Redner(in): Angela Merkel
Datum: 24.08.2011

Untertitel: in Magdeburg
Anrede: Sehr geehrte Frau Staatspräsidentin, liebe Dalia Grybauskaitė,sehr geehrter Herr Ministerpräsident, lieber Reiner Haseloff, sehr geehrter Herr Oberbürgermeister, meine sehr verehrten Damen und Herren,
Quelle (evtl. nicht mehr verfügbar): http://www.bundesregierung.de/nn_1498/Content/DE/Rede/2011/08/2011-08-24-merkel-kaiser-otto-preis,layoutVariant=Druckansicht.html


Kolleginnen und Kollegen aus den Parlamenten,

den Kaiser-Otto-Preis entgegennehmen zu dürfen, ist mir eine große Ehre, Herr Oberbürgermeister, und ich wende mich natürlich auch an das Kuratorium. Mein Dank geht an alle, die die heutige Festveranstaltung an diesem wunderbaren Ort ermöglicht haben.

Besonders zu schätzen weiß ich, dass Sie, liebe Frau Grybauskaitė , es übernommen haben, hier und heute die Laudatio vorzutragen, und es uns damit ermöglichen, gemeinsam anwesend zu sein. Denn Ihre Worte haben eben noch einmal widergespiegelt, was der Inhalt dieser Preisverleihung ist und wofür der Kaiser-Otto-Preis steht: Verständigung, Zusammenarbeit, Partnerschaft und Freundschaft unserer Staaten in Europa.

Die Auszeichnung führt über ihren Namensgeber zu den frühen Wurzeln europäischer Integration zurück. Es ist ja häufig von gemeinsamer Geschichte und Tradition unseres Kontinents die Rede. Wer einmal schaut, was sich dahinter verbirgt, der gelangt auch zu Kaiser Otto dem Großen. Der bekannte Monarch des Mittelalters führte weite Teile Europas unter seiner Herrschaft zusammen, und er löste mit Macht und Geschick etliche Konflikte.

Magdeburg ist Otto dem Großen eng verbunden. Er hat die Stadt an der Elbe gefördert. Er verschaffte ihr Bedeutung als Kaiserpfalz. Er war der Wegbereiter für das Erzbistum Magdeburg, was gar nicht so einfach war. Und er fand hier im Dom seine letzte Ruhestätte.

Die Frage nach gemeinsamer europäischer Geschichte und Tradition führt eben deshalb auch nach Magdeburg, allerdings nicht nur wegen Otto des Großen. Die Stadt webte vielfach europäische Bande sei es zum Beispiel durch das frühe Magdeburger Stadtrecht, von dem die Präsidentin und ich heute schon gesprochen haben und das bis weit nach Osteuropa prägende Wirkung entfaltete, oder sei es durch die Mitgliedschaft in der Hanse.

Auf den Bündnissen und Netzwerken der Vergangenheit, auf der Tradition des Austauschs und des Dialogs konnte das moderne Europa dann sein Fundament bauen. Genau daran erinnert der Kaiser-Otto-Preis. Er schlägt sozusagen den Bogen von den alten Wurzeln eines Zusammengehörigkeitsgefühls bis zum vereinten Europa von heute, auch wenn dazwischen Jahrhunderte des Streits und furchtbarer Kriege liegen.

Dank der europäischen Einigung sind schließlich aus Erzfeinden Freunde und Partner geworden. Dank der europäischen Einigung konnten die Menschen ihren Kontinent gemeinsam aus Ruinen wieder aufbauen. Sie erarbeiteten sich in Frieden nie dagewesenen Wohlstand. Dank der europäischen Einigung schufen die Völker Europas auf dem Fundament gemeinsamer freiheitlicher Werte ein Gesellschaftsmodell, das wirtschaftlichen Erfolg, sozialen Zusammenhalt und ökologische Verantwortung vereint. In Deutschland haben wir dafür den Begriff Soziale Marktwirtschaft geprägt.

Ein besonderes Glück ist, dass seit dem Fall des Eisernen Vorhangs auch die Menschen aus dem Osten Deutschlands und Europas an dieser Erfolgsgeschichte teilhaben und sie heute mit fortschreiben können. Auch ich persönlich bin dafür natürlich sehr dankbar, genauso wie viele der hier Anwesenden. Ich habe gerade mit dem Oberbürgermeister darüber gesprochen. Der Ministerpräsident, die Präsidentin, der Oberbürgermeister und ich waren alle einmal Naturwissenschaftler, sind dann in die Politik gegangen und haben so auch Gestaltungsmöglichkeiten in einem ganz anderen Bereich bekommen.

