Redner(in): Michael Naumann
Datum: 27.10.2000

Anrede: Anrede,
Quelle (evtl. nicht mehr verfügbar): http://archiv.bundesregierung.de/bpaexport/rede/36/22936/multi.htm


Wir treiben Politik ohne Anspruch auf Wahrheit. Jeder Politiker, der etwas anderes verspricht, ist ein Augentäuscher. Die Verantwortung, die wir tragen, reicht weit, aber die Voraussetzungen unseres Handelns ruhen nicht mehr in fundamentalen, von allen geteilten Überzeugungen. Es gibt kein religiöses Weltbild mehr, das der Politik Maß und Ziel vorgäbe, auch keine metaphysisch begründeten Werte, die ihr Sicherheit böten, schon gar keine Ideologie, die uns einen Platz in einem würdigen Projekt der Menschheitsbeglückung zuwiese.

Auf Gewissheiten dieser Art verzichten zu müssen, stellt in meinen Augen aber kein Unglück dar. Wenn aus der Politik nicht eine vollkommen innerweltliche Angelegenheit, gewissermaßen ein Hochseilakt ohne Fangnetz der Transzendenz geworden wäre, würde es heute um Freiheit und Demokratie gar nicht gut bestellt sein. Indem die moderne Politik fast vollständig die Kompetenzen auf sich gebündelt hat, Entscheidungen für die Zukunft der Gesellschaften zu treffen, hat sie sich zu einem weitgehend selbständigen sozialen Subsystem entwickelt. Das hat der Politik eine ungeheure Handlungsautonomie eröffnet. Diese Autonomie setzt sie in den Stand, auf Veränderungen schnell und verlässlich zu reagieren. Politik ist professionell geworden. Wo Fortschritt in der Vernunft keine Zielgröße des Politischen mehr sein kann und sich gleichzeitig Entscheidungszwänge dramatisch beschleunigen, sind auch die zweitbesten Lösungen nicht mehr ohne Reiz: Konsens, Kompromiss, Kooperation.

Doch die Selbständigkeit des Politik-Systems bedeutet auch Selbstbezogenheit. Sie hat den politischen Apparat ein gehöriges Stückweit vom gelebten Leben entfernt. Heute ist Politik vielfach mit Verfahrensfragen befasst, bewältigt Unerledigtes oder Unbestimmtheiten, die der politische Apparat selbst hervorbringt. Politik arbeitet sich manchmal an Konflikten ab, die nur für den politischen Betrieb selbst Dramatik aufweisen, während die Bürger sich an ganz anderen Konfliktlinien streiten.

Moderne westliche Demokratien haben ihr Schicksal und ihre Geschichte; auch ihre spezifischen Deformationen haben sie entwickelt. Und doch sind in ihnen lebendige Menschen tätig. Sie üben Politik mit einer gewissen Leidenschaft aus und haben sie mit Neigung und den besten Absichten als Beruf ergriffen. Diese Menschen geben sich keineswegs damit zufrieden, Politik als selbstläufiges Systemspiel anzusehen.

Was treibt den Politiker in einer hoch professionalisierten parlamentarischen Demokratie westlichen Typs an? Das Streben nach Macht und Geld kann es nicht wirklich sein, das wäre in der Wirtschaft leichter zu befriedigen. Es kann aber auch nicht mehr die Gewissheit des Glaubens oder der Ideologie sein. In den vergangenen Jahren haben die Medien eine Neigung entwickelt, die Protagonisten der liberalen und sozialdemokratischen Regierungen in Washington, London - oder auch in Berlin - als unernste, weil in ihrem tiefen Inneren angebliche "überzeugungslose" Politikergeneration zu porträtieren. Ich glaube, dass das nicht stimmt. Möglicherweise verstehen wir heute etwas anderes unter dem Begriff "Überzeugungen". Der Wunsch nach klarer weltanschaulicher Ausrichtung des Politikers, nach verlässlichen Zeichen seines Wertekanons, verrät auch etwas über ein Politik- genauer: Politiker-Bild, das so selbstverständlich wohl nicht mehr existiert und vermutlich auch nicht überleben wird: Ebensowenig wie der Politiker ein Repräsentant einer seit Urzeiten bestehenden Weltanschauung ist - und von ihr gleichsam ein imperatives Mandat für sein Handeln mit auf den Weg bekommt, kann die Politik noch als Spiegel einer Konkurrenz dauerhafter die Gesellschaft formender Interessen und Werteinstellungen beschrieben werden.

