Redner(in): Angela Merkel
Datum: 29.06.2011

Untertitel: in Berlin
Anrede: Meine Damen und Herren, lieber Herr Flosbach, liebe Kolleginnen und Kollegen,
Quelle (evtl. nicht mehr verfügbar): http://www.bundesregierung.de/nn_1498/Content/DE/Rede/2011/06/2011-06-29-merkel-Kongress,layoutVariant=Druckansicht.html


liebe Gäste dieses bemerkenswerten Kongresses,

ich glaube, wenn man sich das Programm anschaut: Besser kann man die Fachwelt gar nicht versammeln. Wenn man sich den Zeitpunkt anschaut: Gelegener kann der Kongress nicht kommen mit Blick darauf, für welche Entscheidungen wir uns noch rüsten müssen. Insofern herzlichen Glückwünsch für Ort und Zeitpunkt der Veranstaltung. Die Frage aber, was ich jetzt noch als Bundeskanzlerin beitragen kann eingetaktet zwischen Statements des Finanzministers, der Fachwelt und der auf weiteren Podien, ist gar nicht so einfach zu beantworten. Herr Flosbach meinte, manches sei, wenn es zweimal gesagt wird, auch nicht schlecht. Das kann ich Ihnen jetzt vielleicht auch nicht ersparen, aber das Thema bewegt uns ja auch ausreichend.

Ich fange mit einer kurzen Bemerkung zu dem an, was Herr Ackermann eben zum Schluss gesagt hat. Ich persönlich neige als nicht ausgebildete Finanzwissenschaftlerin dazu, Ihrer Argumentation zu folgen, die ja nicht nur von Ihnen, sondern von vielen dargelegt wird. Ich habe es aber in meiner politischen Arbeit selten erlebt, dass parallel zu einer Veranstaltung wie dieser und parallel zu dieser Argumentation eine sich auch für eine Fachwelt haltende Gruppe andere, völlig entgegengesetzte Thesen vertritt. Sie können sich vorstellen, dass diese Situation für uns als Politikerinnen und Politiker, die jetzt zu entscheiden haben, extrem schwierig ist. Es vergeht kein Tag, an dem wir eine Nicht-Wirtschaftszeitung aufschlagen, in der nicht steht, dass man nun endlich einmal den Mut haben müsste, zu einer anständigen Restrukturierung zu kommen. Wir haben hochvermögende Wirtschaftsinstitute und Ratgeber, die uns sagen, dass das alles sowieso keinen Sinn habe, die nicht die These vertreten, dass ein Erkaufen von Zeit und das Herbeiführen von Beruhigung auch eine vernünftige Lösung sein könnten, und die immer wieder argumentieren, man dürfe schlechtem Geld nicht gutes Geld hinterherwerfen, was geradezu aberwitzig sei.

Ich darf Ihnen sagen: Hier im Deutschen Bundestag macht es sich ja kein Abgeordneter mit einer Entscheidungsfindung leicht. Aber unter diesen sich widersprechenden Botschaften die richtige Antwort zu finden, ist wirklich erst recht nicht einfach, weil es im Übrigen auch um Dimensionen geht, die wir sonst nur im Zusammenhang mit dem Gesamtbudget eines ganzen Jahres für den Bundeshaushalt beackern. Ansonsten drehen sich die politischen Auseinandersetzungen eher um zwei Millionen, fünf Millionen, 50 Millionen oder 500 Millionen Euro; vielleicht geht es auch einmal um eine Milliarde Euro. Aber die Milliarde ist seit 2008 in bestimmten Bereichen sozusagen zu einer üblichen Einheit geworden; und das war sie für uns früher nicht.

Damit werfe ich auch schon einen Blick auf das, was sich schlichtweg dramatisch verändert hat. Ich habe nicht vergessen, dass mir während meines Urlaubs im Sommer 2007 der heutige Bundesbankpräsident eine SMS schickte "Die IKB ist in Schwierigkeiten" und ich kurz vor Beginn einer Oper in Salzburg zurückfragte: "Was ist die IKB?" Das war nun nicht gerade Ausdruck meiner detaillierten Sachkenntnis, aber die IKB war bis dahin nie auffällig geworden, sie hatte gut funktioniert. Das war sozusagen mein Einstieg in eine völlig neuartige Beschäftigung.

