Redner(in): Michael Naumann
Datum: 09.10.2000

Anrede: Anrede,
Quelle (evtl. nicht mehr verfügbar): http://archiv.bundesregierung.de/bpaexport/rede/40/22840/multi.htm


Die Montagsdemonstration vom 9. Oktober 1989 hier in Leipzig verwandelte die oppositionelle Bewegung der DDR binnen einer Nacht in einen volksrevolutionären Aufstand. Etwa 70.000 Menschen gingen auf die Straße. Sie zeigten ihrem Staat, wie das Volk aussah und vor allem, dass es eine eigene Stimme hatte. Vom 9. Oktober an war der innere Verfallsprozess der DDR nicht mehr aufzuhalten, unumkehrbar geworden.

Die schärfste Waffe des Volkes war seine Gewaltlosigkeit: Der Verzicht der Menschen auf Gewaltanwendung raubte der DDR-Führung die Möglichkeit, sich auf ihren Sicherheitsapparat zu stützen. Seit dem 9. Oktober war die Massenerhebung nur noch mit dem Risiko eines Bürgerkriegs gegen das eigene Volk zu bekämpfen. Die Staatssicherheit hat das übrigens sehr klar gesehen. Auch von der Sowjetunion war zu diesem Zeitpunkt keine Hilfe mehr zu erwarten gewesen.

Wenn der Begriff der Revolution einen "erzwungenen Transfer von Macht in einem Staat" bezeichnet, dann fand in der DDR eine Revolution statt. Dann war es eine Revolution, die schließlich die Vereinigung der beiden deutschen Staaten herbeiführte. In den Feiern zum 3. Oktober ist jetzt vor allem die Einheit als Telos der stürmischen Veränderungen in den Jahren 1989 und 1990 gefeiert worden, viel weniger aber das revolutionäre Streben nach Freiheit, das ihr vorausging. Wir sollten jedoch nicht vergessen, dass die Einheit in Freiheit erreicht wurde. Und dass sie letztlich auf freier Selbstbestimmung beruht.

Dietrich Brachers Formel von der "postnationalen Demokratie unter Nationalstaaten", mit der man in den achtziger Jahren den politischen Ort der alten Bundesrepublik recht genau bezeichnen konnte, musste neu formuliert werden. Seit 1990 ist das vereinigte Deutschland ein Nationalstaat unter anderen, fest in Bündnisse eingebunden, eine aktive Rolle im europäischen Einigungsprozess spielend. Es hat auf eine Reihe von Souveränitätsrechten verzichtet. Es wird - seit der Novellierung des Staatsbürgerschaftsrechtes durch diese Bundesregierung, aber beispielsweise auch mit der Erfüllung unserer Bündnispflichten im Kosovo-Konflikt - endlich zu einem Nationalstaat westlicher Prägung.

Über diese Entwicklung sind wir sehr froh. Aber das Wohlwollen, das uns aus dem Ausland nach dem Beitritt der DDR zur Bundesrepublik angesichts eines demokratisch sich wandelnden Ost- und Mitteleuropas entgegengebracht wurde, ist nur die eine Seite. Auch das Glück darüber, dass es den meisten Bürgern in den neuen Bundesländern heute viel besser geht, als vor zehn Jahren, dass die Einkommen in Ost und West sich angleichen, dass es alles in allem eine funktionierende Infrastruktur gibt, dass die Wohnungen besser geworden sind und die Umwelt sauberer - all das, alle diese Episoden der großen Erfolgsgeschichte "deutsche Einheit" können in meinen Augen über eines nicht hinwegtäuschen: Die Vereinigung der beiden deutschen Staaten hinterließ auch Unerledigtes.

Was könnte das sein? Ich behaupte, es ist das Fortwirken des ursprünglichen volksrevolutionären, nach Freiheit strebenden Impulses, der am 9. Oktober 1989 hier in Leipzig fast körperlich zu spüren war und kaum vier Wochen später dazu führte, dass die Mauer fallen musste. Dieser in Deutschlands Geschichte selten zu beobachtende Antrieb zur bürgerlichen Aufmüpfigkeit, das heißt auch: des Willens, seine politischen Belange in eigene Hand zu nehmen, hat in dem neuralgischen Jahr zwischen Oktober 1989 und Oktober 1990 vielen Politikern in Ost und West ein gewisses Unbehagen bereitet. Mein Verdacht ist: Dieses Aufsässige, Widerborstige war schon der Bürgeropposition der DDR, später auch dem Runden Tisch nicht ganz geheuer. Es ist schließlich im Zuge der vertraglichen Ausgestaltung der Einheit zu Gunsten des Primats der Stabilität und der Kontinuität endgültig auf der Strecke geblieben.