Eine sich unter dem Druck der Globalökonomie individualisierende Gesellschaft wird vom Parteienspektrum ohnehin nur noch unzureichend abgebildet. Und auch die bundesrepublikanischen Volksparteien mit ihrem Langmut und ihrer beeindruckenden Fähigkeit, innere Widersprüche auszuhalten, werden seit einigen Jahren auf eine harte Belastungsprobe gestellt. Was Clinton, Blair und Schröder anders gemacht haben: Sie haben ihre Politik-Entwürfe nicht länger als Programme einer traditionellen Mehrheit im Wartestand präsentiert, nicht mehr als unumstößliche Wahrheiten, die nur vom Wähler wach geküsst werden sollten. Das waren nicht die leicht verschobenen Antworten auf die immer gleichen Fragen. Sondern sie sind gleichsam "konstruktivistisch" vorgegangen: Sie haben die Zustimmung innerhalb der Wählerschaften von ihrer Warte aus, wenn sie so wollen: von ihren an einer veränderten Wirklichkeit ausgerichteten Überzeugungen her organisiert, im Vertrauen auf die Überzeugungskraft neuer Leitbilder und Leitvokabeln.

Sicher ist viel Traditionelles in diese Leitvorstellungen vom gewandelten Zusammenleben in den westlichen Nationen eingeflossen, und manches klang vielleicht auch ein wenig eklektizistisch. Aber bloßes Mittel zum Zweck der Machtgewinnung waren diese neuen Präsentationsformen der Politik keineswegs. Sie verstehen sich als Angebote an die Gesellschaft. Sie eröffnen Chancen für dynamische Interessen- und Motivationslagen, die bisher möglicherweise noch gar nicht politisch formuliert werden konnten, in das politische System Einlass zu finden und sich dort zur Geltung zu bringen.

Ich glaube also, dass die heute in Verantwortung stehende Politikergeneration ihre Impulse weniger aus religiösen, weltanschaulichen oder im engeren Sinn philosophischen Einstellungen bezieht. Meine Vermutung ist eher, dass ein jeder dieser Politiker der Kriegs- und Nachkriegsgeneration von einer tiefen, sein Handeln nachhaltig bestimmenden Mitgift historischer Erfahrung zehrt. Diese historische Erfahrung ist ganz säkular. Sie hat metaphysische Gewissheiten aller Art mit einem Bann belegt. Sie hat in der Rückschau zur politischen Skepsis erzogen, aber eine Flucht in die Hoffnungslosigkeit hat sie nicht zugelassen. Und sie wirkte so unmittelbar, dass sie die Biographien vieler dieser Politiker geprägt hat, positiv und negativ. Ich spreche von der Erinnerung an den Nationalsozialismus und von der Erinnerung an das gescheiterte Experiment des wissenschaftlichen Sozialismus.

Wie gravierend die Schwächen des routinierten parlamentarischen Rechtsstaates auch immer sein mögen, wer - wie wir Deutsche - Augenzeuge der Massenverbrechen im Namen des Rassenwahns oder des Neuen sozialistischen Menschen sein konnte, wird der Demokratie niemals mit einem Soupcon begegnen, nie suggerieren, hinter ihrem Schleier warteten ursprünglichere, wahrheitsgemäßere, gewissermaßen seinskonformere soziale Ordnungsvorstellungen auf ihre Stunde. Nur der verteidigungsfähige und verteidigungswillige parlamentarische Rechtsstaat vermag heute die Makroverbrechen des Massenmords oder der Vertreibung nicht nur zu unterbinden und zu ächten, sondern er ist auch die Bedingung der Möglichkeit zu verhindern, dass sie sich schleichend vorbereiten, dass Teile der Gesellschaft aus der Gesellschaft ausgeschlossen werden, dass sich Entwürdigung, Demütigung, Diskriminierung verfestigen und zu einer vermeintlich legitimen Alltagspraxis mutieren.