Dann gab es die Bankenkrise mit ihrem Höhepunkt Ende 2008. Dann gab es die Krise der Realwirtschaft dieses Wort hatte ich im Unterschied zu "Finanzwirtschaft" bis dahin auch noch nicht gehört, bei der wir uns überzeugen lassen haben, dass massive Konjunkturprogramme aufzulegen sind. Dann kam das, was ja für denjenigen, der eine Runde weiter dachte, absehbar war, nämlich dass zumindest ein Teil der Staaten diese massiven Konjunkturprogramme eigentlich nicht tragen konnte. Es kam also zu einer Schuldenkrise einiger Staaten, die uns insbesondere im europäischen Raum vor völlig neue Herausforderungen gestellt hat.

Das heißt, parallel zu dem, was wir sozusagen für die Regulierung der Finanzmärkte tun müssen, haben wir unentwegt weitere Entwicklungen der Krise zu beackern auch im aktuellen Tagesgeschehen. Wir arbeiten sozusagen immer an der Beseitigung der Sünden der Vergangenheit und gleichzeitig an der Schaffung der Architektur der Zukunft. Auch das ist extrem schwierig, wenn man noch keinen Rückblick machen kann und noch nicht weiß, wie die neuen Instrumente wirken. Ich hoffe, dass wir wenigstens über die CDS in Zukunft etwas besser Bescheid wissen. Auch diesbezüglich muss eine einheitliche Regulierung international noch ganz abgeschlossen werden. Es ist ja eine der Lehren, dass man nicht mehr dahin kommt, sagen zu müssen: Wir wissen zwar, wer die Anleihen hat, aber wer die Versicherung darauf hat, davon haben wir keine Ahnung; das können ganz andere Stellen sein; leider können wir Ihnen dazu nichts berichten.

Ich sage: Wir werden diese Krise meistern. Sie ist noch nicht in allen Facetten überwunden. Aber diese Krise darf sich auf absehbare Zeit in dieser Art nicht wiederholen, sonst wird es extrem schwierig, politische Stabilität zu garantieren; und das nicht nur bei uns. Das ist die eigentliche Aufgabe, die jeder kennen muss, der gerne in einem stabilen Land wirtschaftet. Deshalb verstehe ich auch, dass Sie uns die Hand reichen, aber nicht gerne die Hand reichen wollen. Aber ich sage: Wenn Sie gerne weiter in stabilen Ländern arbeiten wollen, dann reichen Sie sie uns; und reichen Sie sie uns auch ein bisschen gerne. Denn wir wollen ja alle, dass sich die Welt insgesamt vernünftig entwickelt.

Wir haben in dieser Finanzkrise gelernt das ist übrigens ein positiver Effekt, viel globaler zu denken. Das ist etwas, das die Wirtschaft schon sehr viel früher gelernt hatte. Das ist uns als Mitgliedern des Bundestages und als politisch Agierenden nun auch sehr viel mehr in Fleisch und Blut übergegangen. Wir wissen heute besser Bescheid über internationale Interdependenzen. Jetzt geht es bei der Bewältigung der Vergangenheit um die Frage: Wie ist das mit der Lastenteilung? Wenn wir schon die Lasten der Vergangenheit nicht neu aufteilen können, dann müssen wir wenigstens einigermaßen Sicherheit in Bezug auf die Lastenverteilung der Zukunft haben.

Es wird oft gesagt, die Banken und die Finanzwelt seien schuld an der Krise gewesen. So einfach dürfen wir es uns natürlich auch nicht machen. Es gab keine politische Rahmenbedingungen ich will hier jetzt nicht ins Detail gehen, die so angelegt waren, dass sie uns bewusst und sehenden Auges in eine Krise haben führen können. Das Management des Häusermarktes, das Vermieten von Häusern und das Verkaufen von Häusern das ist etwas, das man eigentlich seit Jahrhunderten macht. Aber das, was in diesem Bereich zum Beispiel in den Vereinigten Staaten von Amerika schließlich gemacht wurde, war ein bewusstes Wachstumsstimulierungsprogramm auf Pump. Deshalb kann man jetzt nicht allein zu denen, die von den Möglichkeiten Gebrauch gemacht haben, sagen, dass das schlecht war. Es war schlecht, aber man muss auch denen, die es versäumt haben, Regulierungen zu treffen, oder bewusst keine getroffen haben, sagen: Sie haben daran mitgearbeitet. Insofern ist die Schuldfrage sozusagen zwischen Politik und Finanzwelt zweigeteilt.

