonnene Vertreter jüdischer Gemeinden zweifeln, ob es gut gehen kann, im Land der Täter zu bleiben. Das darf uns nicht ruhen lassen. Es ist auch nicht damit getan, wenn die Politik dem Rechtsextremismus den Kampf ansagt, wenn Polizei und Justiz rasch und hart durchgreifen. All das ist bitter notwendig.
Aber notwendig ist vor allem, dass die Gesellschaft insgesamt Angriffe auf Einzelne als Angriffe auf sich selbst begreift. Der Bundeskanzler hat zu Recht in Düsseldorf den "Aufstand der Anständigen" angemahnt und deutlich gemacht, dass Wegschauen nicht zulässig ist. Für Intoleranz kann es keine Toleranz geben.
Hier sind wir alle gefordert, Gesicht zu zeigen."Gesicht zeigen" heißt auch die Initiative von Paul Spiegel, Michel Friedman, Uwe-Karsten Heye und anderen, deren Mitglieder öffentlich gegen Rechtsextremismus und Fremdenfeindlichkeit eintreten.
Jenseits der Auseinandersetzung mit den Tätern - denen, die sich an Menschen, Gedenkstätten, Gotteshäusern vergehen - gilt es aber auch, sensibel zu sein, wenn - arglos oder leichtfertig - Ausgrenzung der Boden bereitet wird.
Ich erinnere mich, dass Ignaz Bubis einmal erzählte, deutsche Gesprächspartner würden ihn gelegentlich mit dem Satz "Grüßen Sie Ihren Ministerpräsidenten" verabschieden. Gemeint war nicht der hessische Ministerpräsident, sondern der israelische Regierungschef.
Ich freue mich ganz besonders über Ihre Initiative zu dieser Veranstaltungsreihe."Jiddisch hat noch nicht sein letztes Wort gesprochen" - dieser Titel macht Mut, er gibt Kraft - und er macht neugierig. Mein besonderer Dank geht an Zwi Smoliakov. Sie werden neben Ihrem nun folgenden Vortrag auch mit Schülerinnen und Schülern über jiddische Sprache und Kultur diskutieren. Ich wünsche Ihnen allen viel Erfolg für die kommenden Veranstaltungen, viele interessierte Zuhörer und Teilnehmer, vor allem auch bei Ihren geplanten Lesungen in den Schulen und Büchereien.