Denn die Erniedrigung der Juden im Hitler-Deutschland, der Sinti und Roma oder der Homosexuellen, auch die systematische Verletzungen der privaten Sphäre in den sozialistischen Ländern, all das wurde nicht erst mit den ersten Anzeichen eines unzivilisierten Verhaltens in der Bevölkerung zu einer Tragödie der systematischen Verachtung. Es war vorbereitet gewesen durch das diskriminierende Verhalten staatlicher und gesellschaftlicher Institutionen. Deren Kumpanei mit dem Terror der Staatsparteien manövrierte die ausgegrenzten Bevölkerungsgruppen in eine aussichtslose Lage. Ihnen stand keine Instanz mehr zur Verfügung, an die mit Berufung auf ihre Bürgerrechte appelliert werden konnte. Das soziale System entzog ihnen die Basis zum Überleben, politisch. rechtlich, aber auch kulturell.

Meine Generation hat aus solchen Phänomenen hoffentlich politische Lehren gezogen: Wir sehen Institutionen nicht schon deswegen als legitim an, indem sie Ordnung stiften. Institutionen müssen sich fortwährend durch ihr Handeln legitimieren, sie müssen ihrer Qualität nach nicht bloß rechtlich, sondern auch gerecht und zivil sein, wenn Sie so wollen: demokratisch. Dahingehend können Institutionen auch befragt und kritisiert werden. Die Politikergeneration, von der ich spreche, hat die Protestbewegungen nach 1967 sehr genau verfolgt, zum Teil aktiv an ihr teilgenommen. Natürlich fiel die Institutionenkritik jener Zeit oft unbedacht, überzogen aus und war zuweilen selbst nicht immer vom guten Geist der Demokratie inspiriert. Aber alle, die zum politischen Realismus zurückkehrten, bestanden fortan darauf, dass das demokratische System moralischen Mindestanforderungen zu genügen hatte. Der demokratische Rechtsstaat war in den Augen dieser Generation nichts Formelles, er sollte getragen und durchdrungen sein von kollektiven Einstellungen der Gesellschaft, die verhüteten, dass sich im Rahmen demokratischer Institutionen undemokratische Verhaltensweisen etablierten.

Ich möchte an dieser Stelle auf eine weitere prägende geschichtliche Erfahrung meiner Generation hinweisen, soweit sie politisch tätig geworden ist. Man könnte sie auch als historische Sekundärerfahrung bezeichnen, denn sie weist selbstverständlich nicht den zentralen Stellenwert auf, den in Deutschland die Erinnerung an den Nationalsozialismus hat, in den USA die Erinnerung an die Kämpfe von Minderheiten um Bürger- und Teilhaberechte, in Großbritannien die lange Vertrautheit mit den Schwierigkeiten einer postkolonialen Migrationsgesellschaft.

Das politische Ethos dieser Politikergeneration, so meine Vermutung, ist auch von den langen Erfahrungen mit einem parlamentarischen System in seiner Reifezeit geprägt worden. Ernsthaft war kein anderes politisches Leben denkbar, als im Rahmen der beständigen, überlebensfähigen Demokratie westlicher Ausrichtung. Die heute in der Verantwortung stehen, sind somit auch zu Virtuosen des parlamentarischen und parteipolitischen Apparats geworden, nolens volens. Sie stehen auf den Schultern von Riesen, sie sind keine Gründerväter, sondern sie sind hineingewachsen in ein System parlamentarischer Demokratie, das unterdessen auf eine eigene lange Geschichte zurück blickt, auch in der Bundesrepublik. Die parlamentarische Demokratie ist ein System, das Stärken aufweist und Erfolge feiert, aber auch seine blinden Stellen hat, seine Unschärfen, seine Konstruktionsschwächen und beklagenswerte Routinen, das gelegentlich zu heiklen Verfahrenstricks einlädt und die Verwirklichung bestimmter Ideale aus prinzipiellen Gründen ausschließt. Die parlamentarische Demokratie ist nicht perfekt, aber für den aus historischer Erfahrung gegenüber Ideologien empfindlichen Generation haben niemals hinreichenden Gründe bestanden, sie in Frage zu stellen.