Aber es ist jetzt wichtig das ist jedenfalls für mich die Lehre aus der Krise, und das haben wir immer wieder so gesagt: Jeder Finanzplatz, jedes Finanzprodukt und jeder Akteur muss zukünftig einer Regulierung unterliegen. Das Interessante daran ist: Das muss weltweit passieren. Die erste Frage, die man stellen muss, lautet: Wer fällt eigentlich solche weltweiten politischen Entscheidungen und wo sind die Institutionen, die das wirklich können und es auch überwachen? Deshalb ist es sehr ermutigend, dass wir damals in der Bankenkrise umgehend das Format der G 20 auf die Staats- und Regierungschefs erweitert haben, dass in dieser G 20-Gruppe auch die Vertreter bzw. die Präsidenten internationaler Organisationen wie IWF, OECD, Welthandelsorganisation und ILO mitwirken, dass es gelungen ist, diese G 20 relativ unauffällig auch so fortzuentwickeln, dass die relevanten Regionen der Welt darin vertreten sind und das, was entschieden wird, auch in ihre Regionalgruppen weitertragen können, dass der IWF tendenziell gestärkt worden ist und dass auch das Financial Stability Board eine herausragende Arbeit in Bezug auf vielerlei Regulierungsfragen gemacht hat.

Wenn Beschlüsse aus der Empfehlungswelt, weil die G 20 ja noch keine bindende Institution darstellt, in die Umsetzungswelt gehen, dann kommen wir natürlich wieder auf die Ebene der nationalen Zuständigkeit zurück. Dann erleben wir erst einmal, dass gewisse Grundsätze der Finanzmarktaufsicht recht unterschiedlich behandelt werden von den Vereinigten Staaten von Amerika bis Europa und dass es weltweit auch noch einige Lücken gibt, auf die man ausweichen könnte, wenn man es unbedingt darauf anlegte, sich diesen Regulierungen nicht zu unterwerfen. Da wir ja nun immer hören, dass wir auf der einen Seite ein "level playing field", wie es so schön heißt, brauchen, aber auf der anderen Seite auch keine inhaltliche Abstimmung über die Regulierung von Hedgefonds mit dem amerikanischen Kongress durchführen können, stehen wir vor einem ziemlich komplizierten politischen Problem: Auf der einen Seite haben wir unsere Vorstellung davon, was richtig ist, und auf der anderen Seite müssen wir Kompromisse eingehen, wenn wir ein gemeinsames Wettbewerbsfeld gestalten wollen. Dabei kann man durchaus die Beobachtung machen: Je wichtiger der Finanzplatz, desto größer auch der Einfluss auf die jeweilige Regulierung. Dann kommt vielleicht zum Schluss heraus, dass sich Deutschland dabei benachteiligt sehen könnte. Denn wir stehen in dem Gewissenszwiespalt, das, was wir für richtig erachten, zu tun oder den international kleinsten gemeinsamen Nenner zu suchen und sich anschließend Vorwürfe machen zu lassen, dass man hier etwas nicht getan habe.

Ich glaube, einige Dinge sind hervorragend gelungen. Die Verhandlungsgeschwindigkeit bei Basel III war bemerkenswert. Da aber selbst Basel II in den Vereinigten Staaten von Amerika bis heute nicht umgesetzt worden ist, muss man natürlich die Frage stellen, ob es so schnell, wie es verhandelt wurde, auch umgesetzt werden wird. Wenn der eine das bis in die letzte Sparkasse hinein umsetzt und der andere nur für seine fünf größten Banken, dann ist auch noch kein gemeinsames Wettbewerbsfeld erzeugt worden. Ich plädiere deshalb dafür, dass wir eine sehr viel bessere Zusammenarbeit nationaler Parlamente zum Beispiel auch mit dem Abgeordnetenhaus der Vereinigten Staaten von Amerika und auch mit dem Europaparlament brauchen. Es reicht nicht, dass nur Regierungen und Staats- und Regierungschefs zusammensitzen, sondern wir brauchen auch Entscheidungen auf parlamentarischer Ebene. Das wird nicht gleich Erfolge zeitigen, aber wenn man global wirken will, dann muss man diese Kontakte aus meiner Sicht intensivieren.

