Redner(in): Angela Merkel
Datum: 14.04.2011

Untertitel: in Berlin
Anrede: Sehr geehrter Herr Generalsekretär, lieber Anders Fogh Rasmussen, sehr geehrter Herr Kollege, lieber Guido Westerwelle, verehrte Ministerinnen und Minister, sehr geehrte Damen und Herren,
Quelle (evtl. nicht mehr verfügbar): http://www.bundesregierung.de/nn_1498/Content/DE/Rede/2011/04/2011-04-14-merkel-nato-aussenminister-empfang,layoutVariant=Druckansicht.html


ich freue mich sehr, Sie heute in Berlin begrüßen zu können. Ich möchte meinen besonderen Dank den gemeinsamen Gastgebern, Generalsekretär Rasmussen und Außenminister Westerwelle, aussprechen.

Ursprünglich standen die Umsetzung der Beschlüsse des Gipfels von Lissabon, die Situation in Afghanistan und weitere wichtige Fragen auf der Tagesordnung der diesjährigen Frühjahrstagung. Sie waren der Anlass für das heutige Treffen hier in Berlin. Dann rückten die Entwicklungen in der arabischen Welt und ganz besonders die in Libyen in den Mittelpunkt. Deshalb will auch ich direkt damit beginnen.

Am 17. März hat der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen die Resolution 1973 verabschiedet. In ihr wird zu einem sofortigen Waffenstillstand und zu einem Ende der Gewalt in Libyen aufgefordert. Mit dieser Resolution hat die Staatengemeinschaft ihre Entschlossenheit deutlich gemacht, dem Krieg Gaddafis gegen sein eigenes Volk ein Ende zu bereiten. Diese Entschlossenheit wurde auf einer von Frankreich anberaumten Dringlichkeitssitzung der internationalen Staatengemeinschaft am 19. März in Paris unterstrichen. Auch das Kontaktgruppentreffen in Doha gestern hat dies einmal mehr in besonderer Weise betont. Weil uns genau diese Entschlossenheit eint, sage ich: Wir alle teilen die Ziele der Resolution 1973. Wir teilen diese Ziele uneingeschränkt, unabhängig von Enthaltung oder Zustimmung. Die Resolution gilt. Die internationale Staatengemeinschaft steht zusammen.

Jeder von uns leistet vielfältige Beiträge, um diese Resolution erfolgreich durchzusetzen, militärische wie nicht-militärische. In diesem Zusammenhang steht auch die Diskussion, Verantwortung bei der Unterstützung humanitärer Hilfslieferungen im Rahmen einer EU-Operation zu übernehmen, sofern eine Anfrage der UNO vorliegt und die konkreten Bedingungen geklärt sind. Den Ergebnissen dieser Beratungen kann und will ich hier nicht vorgreifen. Im Ergebnis das ist wichtig muss und wird eine politische Lösung für Libyen stehen, eine politische Lösung, die dem libyschen Volk die Freiheit und Würde gibt, die das Gaddafi-Regime ihm vorenthält.

Deshalb wird es wichtig sein, die neuen politischen Kräfte auch politisch zu unterstützen, zum Beispiel durch unsere politischen Stiftungen oder indem wir unsere Erfahrungen in die Wahlprozesse einbringen. Wir müssen wirtschaftliche Hilfe in der ganzen Region leisten. Unternehmen sollten investieren, Arbeitsplätze schaffen, bei der Ausbildung der Jugend helfen. Denn es darf nicht passieren, dass Menschen ihre Heimat verlassen, weil sie bei sich zu Hause keine wirtschaftliche Perspektive sehen, obwohl sie dort für einen politischen Neuanfang und für einen demokratischen Aufbruch gerade jetzt dringend gebraucht werden.

Ich wünsche mir, dass all diese Fragen, die sich für die Umsetzung der Resolution 1973 zur Zukunft Libyens stellen, im Rahmen dieser Tagung diskutiert werden, aber dass natürlich auch alle Fragen, die sich im arabischen Raum insgesamt stellen, in einer breiten gemeinsamen politischen Diskussion einer Lösung zugeführt werden.

Meine Damen und Herren, wir führen diese Diskussion vor dem Hintergrund weitreichender Beschlüsse, die wir erst vor wenigen Monaten beim Gipfel in Lissabon getroffen haben.