Diese genaue Kenntnis von Prozeduren, diese gekonnte Verfügung über die Möglichkeiten des Repräsentativsystems ist eine schillernde Angelegenheit. Gelegentlich wird die Geschmeidigkeit, mit der Politiker den Apparat bedienen, beargwöhnt, nicht ganz zu Unrecht. Der Ruf wird laut nach einem anderen Politikertypus. Einer, der sich durch neuen Enthusiasmus auszeichnet und sich durch eine gleichsam popularitätsgestützte neue Naivität legitimiert. Zwangsläufig leider auch durch eine Machtfülle, die nicht im Sinne der Gewaltenteilung sein kann. Ich bin überzeugt, dass wir diese Naivität nicht wiedergewinnen können. Sie wäre auch keine wünschenswerte Tugend. Meine These ist eine andere: Ich behaupte - ein wenig überspitzt - , dass die rechtsstaatliche Demokratie in der heutigen Politikergeneration mit ihrem Wissen über Historie und innere Differenzierung des politischen Subsystems gleichsam reflexiv geworden ist. Darin erkenne ich eine Tugend: Die verlorene Naivität erzieht zu einem äußerst bewussten politischen Handeln, zu einer beständigen Selbstbeobachtung des Politikers als Teil eines abstrakten Apparats und als prägende Kraft staatlicher oder gesellschaftlicher Einrichtungen.

Um auf die Frage zurückzukommen, was den Politiker in einer stabilen Demokratie motiviert: Es ist der Wunsch, die Institutionen, für die er Verantwortung trägt, so zu beeinflussen, dass sie dauerhaft anspruchsvollen Vorstellungen des Demokratischen entsprechen. Trotz Schwächen, trotz Leerlauf. Und es kommt demgemäß auch eine hohe Bewußtheit im Zuge der eigenen Ausübung von Macht hinzu, im besten Fall: Umsicht. Man kann das in einer weiteren Frage zuspitzen: Wie gelangen in einer weitgehend selbstläufigen und verfahrenslegitimierten Politikmaschinerie ethische Maßstäbe zur Geltung? Anders formuliert - und von vielen Bürgern kritisch nachgefragt: Spielt die Moral in einem Raumschiff Bonn, das gerade in Berlin gelandet ist, überhaupt noch eine Rolle?

Im Unterschied zu manchen Theoretikern der Politik bin ich nicht der Auffassung, dass die Routine legislativer und exekutiver Arbeit die Frage nach moralischer Rechtfertigung erledigt. Sie treibt sie geradezu hervor. In dieser Hinsicht hat Avishai Margalit in seinen Überlegungen zu einer anständigen Gesellschaft einen Maßstab aufgestellt. Sein Kriterium für die Anständigkeit einer Gesellschaft klingt vor dem Hintergrund der klassischen Politiktheorie und vor dem Hintergrund der Weltverbesserungsphantasien des vergangenen Jahrhunderts einigermaßen bescheiden. Als anständig darf sich jene Gesellschaft bezeichnen, deren Institutionen ihre Mitglieder nicht demütigen, also ihnen keine rationalen Gründe liefern, sich in ihrer Würde und Selbstachtung verletzt zu fühlen.

Hinter diesem Konzept steht jene zentrale Erfahrung des 20. Jahrhunderts, von der ich sprach: Den industriellen Morden und Gewaltexzessen gingen Praktiken institutioneller Demütigung voraus. In systematischer Weise wurde die Ehre verletzt, die ein jeder Mensch sich aufgrund seines Menschseins zuschreibt. Die Zerstörung ihrer Selbstachtung schloss Juden und andere Gruppen nicht nur aus der deutschen Gesellschaft aus; dementiert sollte ihr Dasein als Menschen werden, damit die physische Vernichtung später berechtigt erschien. Was nicht mehr Teil der menschlichen Gattung war, konnte eliminiert werden.