Wir haben in Deutschland einiges recht gut und auch als Vorreiter gemacht, wenn ich etwa an das Restrukturierungsgesetz für Banken denke, das auch ein Modell für Europa ist. Es ist richtig, die Bankenabgabe so zu gestalten, dass sie zur Behebung eventueller Schäden in der Zukunft herangezogen wird. Manch einer in Europa wird sie aber zur Haushaltssanierung oder zu anderem nutzen wollen. Ich glaube also, dass es gut wäre, sich einen Absicherungsfonds für die Zukunft zu schaffen. Aber man muss auch sagen: Wenn Basel III wirklich überall konsequent umgesetzt werden würde, dann hätten wir eine noch größere Sicherung, weil wir es dann gar nicht erst zu einem Schaden kommen ließen.

Hinsichtlich der gesamten Frage, wie es mit der Restrukturierung von Banken aussieht, gibt es weltweit noch erhebliche Lücken. Wir haben im G 20-Prozess mit einer Lückenschließung begonnen, aber bis zur konkreten Umsetzung in allen relevanten Nationen wird es noch eine ganze Weile dauern. Man wird uns das Jahr 2011 neigt sich seiner Halbzeit zu; und im Herbst wird der nächste G 20-Gipfel stattfinden irgendwann im Jahr 2012 wohl sagen: Seit 2008 werdet ihr doch wohl einmal zu Potte gekommen sein, so etwas zu regeln. Die Zeit, solche Regelungen wirklich zu schaffen, läuft also aus.

Ich glaube, die Transparenz bei den CDS muss erhöht werden. Worauf man mir ich sage das ganz unvoreingenommen nicht so schnell Antworten geben kann, ist die Frage: Was entsteht jetzt an Verdrängungseffekten? Wir kennen die Banken; schön. Wir haben gelernt, dass man bei Hedgefonds auch etwas tun muss. Das wurde schon schwieriger, aber damit ist man in Europa ja vorangekommen. Wir haben eine bessere Aufsicht; auch gut. Aber welche Produkte entstehen jetzt sozusagen als Ausweicheffekte, hinsichtlich derer wir wieder keinen genauen Überblick darüber haben, was passiert, und hinsichtlich derer wir mehr Transparenz brauchen? Wie schafft man also eigentlich eine Selbstregulierung, sodass alle Produkte auch die, die neu entstehen und die wir ja nicht bereits jeweils definieren können einer Überprüfung anhand bestimmter Kriterien unterzogen werden? Diesbezüglich muss man sicherlich genau aufpassen, dass wir sozusagen nicht eines Tages mit völlig neuen Produkten aufwachen und uns freuen, dass zwar keine unserer Banken betroffen ist, aber trotzdem negative Effekte auf die Realwirtschaft entstehen.

Ich würde mir wünschen, dass sich die sogenannte Realwirtschaft mindestens so leidenschaftlich um die Regulierung der Finanzmärkte kümmern würde, wie wir in der Politik es tun. Ich bin überrascht, dass sie das nicht oder nicht in diesem Maße tut, und frage mich manchmal: Wie sind die Interdependenzen zwischen denen, die Kredite brauchen, und denen, die Kredite vergeben? Aber das muss die Wirtschaftswelt letztlich selbst entscheiden. Auf jeden Fall waren ja realwirtschaftliche Institutionen, also Unternehmen, auch stark von der Finanzkrise betroffen.

