Redner(in): Angela Merkel
Datum: 12.04.2011
Untertitel: in Berlin
Anrede: Anrede,
Quelle (evtl. nicht mehr verfügbar): http://www.bundesregierung.de/nn_1498/Content/DE/Rede/2011/04/2011-04-12-merkel-jahresempfang-beauftragter-belange-behinderter-menschen,layoutVariant=Druckansicht.html
Lieber Hubert Hüppe,
liebe Ursula von der Leyen,
liebe Staatssekretäre,
aber vor allen Dingen Sie alle, die Sie heute aus nah und fern ich denke da auch an unseren österreichischen Gast hierher gekommen sind, ich möchte Sie zum diesjährigen Jahresempfang seitens der Bundesregierung herzlich willkommen heißen. Dieser Jahresempfang wird ja von Hubert Hüppe gegeben. Ich habe ihm, als wir einmal über seine Arbeit als Beauftragter der Bundesregierung für die Belange der Menschen mit Behinderungen geredet haben, versprochen, dass ich gerne zum nächsten Jahresempfang kommen werde. Dieses Versprechen konnte ich heute glücklicherweise ordentlich einhalten.
Ich habe auch die Freude, diese Gelegenheit nutzen zu können, ein herzliches Dankeschön an Sie alle zu richten, die Sie an der Entwicklung eines Nationalen Aktionsplans mitarbeiten, den wir in Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention verabschieden wollen. Das ist ein hartes Stück Arbeit. Auch nach der Verabschiedung wird immer noch viel zu tun bleiben, aber ich glaube auch, dass diese UN-Konvention für die Belange der Menschen mit Behinderungen von ungeheurer Bedeutung ist.
Deutschland hat diese UN-Konvention als einer der ersten Staaten unterzeichnet und ratifiziert. Das haben wir aus Überzeugung getan, denn wir glauben, dass diese Konvention ein bedeutender Schritt ist. Die Rechte für die weltweit rund 690Millionen Menschen mit Behinderungen werden mit dieser Konvention erstmals verbindlich festgelegt. Sie macht die Menschenrechtscharta der Vereinten Nationen für Menschen mit Behinderungen ganz konkret.
Ich glaube, dass wir uns angesichts dieser Tatsache auch noch einmal vor Augen führen sollten, dass diese Menschenrechtscharta einer der größten Erfolge internationaler Kooperation war. Damals, kurz nach dem Zweiten Weltkrieg, in einer für die Welt schier aussichtslosen Situation, haben sich viele Staaten der Erde zusammengeschlossen und sich auf die Festlegung grundlegender Rechte für Menschen für jeden Menschen geeinigt. Es wurde dann höchste Zeit, dass dies für Menschen mit Behinderungen spezifiziert wurde.
Jetzt geht es natürlich darum, auf der Grundlage der UN-Konvention, die ja erst einmal nur ein Stück Papier ist, etwas Lebendiges hinzuzubekommen. Die Konvention ist also so etwas wie ein politischer Impulsgeber. Im Zentrum steht dabei die gleichberechtigte Chance der Teilhabe am politischen, gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und kulturellen Leben. Wenn wir als Regierung den Nationalen Aktionsplan verabschieden werden, wird es natürlich auch eine breite parlamentarische Beratung geben. Hier ist eine ganze Reihe Parlamentarier vertreten, die ich natürlich auch ganz herzlich begrüße.
In Deutschland leben 8, 7Millionen Menschen mit Behinderungen das sind mehr als zehn Prozent der Bürgerinnen und Bürger. Ich wage die Behauptung, dass das vielen gar nicht so bewusst ist. Deshalb ist es auch unsere Aufgabe, diese Tatsache immer wieder in das Blickfeld zu rücken. Teilhabe, das ist für Sie, die Sie Behinderungen haben, zuvorderst ein tägliches Erlebnis: Habe ich teil oder nicht? Ich glaube, dass viele, die keine Behinderungen aufweisen, gar nicht nachvollziehen können, an welchen Stellen Teilhabe eingeschränkt ist, und wie viel Gedankenlosigkeit es noch gibt.
Deshalb ist der Dialog mit denjenigen, die Behinderungen haben, so außerordentlich wichtig und insofern auch die Aufgabe des Beauftragten für die Belange der Menschen mit Behinderungen. Ich glaube, über Hubert Hüppe sagen zu dürfen ich hoffe, dabei in Ihrer aller Namen zu sprechen; so habe ich ihn jedenfalls immer kennen gelernt: Er hat nicht nur das Herz am rechten Fleck, sondern er ist auch unermüdlich und nachhaltig bohrend, wenn es um die Belange und die Teilhabe von Menschen mit Behinderungen geht. Herzlichen Dank dafür, Hubert.
Nun ist es ganz wichtig und daran entscheidet sich vieles in unserer Gesellschaft, ob die Teilhabe der Menschen mit Behinderungen als so etwas wie ein karitativer Akt oder als eine Selbstverständlichkeit bei der Umsetzung dessen angesehen wird, was unser Artikel1 im Grundgesetz aussagt, nämlich dass die Würde des Menschen unteilbar ist. Das muss für uns zu einer Selbstverständlichkeit werden, aber das ist es oft noch nicht.
