Redner(in): Michael Naumann
Datum: 13.10.2000

Anrede: Anrede,
Quelle (evtl. nicht mehr verfügbar): http://archiv.bundesregierung.de/bpaexport/rede/90/19290/multi.htm


Junge Karriere: Welches Buch lesen Sie gerade und was gefällt / missfällt Ihnen an ihm? Naumann: Thomas L. Friedman,"The Lexus and the Olive Tree", eine exzellente Darstellung des Konflikts zwischen Globalisierung der Volkswirtschaften und den kulturellen Beharrungskräften der Nationen und Regionen.

In Ländern ohne Buchpreisbindung wie in den USA oder Großbritannien kosten Bestseller weniger als in Deutschland. Wozu braucht Deutschland eine Buchpreisbindung?

Nehmen wir das Beispiel USA: Dort hat der Buchmarkt deutlich an Vielfalt eingebüßt. Es gibt nur noch wenige unabhängige Verlage, die Zahl der unabhängigen Buchläden ist auf 800 zurückgegangen. Im Vergleich dazu gibt es in Deutschland noch über 3000 reine Buchhandlungen - also fast das vierfache, obwohl in den USA dreimal soviel Menschen leben wie bei uns. 80 Prozent aller Titel werden von nur drei Buchketten geordert.

In den USA sind gerade mal 3 % der Bestseller billiger, und in Großbritannien kosten die Bücher im Durchschnitt 15 % mehr seit dem Wegfall der Buchpreisbindung, inflationsbereinigt.

In Deutschland existiert aufgrund der Verlagsvielfalt eine enorme Preiskonkurrenz. Bei uns sind die Bücher darum billiger im Durchschnitt als in preisungebundenen Märkten. Im Übrigen hat Deutschland pro Kopf der Bevölkerung fast dreimal so viel Neuerscheinungen pro Jahr als die USA.

Billige Bücher müssten nach den Regeln des Marktes doch den Buchverkauf fördern?

Bücher sind, wie gesagt, in Deutschland auch jetzt vergleichsweise preiswert, und ich denke, die Umsatzzahlen in der Buchbranche sprechen jetzt für sich. Die Preise für Bücher sind in den letzten Jahren bei weitem nicht so angestiegen wie für andere Konsumartikel. Andererseits gilt auch: Bücher sind keine Kartoffeln, nicht Lebensmittel für den Magen, sondern für den Geist. Wer kulturell überleben will, braucht Bücher. Der Preis allein kann also kein geeigneter Maßstab für den Buchverkauf sein. Es darf nicht so weit kommen, dass bei preisungebundener Bestsellerei - ein verlegerisches Hochrisikogeschäft - das Risiko durch Erhöhung der Preise für Fach- und Sachbücher aufgefangen wird. Das ist in Amerika der Fall.

Internet und Print on demand sorgen für neue Konkurrenz. Auch die Neuen Antiquariate bieten billigere Bücher an. Ist die Buchpreisbindung nicht überholt?

Neue Formen der Buchproduktion und des Buchvertriebs erweitern die bisherige Praxis, machen sie aber nicht obsolet. Der elektronische Buchhandelsumsatz liegt bei ca. 2 % . Vielleicht werden es einmal 10 % . Mehr erwartet die Branche nicht. Ohne Buchpreisbindung gäbe es kein flächendeckendes Netz von Buchhandlungen mehr. Nach Schätzungen des Börsenvereins würde mehr als die Hälfte - vor allem die kleineren - in den nächsten Jahren schließen müssen. Im Übrigen ist das deutsche Sortiment elektronisch seit 20 Jahren erstklassig ausgerüstet, und dies schon lange vor den USA.

Welche Zukunft haben kapitelweise im Internet veröffentlichte Bücher wie der Roman "The Plant" von Bestsellerautor Stephen King?

King ist ein Ausnahmeautor. Er wird sein nächstes Buch auch wieder drucken, davon gehe ich aus, und nicht "ausdrucken" lassen. Marktchancen erhalten und ausbauen wird nur derjenige erfolgreich können, der sich der kulturellen Grundlage des Marktes bewusst ist; dies gilt ganz allgemein und im besonderen für den Buchmarkt. Der Markt der Leser ist nicht identisch mit dem Seminar-Konzept im Betriebswirtschaftsstudium. Und ein Bestseller-Autor werden Sie nicht über das Internet. Dazu brauchen Sie weiter die altmodische Verlagsstruktur: Lektor, Herstellung, Werbung, Vertrieb.

Warum ist das Buch keine Ware wie jede andere?

Buch und Literatur sind aus unserer Kultur nicht wegzudenken. Sie sind das neuronale System einer jeden Gesellschaft, die sich kritisch reflektiert und räsoniert. Marktwirtschaft ohne kulturelles Bewusstein würde diesen fundamentalen Zusammenhang jedoch aushöhlen, uns kulturell verarmen lassen, ohne dass dem Wettbewerb ein Dienst erwiesen würde. Und bei einer Aufhebung der Buchpreisbindung würden konkret:

Die Konzentrationsbestrebungen im Verlagswesen nicht verringert, sondern beschleunigt, von jetzt knapp 4000 Buchhandlungen in drei bis vier Jahren nur etwa 1200 übrigbleiben, und würde die Zahl von qualifizierten Buchhändlern stark zurückgehen, zugunsten von ungelernten Verkäufern. Jede geistige Verarmung wird sich unmittelbar in eine wirtschaftliche umsetzen.