Deutschland hat solche Verflechtungen durch seine Exportorientierung, die ja auch gut ist, in besonderer Weise erlebt. Ich erlebe in der Europäischen Union immer wieder, dass dadurch, dass viele Länder längst nicht so auf Exporte ausgerichtet sind, das Gefühl für den Druck und den weltweiten Wettbewerb nicht ausreichend vorhanden ist. Deshalb war es wichtig, dass wir auch über die Finanzmarktregulierung hinaus einiges lernen, was uns für die Zukunft stabiler macht.

Dabei ist auf der einen Seite die Wettbewerbsfähigkeit Europas gefragt und auf der anderen Seite die Frage der Verteilung der Lasten der Krisenbewältigung. Auf die Lastenverteilung will ich jetzt einmal nicht so sehr eingehen. Ich glaube, dass es absolut richtig und notwendig ist, dass wir versuchen, auf der Zeitachse mehr und mehr auch eine Lastenbeteiligung der wirtschaftlichen Akteure zu erreichen. Das kann nicht anders sein. Es gibt überall Versicherungsnotwendigkeiten, damit nicht zum Schluss der Steuerzahler für Fehlentwicklungen zahlen muss. Ich sehe ein, dass man das erlernen muss. Aber ich glaube, dass, wenn wir nicht ein bisschen Druck machen, dann eher weniger als mehr passieren wird. Insofern ist das eine Gratwanderung, die wir jetzt unternehmen. Insofern bin ich auch davon überzeugt, dass wir gut daran tun, mit allen Betroffenen zu sprechen.

Aber ich sage auch ganz klar: Als Politiker müssen wir den Anspruch haben, dass wir den Gestaltungsrahmen setzen und dass wir nicht immer Getriebene von irgendwelchen Marktkräften sind. Das war immer die Grundauffassung der Sozialen Marktwirtschaft. Ludwig Erhard hat gegen den BDI das Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen geschaffen und damit die Förderung des Mittelstands durchgesetzt. Hätte er die deutsche Großindustrie gefragt, wäre es zu diesem Gesetz nie gekommen. Insofern müssen wir durchaus die politische Kraft haben, zu sagen, was wir für notwendig halten. Wenn ich "wir" sage, dann sehe ich auch die große Schwierigkeit, dass man das eigentlich nicht nur national und nicht nur europäisch machen kann, sondern darüber eine weltweite Übereinkunft erzielen und dafür globale Institutionen haben muss. Deshalb glaube ich, dass die Weiterentwicklung des IWF hierbei wirklich von großer Wichtigkeit ist.

Jetzt komme ich zurück zu dem, was wir in Europa über die reine Finanzmarktregulierung hinaus gemacht haben und noch machen werden. Das ist zuerst einmal eine Schärfung des Stabilitätspakts in einer umfassenden Form, die ich für absolut notwendig halte. Wir müssen als Politiker akzeptieren, dass auch wir Entwicklungen hingenommen haben, die im Grunde genommen auf Schwierigkeiten im ersten Testfall hingewiesen haben. Wenn Sie sich die Preiswettbewerbsfähigkeit der Eurostaaten und ihre Entwicklung zwischen dem Jahr 1998 und dem Jahr 2011 anschauen, dann war das nicht erst seit 2010 oder 2011 sichtbar, sondern das konnte man 2004, 2005, 2006, 2007 und 2008 in seiner Tendenz genau erkennen. So etwas darf uns nie wieder passieren.

Deutschland ist mit der D-Mark wahrscheinlich eher überbewertet in den Euro hineingegangen und dadurch ganz am Anfang einer erheblichen Strukturanpassung unterzogen worden. Wir haben diese auch angenommen und akzeptiert. Für uns hat sich an den Zinssätzen nichts geändert. Die anderen hatten plötzlich unsere Zinssätze und damit richtig viel Kraft und Möglichkeiten, Geld eher auszugeben als einzusparen. Dazu gab es noch die schönen Struktur- und Kohäsionsfonds aus der Europäischen Union. Und schon war das Kind weit in den Brunnen gefallen. Wir werden uns auch für die nächste finanzielle Vorausschau in Europa genau überlegen müssen, worin wir unser Geld in den Kohäsionsfonds eigentlich investieren. Eine Weile lang war es nämlich sicherlich richtig, auch bei den Strukturfonds erst einmal auf die Infrastruktur zu setzen. Aber wenn irgendwann einmal alles Mögliche gebaut wurde, dann erzeugt man eher eine Immobilienblase, als dass man in irgendeiner Art und Weise noch etwas für die Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit des entsprechenden Landes tut. Das heißt, wir haben auch etliche kritische Dinge mit uns abzumachen.