Und doch - das ist das tiefe Paradox der Demütigung, das Margalit herausgearbeitet hat - muss der Peiniger von seinem Opfer als Mächtiger anerkannt werden. Das Opfer muss daher ein leidensfähiger Mensch bleiben, damit überhaupt von einer Demütigung gesprochen werden kann. Dieses Paradox kann nicht gelöst werden. Aber es kann eine Spirale der Gewaltsamkeit in Gang setzen, nur um die Moral des Menschseins endlich abzuschütteln. Streng genommen zeigt sich dieses Paradox bereits in den Fällen der Demütigung durch Institutionen: Der Gedemütigte soll die überlegene Macht einer feindseligen Gesellschaft spüren, aber in der Kränkung seiner Selbstachtung wird sein Menschsein überhaupt verneint. Privat und öffentlich lassen sich an dieser Stelle nicht trennen: Eine aggressive Politik enthält latent Gewalt auch gegenüber dem privaten einzelnen.

Ein demütigendes Handeln von Institutionen - wobei Margalit diesen Begriff sehr weit fasst und auch etwa identitätsstiftende Gruppen der Gesellschaft darunter rechnet - kann kein demokratischer Rechtsstaat dulden. Es gehört zum Erbe moderner Nationalstaaten, dass sie in Konflikt- und Krisenfällen zu einer Politik der Exklusion neigen. Aus Gründen der inneren Stabilisierung oder auch nur aus Gründen einer Ideologie soll dann Minderheiten und Immigranten der Zutritt zur Gesellschaft verwehrt werden. So versuchte der Nationalismus des 19. Jahrhunderts innere Spannungen der Gesellschaft zu lösen. Nach den Erlebnissen des 20. Jahrhunderts können wir mit Grund sagen, dass eine solche Handlungsweise zutiefst unethisch ist. Institutionalisierte Exklusion entspricht daher auch keinem Spezialfall politischer Ethik, sondern weist in das Zentrum des Selbstverständnisses demokratischer Rechtsstaaten. Die historische Erfahrung zeigt außerdem, dass bloße formelle Rechtsstaatlichkeit noch keine Gewähr für die Meidung systematischer Verweigerungen von Achtung und Würde bietet. Auch wo die Gesetze herrschen, kann die Gesellschaft Minderheiten demütigen - das Südafrika der Apartheid-Ära mag dafür als Beispiel dienen. Etwas muss als Ausrichtung auf Anständigkeit hinzukommen, eine ethische Ressource, die nicht schon von staatlichen und von gesellschaftlichen Institutionen selbst gebildet wird.

Wo das Zusammenleben der Menschen ohne Gewalt verläuft und wo diese ethische Ressource trotzdem fehlt, kann Margalit zufolge allenfalls von einer "toleranten" Gesellschaft die Rede sein. In einer toleranten Gesellschaft wird zwar die Koexistenz unterschiedlicher Religionen und Kulturen geduldet. Die Ruhe entspringt jedoch der Gleichgültigkeit. Der andere wird eher ignoriert, als dass er als Teil eines gemeinsamen Ganzen angesehen würde. In einer bloß toleranten Gesellschaft fehlt die aktive und intentionale Ausrichtung auf Inklusion all jener, deren Lebensweisen von der dominierenden Kultur abweichen. Eine anständige Gesellschaft wäre demgegenüber immer auch eine ethische Gemeinschaft. Es wäre die Voraussetzung für das, was Margalit eine "zivilisierte" Gesellschaft nennt, also eine Gesellschaft, in der sich dann auch die einzelnen keinerlei Demütigungen mehr zufügen und die Würde des anderen respektieren.