In Lissabon ist es erstens gelungen, das Bündnis mit der Verabschiedung des strategischen Konzepts auf ein neues Fundament zu stellen. Das neue Konzept trägt neben der fortbestehenden Kernfunktion der Bündnisverteidigung den tief greifenden Veränderungen im sicherheitspolitischen Umfeld der Allianz Rechnung. Dabei geht es um Krisenmanagement und die konsequente Umsetzung des vernetzten und umfassenden Sicherheitsansatzes. Außerdem geht es um neue Herausforderungen wie Cyber- oder Energiesicherheit.

Zweitens haben wir in Lissabon zusammen mit unseren afghanischen Partnern die Richtung für unser künftiges Afghanistan-Engagement festgelegt. Die erfolgreiche Umsetzung des Prozesses einer Übergabe in Verantwortung ist von entscheidender Bedeutung für den Erfolg der Mission und die Zukunft Afghanistans.

Drittens haben wir in Lissabon als Reaktion auf neue Bedrohungen ein NATO-Raketenabwehrsystem beschlossen, bei dessen Aufbau wir so eng wie möglich mit unseren russischen Partnern zusammenarbeiten wollen.

Wir stellen uns als Bündnis den sicherheitspolitischen Herausforderungen unserer Zeit nicht alleine, sondern gemeinsam mit einer Vielzahl von Partnern. Das gilt zum Beispiel auch für Abrüstung und Rüstungskontrolle, für die der begonnene Überprüfungsprozess des NATO-Abschreckungssystems eine besondere Rolle spielt. Das gilt gerade auch für die neuen globalen Herausforderungen: Cyber-Sicherheit, Proliferation von Massenvernichtungswaffen, Piraterie oder Terrorismus.

Meine Damen und Herren, dieser Empfang findet heute hier in Berlin statt, in der Stadt, in der vor mehr als 21Jahren die Mauer fiel. Diese Mauer teilte die Stadt in menschenverachtender Weise. Sie teilte Familien. Sie teilte ein Land. Sie teilte als Eiserner Vorhang einen ganzen Kontinent. Nur wenige Meter von hier steht das Brandenburger Tor. Dieses Brandenburger Tor und die Berliner Mauer sie waren Symbole der Teilung Deutschlands und Europas während des Kalten Krieges. Das Brandenburger Tor ist heute Symbol von Einheit und Freiheit unseres Kontinents. Deshalb kann dieser Empfang nicht zu Ende gehen, ohne daran zu erinnern, dass es ganz wesentlich die Standfestigkeit der NATO war, die zum Fall der Mauer und zum Sieg der Freiheit beigetragen hat.

Mehr als 20 Jahre sind seit diesen epochalen Veränderungen in Europa vergangen. Heute sind wir wieder Zeuge eines historischen Umbruchs, diesmal in der arabischen Welt. Der Gang der Ereignisse beider Entwicklungen ist historisch nicht einfach vergleichbar. Aber eines galt damals in Europa, wie es heute gilt, von Syrien bis Jemen, von Tunis bis Kairo: die Sehnsucht der Menschen nach Freiheit, Menschenwürde, Selbstbestimmung sie ist unser Antrieb. Die Kraft der Freiheit ist stärker als alle Unterdrückung. Ich habe es vor 21Jahren am eigenen Leib erfahren dürfen.

Seit dem Ende des Kalten Krieges vor mehr als zwei Jahrzehnten hat unsere Welt einen weiten Weg zurückgelegt und dabei gerade auch unser Bündnis. Eines aber hat sich bei allen politischen Entwicklungen nicht geändert: Die NATO ist und bleibt auch im 21. Jahrhundert der stärkste Anker unserer Sicherheit und der Rahmen unserer engen transatlantischen Wertegemeinschaft. So tragen wir weltweit aus Überzeugung gemeinsam Verantwortung vom Balkan bis Afghanistan.

Für den weiteren Verlauf dieser Tagung wünsche ich Ihnen deshalb gute und konstruktive Diskussionen, und zwar im Geiste des lateinischen Satzes, der an der Wand des NATO-Saales in Brüssel hinter dem runden Tisch zu lesen ist: "Animus in consulendo liber". Frei übersetzt: Hier beraten freie Geister. In diesem Sinne: Viel Erfolg und vielen Dank.