Paradoxerweise erleben wir ich habe so etwas in meinen Jahren der politischen Betätigung noch nicht erlebt, dass viele Länder in Europa im letzten Jahr viele Strukturmaßnahmen durchgeführt haben. Das sind Länder, die zum Euroraum gehören, das sind Länder, die jetzt IWF-Programmen unterstehen und die nicht zum Euroraum gehören, oder es sind Länder, die sich vor dem IWF gerettet haben, indem sie alles, was der IWF ihnen gesagt hätte, allein und ohne Not gemacht haben. Das sind viele Länder Mittel- und Osteuropas: Litauen, Lettland, Rumänien und nehmen wir es einmal an und hoffen es auch Ungarn.

Wir haben viele Diskussionen geführt. Am Anfang war die Schuldenkrise des Euro im Wesentlichen einem Angriff von Spekulanten geschuldet. Inzwischen ist das Verständnis gewachsen, dass, wann immer Spekulanten angreifen wollen, sie einen Angriffspunkt haben müssen und es das Beste ist, ihnen keinen Angriffspunkt zu geben. Insofern sind Arbeitsmarktmaßnahmen, Sozialmaßnahmen, viele andere Reformen und auch umfassende Privatisierungen in Gang gesetzt worden. Wenn Sie betrachten, was die portugiesische Regierung jetzt macht, wenn Sie betrachten, was Spanien und Griechenland gemacht haben, dann ist das pro Zeiteinheit mehr als das, was über lange, lange Jahre hinweg passiert ist.

Es wäre jammerschade, wenn wir innerhalb dieses Prozess so tun würden, als wenn das, was über zehn oder zwölf Jahre aufgebaut wurde, jetzt innerhalb von zwölf Monaten beseitigt werden könnte. Da muss ich dann als jemand, der aus der ehemaligen DDR kommt, schon auch noch einmal daran erinnern, dass auch wir nach der Wiedervereinigung mit den besten Spezialisten eine lange Zeit gebraucht haben, um die Wettbewerbsfähigkeit zu verbessern, Privatisierungen durchzuführen und vieles andere zu machen. Das heißt, der Faktor Zeit bedeutet nicht einfach, gutes Geld schlechtem Geld hinterherzuschmeißen, sondern er bedeutet notwendige Zeit, um bestimmte Anpassungsmaßnahmen auch wirklich durchführen zu können. Aber es muss jetzt darauf geachtet werden, dass das auch passiert.

Es muss vor allen Dingen darauf geachtet werden, dass wir in Zukunft nicht wieder in den gleichen Trott wie früher verfallen. Dazu hat die Europäische Union mit der "Agenda 2020" einen wichtigen Beitrag geleistet. Es ist jetzt im Rat der Staats- und Regierungschefs zum ersten Mal so, dass wir uns zweimal im Jahr damit befassen, wie es mit der Wettbewerbsfähigkeit aussieht. Wenn man hierbei die Leitlinien für sein Land vorgegeben bekommt, dann gibt es wenige Ausweichmöglichkeiten. Ich erhoffe mir, dass wir dadurch wirklich zu einer zunehmenden Konvergenz der Wettbewerbsfähigkeit kommen werden, aber bitteschön damit macht sich Deutschland manchmal nicht beliebt, aber ich finde, man muss es trotzdem sagen nicht orientiert am Durchschnitt der Europäischen Union, sondern, wenn irgend möglich, an den Besten innerhalb der Europäischen Union. Unsere Rolle auf den Weltmärkten ist nämlich nicht so, dass wir unangefochten mit weiterem Vorsprung vorneweg laufen, sondern so, dass wir viele Wettbewerber und gewaltig viel Konkurrenz haben.