Was mich für die Überlegungen Avishai Margalits einnimmt, ist der Umstand, dass sein Konzept kein auszuführendes Programm sein will und nicht wieder einmal vom Staat verlangt, er möchte in irgendeiner fernen Zukunft für eine ganz andere Institutionenordnung sorgen und am besten auch gleich die Gesellschaft nach einem idealen Grundriss neu organisieren. Margalits Suche nach der Anständigkeit einer Gesellschaft, nach dem ethischen Überschuss gegenüber einem bloß friedfertigen Status Quo, hebt hier und jetzt an, und zwar an der Schnittstelle zwischen Staat und Gesellschaft, dort, wo kritisch nach den herrschenden Kollektiveinstellungen gefragt wird, insofern sie durch das Handeln von Institutionen beeinflussbar und kontrollierbar sind.

Der liberale Staat hütet sich mit Grund, seinen Bürgern Gedanken und Meinungen vor zu schreiben; aber es kann ihm auch nicht egal sein, was für Motivlagen und Emotionen die Gesellschaft bewegen. Die sozialdemokratische Bundesregierung und ihre Koalitionspartnerin vertrauen hier auf eine Bürgergesellschaft, die selbst dafür Sorge tragen muss, dass sie sich zivilisiert. Ihr gegenüber nimmt der Staat eine aktive und aktivierende Rolle ein. Im Rahmen der Verfassung und mit Rücksicht auf den Maßstab der Anständigkeit verstärkt er Impulse einer Haltung, die den Einschluß fremder Kulturen und Interessen begünstigt, eines gelebten Respekts vor der Selbstachtung anderer. Der Staat behindert gemäß seiner Möglichkeiten das Aufkommen von Feindlichkeit und Gleichgültigkeit.

Wiewohl ich nicht daran zweifle, dass das Konzept einer anständigen Gesellschaft universalisierbar ist, glaube ich doch, dass es über eine besondere Affinität zu stabilen Rechtsstaaten und funktionierenden Demokratien verfügt, zu solchen, die über eine eigene Tradition verfügen und auf lange Erfahrungen mit den eigenen Besonderheiten zurückblicken. Anständigkeit ist ein ethisch anspruchsvolles Kriterium für jene Selbstreflexion westlicher Demokratien, die ich erwähnte. Ich halte die dauernde Überprüfung der eigenen Verfahrensweise auch deswegen für unerlässlich, weil nach dem Ende der politischen Systemkonkurrenz die Demokratie auch aus eigener Schwäche in Gefahr geraten kann: Indem sie in ihrer Routine versinkt, ihre Einrichtungen sich gegenüber der dynamischen Gesellschaft verschließen und sie auf die veränderte Frage nach einer gelebten Moralität keine Antwort mehr erteilt. Das heißt ja nicht, die Gesellschaft mit ökonomischer Ungleichheit allein zu lassen. Eine Einzelkämpfergesellschaft wird nie das Kriterium der Anständigkeit erfüllen, weil sie kalkuliert, dass viele Menschen gar keine Chance auf eine würdige Lebensperspektive erhalten können. Eine Chance auf eine sinnerfüllte Tätigkeit gehört aber zu den Voraussetzungen persönlicher Würde. Eine Gesellschaft, die das Entstehen einer hilflosen Unterschicht billigend in Kauf nimmt, würde einen Teil ihrer Mitglieder von vorn herein vom Menschsein ausschließen.

Demütigungen zu vermeiden, ist daher ein Orientierungsmaßstab für Demokratien, die heute andere Herausforderungen bewältigen müssen als den traditionellen Gegensatz zwischen Kapital und Arbeit. Unter dem Druck von begrenzten Kriegen oder wirtschaftlicher Globalität werden sie plötzlich zu Migrationgesellschaften und müssen das Zusammenleben unterschiedlicher, oft einander feindlich gesinnter Anspruchs- und Identitätsgruppen austarieren. Die Vorstellung von einer nationalen Hegemonialkultur, die Anpassungsdruck entfalten darf, ist doch inzwischen sehr brüchig geworden. Die wichtige Frage ist vielmehr: Wer kann sich legitimerweise als institutionelle Teilgemeinschaft etablieren und Anspruch auf Achtung erheben?