Diese Furcht vor dem politisch radikalen Neuanfang unterschied die Revolution in der DDR von Anfang an etwa von derjenigen in Polen. Auch später gelang es kaum, den freiheitlichen Impuls in der politischen Kultur des vereinigten Deutschland zu verankern. Ich stelle heute einen relativen Mangel an gemeinsamem staatsbürgerlichen Bewusstsein fest, eine gewisse gesamtdeutsche Indifferenz in Sachen gelebter Demokratie, eine Trägheit im Westen, die revolutionäre Tat der ehemaligen Bürger der DDR anzuerkennen, und im Osten, das Resultat dieser Leistung in den bestehenden Institutionen des demokratischen Rechtsstaats wiederzufinden. Vielleicht übertreibe ich. Aber vom Stolz, Freiheit und Selbstbestimmung gemeinsam errungen zu haben, ist heute kaum etwas zu spüren.

Es war ein unerquickliches Schauspiel, meine Damen und Herren, wie die CDU in den vergangenen Wochen versucht hat, den Ruhm der Einheitsstiftung für sich zu reklamieren. Dazu wurde auch wieder einmal der alte Topos vom Sozialdemokraten als dem "vaterlandslosen Gesellen" bemüht. Nicht nur Willy Brandt, auch Johannes Rau, Helmut Schmidt, Erhard Eppler, Hans-Jochen Vogel, Jürgen Schmude oder Klaus von Dohnanyi haben sich sehr früh für die Vereinigung ausgesprochen. Andere, wie Egon Bahr oder Oskar Lafontaine mochten ihre Zurückhaltung lange nicht aufgeben. Ich glaube, dass es ein paar Denktraditionen in der SPD dieser Zeit gegeben hat, mit denen viele nicht brechen wollten, um keinen Preis.

Eine langjährig eingeübte Fixierung auf sicherheitspolitische Prioritäten gehörte dazu. Vielleicht auch die Neigung, die deutsche Frage unter Berufung auf universale ethische Prinzipien als gelöst zu betrachten, historisch also nur noch supranationale Einigungsprojekte für legitim anzusehen. Drittens eine gewisse deutsche Tendenz zum Ökonomismus, zum Verrechnen von Kosten politischer Veränderungen, eine Tendenz, die eher Tentatismus nahe legt als Aufbruchsbereitschaft und keineswegs - das will ich ausdrücklich hinzufügen - ein SPD-spezifisches Phänomen ist, sondern sich auf mancherlei Weise auch in der damaligen Regierungspolitik niederschlug. Zu diesen Punkten einige wenige erinnernde Bemerkungen.

Die Ziele Ostpolitik waren nur mit Hilfe vielfältiger Kontakte mit Staats- und Parteiführungen in Osteuropa zu erreichen. Die Formel "Wandel durch Annäherung" zwang zu einem Einvernehmen auf höchster Ebene, das lange Zeit seine strategische Berechtigung hatte. Damit verbunden war eine gewisse Zurückhaltung in der Thematisierung von Menschenrechtsfragen. SPD und SED vereinbarten eine dauerhafte "Vertragspolitik". Das höchste Gut war friedenssichernde Stabilität. Egon Bahr und Hermann Axen legten dem SPD-Präsidium noch im Juli 1988 den Vorschlag für eine "Zone des Vertrauens und der Sicherheit in Europa" vor, das die staatliche Existenz der DDR anerkannte. Bahr schlug in seiner Schrift "Zum europäischen Frieden" ein gesamteuropäisches Sicherheitssystem ohne Nato und Warschauer Pakt vor.