Ich persönlich viele von Ihnen wissen das habe meine Kindheit auf dem Gelände einer diakonischen Einrichtung der evangelischen Kirche in der DDR verbracht, wo es um Menschen mit geistiger Behinderung ging. Ich habe die Philosophie der Bodelschwinghschen Anstalten, die Idee der Werkstätten kennen gelernt und habe meine limitierten praktischen Fähigkeiten als Kind in der Gärtnerei, in der Schlosserei und in der Tischlerei einer solchen Behindertenwerkstatt so würde man es heute bezeichnen einsetzen können. Ich habe bitter erleben müssen, dass sich die Kirchen in der DDR nur um diejenigen kümmern durften, die als nicht bildungsfähig eingestuft waren, und dass alle, denen man Bildungsrezeption zutraute, vom Staat betreut wurden und der Kirche sozusagen nicht mehr anheim gestellt wurden. Das war schon ein sehr hartes System. Ich habe gesehen, wie Kinder aufbewahrt wurden, als man noch nicht die vielen Möglichkeiten kannte, die man heute hat, um Menschen zu zusätzlichen Fähigkeiten, Fertigkeiten und Möglichkeiten der Teilhabe zu verhelfen. Wenn wir über die Deutsche Einheit sprechen, dann werden oft diverse Zahlen, Fakten und Statistiken angeführt, aber was auf diesem Gebiet geleistet wurde, ist ein wirklich gutes Stück Deutscher Einheit, das zum einen selbstverständlich ist, das sich zum anderen aber auch wirklich sehen lassen kann und bei dem ich sage: Gut, dass es heute anders ist.
Nun ist in Deutschland sicherlich vieles gut, wir können uns auch eine Weile daran aufrichten, aufzuzählen, was alles besser als in anderen Ländern ist. Dennoch ist das absolut noch nicht ausreichend. Das zeigen mir persönlich auch immer wieder Gespräche mit den Verbänden, die sich um Menschen mit Behinderungen kümmern. Es gibt viel zu kämpfen, es gibt noch viel aufzuarbeiten. Unwissenheit, Vorurteile und manchmal auch Berührungsängste sind das, was vielen im täglichen Leben entgegenschlägt.
Es stellt sich aber auch die Frage: Können wir es schaffen, Zugang und Teilhabe in allen Bereichen zu ermöglichen? Oft sind Rationalisierungsmaßnahmen, die wir uns vornehmen die wir manchmal auch vornehmen müssen, weil begrenzte Mittel auch nur einmal ausgegeben werden können, gerade für Menschen mit Behinderungen mit besonderen Folgen verbunden. Ich werde nie vergessen, wie wir in einem Gespräch mit den Verbänden auf die Frage zu sprechen kamen, was unsere Gesundheitsreformen hervorgerufen haben. Diese sahen beispielsweise kollektive und damit weniger Bestellungen vor. Beim Einzelnen brachten dann aber Quartalslieferungen bei einer 55-Quadratmeter-Wohnung zum Teil erhebliche Aufbewahrungsprobleme mit sich. Was auf dem Papier ganz gut aussieht, kann sich also in der Praxis und im täglichen Leben oft als extrem untauglich erweisen. Deshalb ist das Miteinandersprechen auch von wirklich großer Bedeutung.
Der Aktionsplan, um den wir uns jetzt kümmern, hat einen Zeitrahmen von zehn Jahren. Ich glaube, es ist gut, dass wir langfristig und umfassend denken. Es geht dabei um Teilhabe im Sinne von Inklusion. Alle, die hier im Haus sind, verstehen, was Inklusion ist. Wenn man draußen davon spricht, ist das wahrscheinlich etwas schwieriger, denn nicht alle 80Millionen wissen genau, was man nun mit Inklusion meint. Ich glaube, dass es wichtig ist, dass wir sagen: Inklusion heißt nicht, dass derjenige, der als Mensch mit Behinderungen einen Anspruch hat, jetzt aufgefordert wäre, alles zu schaffen, sondern Inklusion heißt, dass wir alle in unserer Gesellschaft aufeinander zugehen und versuchen, das eine oder andere Problem zu lösen. Es geht also nicht um die Bringschuld derer, die Behinderungen haben, sondern es geht um einen Auftrag an uns alle.
Ich glaube, damit steht der Aktionsplan für einen Paradigmenwechsel. Das heißt, dass wir Behinderung auch als Form der Vielfalt menschlichen Lebens verstehen. Wir alle wissen ja, wie fließend die Übergänge sind zwischen dem, was wir als "ohne Behinderung" oder als durchschnittliche Fähigkeit, abhängig von der jeweiligen Altersstufe, ansehen, und dem, was von diesem Durchschnitt abweicht. Jeder von uns hat ja in irgendeiner Weise irgendeine Abweichung. Gerade das macht Vielfalt aus. Deshalb ist es ganz wichtig, dass wir das von dieser Perspektive aus betrachten.