An dieser Stelle kann der Staat sehr wohl aktivierend oder deaktivierend eingreifen. Ich gebe ein Beispiel: Eine rechtsradikale Jugendszene, die sich per Internet vernetzt und durchaus eine starke Identität pflegt, wird nie als gesellschaftliche Institution anerkannt werden, weil sie darauf aus ist, die Grundlagen von Anstand und Zivilisiertheit zu zerstören. Recht und Gesetz bieten hier Widerstand. Die Vorstellung einer anständigen Gesellschaft ist, wie gesagt, kein Programm für staatliches Handeln, sondern ein ethischer Maßstab, der ebensowohl für die Gesellschaft verbindlich ist. Seine Anerkennung ist ihren Teilgemeinschaften - und auch den einzelnen - zumutbar, auch wo die Gruppenkulturen aus religiösen oder weltanschaulichen Gründen einander ausschließen.

Für das Zusammenleben in einem Nationalstaat - und er ist noch immer die Bezugsgröße unseres gesellschaftspolitischen Handelns - bedeutet also die bloße Tolerierung der Kulturen aus Gleichgültigkeit nicht das letzte Wort. Die parlamentarische Demokratie ist auf eine übergreifende kollektive Einstellung angewiesen, die wiederum nicht nur ein nationales Interesse artikuliert. Ein solches wird sich immer gegenüber anderen Nationen abschließen. Die übergreifende kollektive Einstellung, die ich meine, entspringt nicht dem Interesse. Sie kann nur eine ethische sein.

Praktisch eröffnen sich dem Staat vielfältige Aufgaben, diese ethische Gemeinschaftsbildung im Zeichen vermeidbarer Demütigungen von Menschen aktivierend zu begleiten. Das reicht von der respektvollen Behandlung von Asylbewerbern bis hin zur Ermunterung von Zivilcourage angesichts rechter Gewalt auf den Straßen. Als deutscher Kulturpolitiker möchte ich abschließend skizzieren, was ich für einen Beitrag aus meinen bescheidenen Ressortmitteln ansehe.

Die Kulturpolitik hat es mit den Symbolen einer Gesellschaft zu tun, mit ihren symbolischen Ausdrucksformen, sofern sie institutionalisiert sind, sei es in Archiven, Museen, Theatern oder Medien. Auch die Kultur unterliegt dem Maßstab der Anständigkeit; ihre Inhalte dürfen nicht Selbstachtung und Würde anderer in Frage stellen. Anders als die meisten Politiker verantwortet der Kulturpolitiker Einrichtungen, in denen sich das Gedächtnis einer Gesellschaft manifestiert und reproduziert. Symbolsysteme prägen nicht nur die aktuelle Kommunikation einer Gesellschaft, sondern reichen tief in die Zeit zurück. Ein wesentlicher Teil der Kultur eines Landes besteht folglich aus der Organisation und der Kanonisierung der kollektiven Erinnerung. Gemeinschaften sind auch als Erinnerungsgemeinschaften integriert, und es ist die Frage, ob sich ein ethischer Impuls auch auf sie erstreckt. Kann auch das gemeinsame Erinnern der Ausdruck von Respekt sein?

Avishai Margalit spricht von "Anteilnahme", die im Erinnern zur Geltung gelange, im persönlichen wie im kollektiven. Margalit versteht darunter weniger eine Emotion als eine Haltung. Es ist eine Disposition, den anderen im Lichte seiner Menschlichkeit wahrzunehmen, ihm spontan und nicht erst als Resultat einer moralphilosophischen Reflexion Achtung zu zollen. Diese Anteilnahme kann man, soll man auch den Toten angedeihen lassen. Der anteilnehmend Erinnernde erstattet den Toten ihre persönliche Würde zurück. Margalit hat die Kraft einer Ethik der Erinnerung folgendermaßen beschrieben, sehr eindruckvoll, wie ich finde: Diese Macht, oder eher die Illusion der Macht, durch kollektive Erinnerung etwas ins Leben zu rufen: Was bedeutet sie eigentlich? Etwas ganz Wichtiges, glaube ich. Sie ist ein deutliches Anzeichen dafür, dass eine Erinnerungsgemeinschaft nicht nur auf ihren aktuellen engen Beziehungen zu Lebenden beruht, sondern ebenso auf ihren Beziehungen zu Toten. Es ist eine Gemeinschaft, die mit Tod und Leben umgeht, in der das Motiv des Gedenkens, das in Wiederbelebung übergeht, wesentlich mächtiger ist als in einer Gemeinschaft, die lediglich auf Kommunikation beruht."