Und nicht wenige Sozialdemokraten überhörten es einfach, als Willy Brandt in der Bundestagsitzung vom 1. September 1989 die alte Ostpolitik für beendet erklärte. Er stellte fest,"dass eine Zeit zu Ende geht, in der es sich in unserem Verhältnis zum anderen deutschen Staat vor allem darum handelte, durch vielerlei kleine Schritte den Zusammenhalt der getrennten Familien und damit der Nation wahren zu helfen". Zu diesem Zeitpunkt eilen die Menschen in der DDR bereits mit großen Schritten auf die Bundesrepublik zu. Drei Wochen später verbannt Theo Sommer in der "Zeit" die deutsche Frage "auf die hinterste Herdplatte der Weltpolitik". Erich Böhme warnt im "Spiegel" vor einer gefährlichen "Gesamtdeutschlandschwärmerei", während Günter Gaus - und das ist damals schon nicht ohne unfreiwillige Komik - zwei Tage nach dem Fall der Mauer verblüfft und erschüttert den Gedanken an eine Vereinigung von sich weist. Stattdessen fordert er eine Konföderation der mitteleuropäischen Staaten unter Einschluss der beiden deutschen - und unter Führung des neutralen Österreich.

Sicherheitspolitische Argumente lagen beinahe allen politischen Fabelwesen zugrunde, die damals gegen die deutsche Einheit aufgerufen wurden: die großdeutsche Kulturnation, die bedeutsamer sei als der gemeinsame Staat, die Neuralitätszone mitten in Europa, die endlich eine deutsche Interessenpolitik ermögliche - bis hin zur alten Zentraleuropa-Idee mit entsprechendem K-u-K-Flair.

In seiner Schrift "Die Gesellschaft der Zukunft" hat Oskar Lafontaine 1988 eine nationalstaatliches Denken hinter sich lassende Politik zu begründen versucht. Er tat es unter Berufung auf die von Jürgen Habermas im Historikerstreit für Auschwitz mit verantwortlich gemachte Tradition des autoritären deutschen Machtstaats. Günter Grass hat im Dezember 1989 auf dem SPD-Parteitag das Argument vorgetragen: Eine Nation, die Auschwitz zuließ, habe auf alle Ewigkeit das Recht verwirkt, in einem Nationalstaat zusammen zu leben. Etwas später schrieb Grass kategorisch: "Die grauenhafte und mit nichts zu vergleichende Erfahrung Auschwitz, die wir und die Völker Europas mit uns gemacht haben, schließt einen deutschen Einheitsstaat aus." Grass und Habermas, aber auch Peter Glotz, haben den Vereinigungsprozess in diesem Sinn kritisch begleitet: Die Einigung Europas genoss für sie unbedingten Vorrang vor der deutschen Einheit. Lafontaine plädierte in den Monaten der politischen Beschleunigung - ja sogar noch nach der DDR-Wahl vom März 1990, die doch eine Art Beitritts-Plebiszit war, für eine Verzögerung der Einheit, bis das Zusammenwachsen der EU-Länder die deutsche Vereinigung obsolet gemacht habe.

Nein, die Genannten setzten wenig Vertrauen in die revolutionären Kräfte der DDR-Bürger. Die Revolution von 1989 war in ihren Augen keine Chance für eine neue politische Qualität der deutschen Staatsnation, sondern sie weckte den für Europa so gefährlichen deutschen Machtstaat wieder auf. Diskutiert wurden abstrakte Prinzipien, die es nicht zuließen, die tatsächlichen politischen Wünsche der DDR-Bürger als legitime Bestrebungen von Landsleuten anzuerkennen.

Auf ihrer Sitzung vom 8. bis 10. November 1989 erfuhren die Mitglieder des ZK der SED, dass der Staatsbankrott der DDR unmittelbar bevorstehe. Das Volk konnte diese trübe Wahrheit erst in einem Artikel im "Neuen Deutschland" aus dem Januar 1990 lesen: Fast zwei Jahrzehnte lang waren die Wirtschaftszahlen systematisch gefälscht worden. Am Ende gab es in der DDR kein Wachstum mehr, nur noch eine exorbitante Auslandsverschuldung und eine ebenso exorbitante verschleierte Arbeitslosigkeit.

Die ökonomische Basis der DDR brach Anfang 1990 zusammen. Das beschleunigte die Tendenz zur Vereinigung und ließ auch sehr bald die Vereinigung nach § 146 GG obsolet erscheinen. § 146 hätte ein längerfristiges Verfahren und damit auch eine längere Frist der Zweistaatlichkeit erforderlich gemacht. In dieser Phase plädierte Oskar Lafontaine für einen verlangsamten Einigungsprozess und von ihm favorisierte Konföderations-Lösung. Er vertrat das Argument, erst müssten sich die Lebensverhältnisse in Ost und West angleichen, bevor über gemeinsame staatliche Strukturen verhandelt werden könne.