Viele von Ihnen haben schon immer dafür Sorge getragen, dass Hürden abgebaut werden, um Teilhabe zu erleichtern. Das findet jeden Tag vor Ort an verschiedenen Stellen statt in den Kommunen, bei den Sozialpartnern, in der Zivilgesellschaft. So muss auch der Aktionsplan verstanden werden. Gleichzeitig ist es so, dass wir auch ein paar Visionen brauchen. Ohne Visionen geht es nicht. Deshalb ist es gut, dass wir zwölf Handlungsfelder und mehrere Querschnittsthemen identifiziert haben, an denen entlang der Aktionsplan entwickelt wird.
Ich verrate nicht zu viel, wenn ich sage, dass das alles in der Umsetzung nicht ganz trivial ist. Wir kennen das ja: Die Kommunen werden sagen "Nur wenn der Bund uns Geld gibt", die Länder werden sagen "Nur wenn der Bund uns Geld gibt", der Bund wird sagen "Blickt auf unseren Schuldenstand, denkt an die Schuldenbremse". Das heißt, es wird wichtig sein, dass man das Ganze nicht wie eine heiße Kartoffel hin und her schiebt, sondern dass sich jeder überlegt, was er oder sie beitragen kann, um das Ganze zum Gelingen zu bringen. Deshalb will ich diesen Empfang auch nicht damit verbringen, zu sagen, dass es den Kommunen eigentlich nicht so schlecht geht und was wir alles für die Kommunen gemacht haben usw. das wissen Sie alles. Wichtig ist vielmehr, dass zum Schluss für die Menschen mit Behinderungen etwas herauskommt.
Ein Thema, das im Zusammenhang mit Teilhabe von allergrößter Wichtigkeit ist, ist die Beteiligung am Erwerbsleben. Wir haben eine Arbeitsmarktlage, die besser ist, als wir sie viele, viele Jahre lang hatten. Deshalb wird die Bundesregierung auch die Gespräche weiterführen, um hier eine bessere Beteiligung und das Mitmachen von Menschen mit Behinderungen zu ermöglichen. Dabei geht es an vielen Stellen auch um die Kreativität von Arbeitgebern und Gewerkschaften. Da wird sich zeigen, dass man mit einer Offensive auch wirklich viel erreichen kann. Ich selber habe Betriebe besucht, in denen Menschen mit Behinderungen tätig sind. Es gibt ganz tolle Beispiele, aber es gibt an vielen Stellen eben auch die Ansicht: Das geht nicht, das hatten wir noch nie, das wird auch deshalb nichts; und wer weiß, wie verlässlich das alles ist, wie viele Kosten uns entstehen usw. Deshalb wird es ganz wichtig sein, dass wir hier in unseren Anstrengungen nicht nachlassen. Es gibt gute Gespräche zwischen Ländern und Sachverständigen der Integrationsämter,"Job4000" ist ein wirksames Programm mal sehen, was daraus noch wird.
Auf jeden Fall ist es wichtig, dass wir dies alles als unsere gemeinsame Aufgabe ansehen nicht nur die Ministerin, die sich mit Arbeits- und Sozialfragen beschäftigt, nicht nur der Beauftragte der Bundesregierung für die Belange der Menschen mit Behinderungen, sondern eben möglichst viele in der Bundesregierung. Deshalb wird der Aktionsplan für uns auch eine Möglichkeit sein, mit allen Ressorts, vom Verkehrsministerium bis zum Wirtschaftsministerium, noch einmal darüber zu sprechen und sich zu überlegen: Was können wir dazu beitragen, dass es besser geht?
Gesetze sind wichtig, Aktionspläne sind wichtig, Regelungen sind wichtig das ist sozusagen das Schwarzbrot des Umgangs, aber ganz wichtig ist auch die innere Einstellung die Einstellung, dass Vielfalt unsere Gesellschaft bereichert und dass jeder zu dieser unserer Gesellschaft gehört, egal, ob er älter oder jünger ist, ob er ein Mensch mit oder ohne Behinderungen ist. Das ist das, das zählt und das unser gemeinsames Denken sein muss. Die UN-Konvention erinnert uns daran, der Aktionsplan bringt uns auf Trab. Lassen Sie uns das alles auch wirklich mit Leben erfüllen. Ich bin gerne bereit, lieber Hubert Hüppe, irgendwann es muss nicht jedes Jahr sein wieder hierher zu kommen und mir anzuhören, was aus diesem Aktionsplan geworden ist.
Noch einmal herzlich willkommen im Namen der Bundesregierung und herzlichen Dank dir, Hubert Hüppe, für deine unermüdliche Arbeit. Du stehst dafür, dass wir dieses Thema nicht vergessen, auch wenn wir einmal mit etwas anderem beschäftigt sind. Herzlichen Dank dafür, dass ich heute dabei sein darf.