Ich sprach davon, die historische Erfahrung des Nationalsozialismus sei ein Grundmotiv dafür, die Anständigkeit einer Gesellschaft einzuklagen.

Nationalsozialismus und Massenmorde gehören zu den geteilten Erinnerungen aller Deutschen, derjenigen, die diese Zeit noch aus eigener Anschauung kennen, aber auch der Nachgeborenen. Die gemeinsame Erinnerung daran in festen Einrichtungen zu verstetigen, sie ausreichend zu dokumentieren und zu alimentieren, sie in Richtung auf eine anteilnehmende Weise des Erinnerns zu beeinflussen, all das betrachten wir als eine vordringliche kulturpolitische Aufgabe. Die rot-grüne Bundesregierung hat sich sehr bald nach ihrem Amtsantritt darum bemüht, das Mahnmal für die ermordeten Juden in Deutschland in die Phase der Realisation zu bringen. Ähnliches gilt für das Jüdische Museum in Berlin. Beide Einrichtungen sollen - an prominenten und symbolischen Orten gelegen - helfen, die Erinnerungsgemeinschaft der Deutschen zu festigen. Das Mahnmal ist den Opfern gewidmet; Deutsche werden dort der systematischen Ausgrenzung und der Entmenschlichung von Menschen gedenken. Die Erinnerungen der Deutschen umgreifen Opfer und Täter gleichermaßen. Das Jüdische Museum wird belegen, dass die Kultur der Juden einst ein selbstverständliches Element der geteilten Erinnerungen der Deutschen war. Vielleicht gelingt es ja, das jüdische Leben in Deutschland ein Stück weit in die gemeinschaftliche Erinnerung heutiger Deutscher zurück zu holen. Das wird nicht eine Zeit des Zusammenlebens romantisieren. Es soll dazu anregen, die Ausgrenzung wenigstens im Akt des Gedenkens symbolisch rückgängig zu machen.

Die Kulturpolitik des Bundes ist dazu aufgerufen, dem Erinnern der Deutschen einen würdigen, aber auch verpflichtenden Rahmen bereit zu stellen. Eine Empfindlichkeit gegenüber Phänomenen der Würdeverletzung oder der verweigerten Achtung muss selbst institutionalisiert werden. Und da es keine Ethik-Behörde geben kann, wird dies nur symbolisch möglich sein. Im Handeln der Institutionen sollte die symbolische Dimension nicht unterschätzt werden. Auch staatliche Einrichtungen, auch Wirtschaftsunternehmen sind Bestandteil der Kultur eines Landes.

Über die volkspädagogischen Wirkungen von Gedenkstätten und Museen wird sich keiner Illusionen machen. Aber es sind Zeichen, und zwar solche, die die Kultur setzt. Sie signalisieren, dass der Staat und die gesellschaftlichen Institutionen sich einer zukünftigen systematischen Verletzung von Würde und Anstand gegenüber einzelnen oder Minderheiten widersetzen werden. Ob kulturelle Symbole die Gesellschaft tatsächlich ein bisschen ziviler ausrichten, ist mit Gewissheit nicht zu sagen. Politik im Zeichen von Wahrheit und Letztgewißheit sei nicht möglich, behauptete ich am Anfang. Eine Politik fester, aus historischen Erfahrungen gewonnener Standpunkte ist in meinen Augen sehr wohl möglich. Dass ihr Erfolg immer unsicher bleiben wird, tut ihrer Berechtigung keinen Abbruch.