Auf dem SPD-Parteitag im Dezember 1989 erklärte Lafontaine: "Die Idee der sozialen Gerechtigkeit ist immer vorrangig gegenüber der Idee, wie zukünftige Staaten zu schaffen seien." Und am 23. August des folgenden Jahres, als der Bundestag in seiner Sitzung bereits den Tag der Einheit festlegte, begann der Kanzlerkandidat der SPD von 1990, Kostenargumente gegen den politischen Prozess der Vereinigung in Anschlag zu bringen. Das hat der SPD im Wahlkampf nicht gut getan.

Aber die Einheit an der ökonomischen Elle zu messen, daran hatte auch die damalige Regierung einen erheblichen Anteil. Die rasche Einführung der D-Mark in der DDR war nicht nur ein Akt symbolischer Politik, der die Flucht in den Westen eindämmen sollte. Mit der schlagartigen Ausdehnung der Marktwirtschaft hatte sich die Regierung Kohl ein probates Steuerungsmittel für den Einigungsprozess geschaffen. Ohnehin hatte die Revolution zu einem frühen Zeitpunkt bereits den Charakter einer "Revolution von oben". Seit der Einführung der D-Mark gab die wirtschaftliche Dynamik den Zeittakt vor. Politische Institutionen waren von da an nur noch in einem begrenzten Rahmen neu zu schaffen oder radikal zu verändern. Wenige Wochen später hatte der zweite Einigungsvertrag die Revolution endgültig in ein bürokratisches Verfahren münden lassen. Der deutsche Hang zu Stabilität und Kontinuität hatte Vorrang - auch vor der Begeisterung über die Selbstbestimmung.

Aufgeregt hatten die Leitartikel während des Jahres 1990 vor politischer Unsicherheit aller Art gewarnt, allen voran die "Zeit". So tief saß die Furcht, dass Theo Sommer sogar zur wirtschaftlichen Unterstützung des Sieben-Wochen-Regimes von Egon Krenz aufrief. Die weitere Ausgestaltung der Einheit vollzog sich in der Wunschvorstellung, unerledigte politische und gesellschaftliche Fragen vor allem mit Geld zu lösen. 1,5 Billionen Mark sind mittlerweile als Transferleistungen in die neuen Bundesländer geflossen. Zum Wohle der Bürgerinnen und Bürger, ohne Frage. Aber die Aufrechnerei, die diese Zahlungen ausgelöst haben, trugen nicht zum Zusammenwachsen der beiden deutschen Gesellschaften bei. Da die Frage nach der Legitimität von Steuermitteln, Solidaritätsbeiträgen und Neuverschuldung nicht zureichend diskutiert wurde, blieben sie Gegenstand der parteipolitischen Auseinandersetzung. Bis heute - und Richard von Weizsäcker hat das häufig genug beklagt - werden diese Transferleistungen nicht als Ausdruck einer praktischen Solidarität angesehen. Das setzt sich fort bis zur nun immer lauter angestimmten Klage der süddeutschen Länder, sie würden im Länderfinanzausgleich zugunsten Ostdeutschlands geradezu geschröpft.

Dieser kleine Rückblick auf Sicherheitspolitik, Postnationalismus und Ökonomismus sollte kein individuelles Fehlverhalten bloßstellen. Schon gar nicht aus der hochmögenden Perspektive dessen, der nach zehn Jahren glaubt, es besser zu wissen. Jeder, der in einer historisch unvergleichlichen Situation - wie jener 1989/90 - gezwungen war, politische Entscheidungen zu fällen, hat ein Recht auf Irrtum - und auf Selbstkorrektur. Keine politische Konstellation entsteht von selbst, jede fällt, sobald sie identifiziert wird, unter ein Deutungsraster. Es ist entscheidend, welches sich durchsetzt.

Dass es in der SPD auch andere Möglichkeiten gab, sich zur deutschen Vereinigung zu verhalten, bewies Willy Brandt. Brandt, der Skrupulöse und Selbstkritische, bediente sich in jener Phase sehr behutsam einer Rhetorik der nationalen Solidarität, die er von Kurt Schumacher und Carlo Schmid entlieh. Wenn er für die Vereinigung plädierte, dann aus der tiefen Überzeugung, die Landsleute in der DDR hätten ein moralisches Anrecht auf die Solidarität des Westens, und zwar ungeteilt, nicht nur auf materielle, sondern auch auf politische Solidarität. In der Überzeugung, aus dieser Solidarität werde kein neues Bismarck-Reich auferstehen, sondern sie sei im Gegenteil die Grundlage republikanischer Freiheit in Deutschland. Darauf vertrauend, lag für Brandt die staatliche Einheit in der Logik der DDR-Bürgerrevolution. Unter dieser Perspektive sah er auch sein eigenes politisches Werk, die Ostpolitik, als historisch bedingt an.