Das ist die Diskussion, die wir in Europa geführt haben. Ja, dabei ist es natürlich so gewesen, dass wir oft auch den letzten Zeitpunkt abgewartet haben, um Entscheidungen zu treffen. Das hat aber nicht geheißen, dass Deutschland nicht zu Solidarität bereit sei. Das hat nur geheißen, dass man auch wirklich versuchen musste, die notwendigen Strukturmaßnahmen in den Ländern zu verankern. Ich kann nur sagen: Ich finde es mutig, über was heute in Griechenland abgestimmt und hoffentlich positiv abgestimmt werden wird, denn ansonsten haben wir noch andere Probleme als die, die wir gerade miteinander besprochen haben. Ich finde das außerordentlich mutig. Ich finde es aber auch außerordentlich bedauerlich, dass sich die griechische Opposition nicht entscheiden kann, dabei mitzumachen. Das ist aus meiner und aus unserer Sicht, weil der Oppositionsführer meiner Parteienfamilie angehört, sehr bedauerlich. Ohne notwendige Anpassung und nur mit Solidarität wäre der ganzen Sache überhaupt nicht geholfen. Wir wären alle in einen Strudel geraten, der in Deutschland zwar nicht sofort in eine Abwärtsspirale unserer Staatsfinanzen geführt hätte, der uns aber mittelfristig Wettbewerbsfähigkeit gekostet hätte.

Ich bleibe auch dabei: Die Europäische Kommission und die Europäische Zentralbank sind sicherlich wichtige und auch fachlich sehr versierte Institutionen, aber es war nach meiner festen Überzeugung im Rückblick auf das letzte Jahr richtig, auch den IWF in diese Fragen einzubeziehen, weil dadurch einfach sichergestellt ist, dass ein internationaler Orientierungspunkt für solche Institutionen mit im Boot ist und dadurch nicht auch noch jedes Mal unterschiedliche Bewertungen herauskommen, wenn die EU ein Rettungsprogramm für ein Land macht und der IWF anschließend vielleicht erklärt, dass er das für nicht ausreichend, für zu schwierig, für falsch oder für sonst etwas hält. Das hätte den Märkten auch nicht gefallen. Insofern ist das also aus meiner Sicht absolut richtig.

Wir haben in der Eurozone durchaus auch auf Anregung Deutschlands hin neben der "Agenda 2020", der sich alle EU-Staaten verpflichten müssen, den sogenannten "Euro-Plus-Pakt" verabredet, in dem der Fokus soweit man das in der intergouvernementalen Zusammenarbeit verbindlich machen kann auf Lohnstückkosten, die Frage von Sozialsystemen und Weiteres gelegt wird. Das ist schwierig, weil natürlich nicht eingeübt ist, wie man sich danach richtet und ob, wenn ein Land bestimmte Dinge entscheidet, dann auch ein anderes Land das so tun soll. Aber auch hier wächst das Verständnis, weil wir jetzt alle einmal in den Abgrund geblickt haben und wissen, wo die roten Linien verlaufen.

Das heißt, wenn die Entwicklung so weitergehen wird, wie sie in den letzten zwölf Monaten verlaufen ist, dann wird sie hart sein, dann wird sie beschwerlich sein, dann wird sie für uns, weil wir den Ausgang noch nicht kennen, mit erheblichen Risiken und auch mit Garantieeinsätzen oder Finanzeinsätzen verbunden sein, die wir zu beschließen haben werden und die uns vor drei oder vier Jahren unvorstellbar erschienen wären. Aber dann werden wir die Chance haben, Europa auf einen insgesamt besseren und auch kohärenteren Kurs zu bringen. Es ist eine ganz eindeutige Aussage Deutschlands: Europa ist der Ort, an dem wir unsere Zukunft suchen müssen.

Wir haben gestern deutsch-chinesische Regierungskonsultationen durchgeführt. In China leben 1,3 Milliarden Menschen, neugierig und wissbegierig ein Land, sicherlich noch längst nicht so effizient und entwickelt wie unseres. Wir haben als größte europäische Volkswirtschaft über 80 Millionen Deutsche. Wenn wir in einer Welt von sieben Milliarden Menschen Interessen gegenüber China oder gegenüber Indien durchsetzen wollen, dann spricht alles, aber auch alles dafür, dass Europa neben dem Friedenswerk Europa auch eine Interessenvertretung mit gleicher Wertegrundlage in einer globalisierten Welt ist.