Ich nenne das eine langfristige und tragfähige politische Moral, die aus geschichtlicher Erfahrung erwachsen ist. Ich unterscheide davon kurzfristige Haltungen im Namen der ideologischen Selbstversicherung, die für ihre Vertreter vor allem eine Funktion haben: das eigene mentale, politische und weltanschauliche Arrangement gegen die Zumutungen unvorhergesehenen geschichtlichen Wandels zu sichern. Solche Haltungen existieren bis heute fort. Gegenwärtig ist man beinahe versucht, von einer Phase der Nostalgie zu sprechen. Die alten, bewährten Überzeugungen von den Vorzügen der DDR und den Vorzügen der alten, idyllischen Bundesrepublik haben wieder Konjunktur. Der Einigungsprozess war nach dem 3. Oktober 1990 von der CDU-Regierung vor allem im Vertrauen auf die Selbstheilungskräfte der Marktwirtschaft in Gang gesetzt worden. Dass ein ökonomisch und ökologisch ruiniertes Land sich nicht innerhalb einer Dekade in eine blühende Landschaft verwandeln würde, hätte man ahnen können.

Da hat manches Unzulängliche auch jene wieder auf den Plan gerufen, die immer schon die Sozialstaats-Katastrophe unter Bedingungen eines marktwirtschaftlich organisierten gemeinsamen Nationalstaats voraus sahen. Vor gut drei Jahren haben die Unterzeichner der "Erfurter Erklärung" den "Imperialismus" der westlichen Ordnung beklagt. Sie konstatierten, die D-Mark habe die Ostdeutschen um reale wirtschaftliche Chancen gebracht. Sie sprachen von "Siegerjustiz" und kritisierten die Arbeit der Gauck-Behörde, deren Einrichtung nun wirklich zu den letzten Erfolgen der Bürgerbewegung der DDR gehört.

Um es klar zu sagen: Ich halte eine solche Position als Resümee über den Einigungsprozess für falsch. Eine stabile Konföderation beider deutscher Staaten, wie sie die Linke während der Jahre 1989/90 präferiert hat, wäre eine historische Fehlkonstruktion gewesen. In ihr würde es den Menschen in Ostdeutschland schlechter gehen als heute. Ich bin zudem überzeugt: Es wären auch alle volksrevolutionären Anstöße bald wieder kassiert worden, und zwar vollständig.

Es hätte im vereinigten Land wohl eine Zeit gegeben, den freiheitlichen Impulsen ein stärkeres politisches Gewicht zu verleihen, und sei es symbolisch. Die Kommission, die 1993 eine Verfassungsreform vorbereiten sollte, beklagte sich bitter über das Desinteresse der Kohl-Regierung an ihrer Arbeit. Ein mutig reformiertes Grundgesetz hätte in der Bundestagswahl vom 16. Oktober 1994 dem Staatsvolk zur Abstimmung vorgelegt werden können. Das ist leider nicht geschehen. Auch damals setzte sich das Interesse der Regierung an Kontinuität durch, vor allem aus parteipolitischem und wahltaktischem Kalkül. Auch dies eine verpasste Chance, den freiheitlichen Funken einer Revolution, die doch glücklich endete, in die beruhigte Bundesrepublik hinüber zu retten.

Die deutsche Einheit ist eine beeindruckende Erfolgsgeschichte. Daran gibt es nichts zu deuteln. Aber ohne Zank und Zagen in der Gesellschaft ging es nicht ab. Das Zusammenwachsen wird auf absehbare Zeit eine komplizierte Angelegenheit bleiben, vor allem wird es noch lange anhalten. Ob manches anders hätte aussehen können, ob die innere Einheit hätte schneller erreicht, tiefer greifen können, wenn der politischen Herausforderung einer offenen, einen historischen Bruch markierenden Situation mutiger begegnet worden wäre, diese Frage überlasse ich am Ende Ihnen, den Zeitgeschichtlern, zur Beantwortung. Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.