Wir als Deutsche haben von diesem Europa wirklich schon viel profitiert. Wir haben, auch was den Euro anbelangt, so viel profitiert, dass man sich die Vergangenheit, als wir alle in Europa unterschiedliche Währungen hatten, nicht zu ideal ausmalen sollte. Trotzdem hört man heute oft: Ja, als die Bundesbank noch ganz allein war, stellte sie eine ordnungspolitische Reinheit sicher, wie man sie ansonsten nicht fand. Ich sage einmal: Immerhin gab es unentwegt Stützungskäufe bei dieser oder jener Währung. In dieser internationalen Finanz- und Wirtschaftskrise hätten wir so viele Stützungskäufe durchführen müssen, dass ich gar nicht weiß, ob wir damit hinterhergekommen wären. Dann hätten wir uns wahrscheinlich spätestens in dieser Krise überlegt: Es wäre gar nicht schlecht, man hätte die gleiche Währung und würde dann einmal überlegen, wie man sie managt. Ich glaube also: Weggefallene Transaktionskosten, keine Währungsstützungskäufe mehr und ein guter gemeinsamer Binnenmarkt sind allein schon Gründe genug für den Euro.

Je weiter weg man von Deutschland kommt, umso klarer wird einem auch erklärt, was es Europa an Reputation und Kraft als wirklich wichtigem Faktor in der Welt gebracht hat, dass es neben dem Dollar noch eine zweite Leitwährung gibt. Das sollte man nicht unterschätzen. Deshalb sind viele außerhalb Europas erstens glücklicherweise davon überzeugt, dass wir die Schuldenkrise bewältigen können, und zweitens der Meinung, dass es auch in ihrem Interesse liegt, wenn es einen starken Euro und ein starkes Europa gibt. Ich könnte es jetzt etwas vereinfacht sagen: So, wie es gut ist, dass es Airbus neben Boing gibt, so ist es auch gut, dass es den Euro neben dem Dollar gibt, ohne dass wir uns gleich verheben wollen.

Dies ist jetzt unsere politische Chance, in einer schwierigen Zeit schwierigste, aber zukunftsfähige Entscheidungen zu treffen und uns dabei auch nicht ein X für ein U vormachen zu lassen. Dabei werden wir weiter in Kontakt mit der Finanzfachwelt stehen. Ich bitte aber auch einfach um Verständnis dafür, dass wir, die wir für die Millionen Steuerzahler und Menschen in unseren Ländern die Verantwortung dafür tragen, dass sie das alles verstehen und mitmachen, auch die Stimme sein müssen, die sagt: Es muss eine faire Verteilung der Lasten geben und es muss eine größtmögliche Sicherheit geben, dass sich eine solche Krise nicht wiederholt. Damit schließt sich der Kreis. Sie arbeiten ja auch gerne unter stabilen Bedingungen.

Ich habe mir einmal etwas angeschaut: Wenn man sich die Arbeitszeit pro Beschäftigtem in Europa anschaut, dann kann es schon sein, dass die Differenz der nominellen Beschäftigungszeiten gar nicht so hoch ist. Wenn man aber dann alle Streikzeiten und alles, was sonst noch an Störungen auftritt, abzieht, dann sind die stabilen Länder schon relativ effizient. Deshalb glaube ich, für die Wirtschaft die Finanzwirtschaft, die Realwirtschaft und für die Politik ist es am besten, politische Stabilität zu erhalten. Dafür arbeiten wir ja auch, aber das schaffen wir nie alleine. Soziale Marktwirtschaft hat immer deshalb gut funktioniert, weil sie jedem Teilnehmer am Markt eine Verantwortung gegeben hat und die politische Verantwortung nicht die einzige war.

In diesem Sinne bedanke ich mich für den Kongress ich habe etwas allgemeiner gesprochen, weil ich den Details sowieso nicht so sehr wie die vielen, die hier sitzen, gewachsen bin und wünsche weiterhin gute Beratungen.