Deshalb nehme ich den Kaiser-Otto-Preis gerne als Ansporn an. Denn in der Ehrung liegt eine Verpflichtung, die mir besonders am Herzen liegt: der Einheit Europas zu dienen, gerade auch in dieser europapolitisch so anspruchsvollen Zeit.

Mit der Wirtschafts- und Währungsunion haben unsere Vorgänger eine neue Stufe der Integration in Europa erklommen. Seit knapp zehn Jahren können die Menschen mit dem Euro in Berlin wie in Paris, in Rom wie in Lissabon bezahlen. Aber wir haben auch darüber gesprochen, dass zum Beispiel die litauische Währung ganz fest an den Euro gebunden ist. Das heißt, wir sind alle in einer vollkommen neuen Qualität miteinander verwoben.

Trotz aller Turbulenzen, die wir in jüngster Zeit erleben: Der Euro hat sich bewährt. Er ist stabil. Er ist sogar wertbeständiger, als es die D-Mark je war. Die Zinsen sind in Deutschland heute so niedrig wie selten. Als Exportnation profitiert Deutschland in besonderem Maße vom Wegfall der Transaktionskosten und der besseren Vergleichbarkeit der Preise im Binnenmarkt.

Der Euro ist aber viel mehr als nur eine Währung. Er ist ein Fundament unseres gemeinsamen wirtschaftlichen Erfolgs, und er ist ein Symbol für die politische Einigung unseres Kontinents. Der Euro steht für den Willen Europas, den inneren Zusammenhalt zu festigen und sich Herausforderungen gemeinsam zu stellen. Er ist deshalb untrennbar mit dem europäischen Projekt als Ganzem verbunden. Das heißt: Scheitert der Euro, steht das europäische Projekt insgesamt auf dem Spiel.

Wir tun deshalb alles, um die Wirtschafts- und Währungsunion dauerhaft zu stabilisieren und sie zu stärken. Das sind wir den Gründervätern der Europäischen Union schuldig, die ihre Kraft in den Bau des europäischen Hauses steckten und dabei an die Zukunft und damit auch an uns dachten. Ebenso, wie es damals war, stehen wir heute den kommenden Generationen gegenüber in der Pflicht. Wer verantwortlich handeln will, vererbt seinen Nachkommen ein intaktes Gebäude.

Deshalb darf es angesichts der gegenwärtigen Schuldenkrise in Europa kein "Weiter so" geben, und das gibt es ja auch nicht. Wir arbeiten vielmehr daran, die Versäumnisse der ersten Eurojahre zu korrigieren. Menschlich nachvollziehbar ist dabei die Sehnsucht nach einer ganz schnellen Lösung, nach irgendeinem Wundermittel oder nach einem alles befreienden Paukenschlag, der über Nacht alle unsere Probleme löst. Politisch verantwortbar ist es deshalb noch lange nicht, dieser Sehnsucht nachzugeben. Denn so groß sie auch sein mag, wir dürfen uns von ihr nicht aufs Glatteis führen lassen. Jetzt ist vielmehr ein gezieltes und nachhaltiges Handeln gefragt.

Die Versäumnisse, die bei der Einführung des Euro gemacht worden sind, können nicht über Nacht, wohl aber in einem Prozess behoben werden. Um genau einen solchen Prozess geht es seit Beginn der Krise, um einen Prozess aufeinander folgender und abgestimmter Schritte und Maßnahmen. Ich werde nicht nachlassen, dabei wieder und wieder zu betonen, dass wir in diesem Prozess das Problem an der Wurzel packen müssen, damit wir

die Ursache der Krise wirksam und dauerhaft bekämpfen. Das heißt, die Staatsverschuldung abzubauen und die Wettbewerbsfähigkeit zu stärken.

Ich möchte, dass Europa zur Stabilitätsunion wird. Ein weiterer Weg in die Schuldenunion wäre ein Irrweg. Deshalb lehne ich auch Eurobonds ab. Sie werden von manchen jetzt als das vermeintliche Wundermittel zur Überwindung der Krise gepriesen. Sie helfen uns in der aktuellen Krise aber überhaupt nicht, und zwar nicht nur, weil ihre Einführung langwierige Vertragsänderungen erforderte, sondern vor allem, weil Eurobonds keinen Anreiz zur Haushaltskonsolidierung und zu Reformen setzen. Dabei wird doch genau das gebraucht: Haushaltssanierung und Reformen. Denn, ich wiederhole es, Europa muss den Weg in die Schuldenunion verlassen und den Weg in die Stabilitätsunion einschlagen.

In Zukunft gilt es, früher, entschlossener und wirksamer falsche Entwicklungen zu erkennen und zu

beheben jedes Land für sich in eigener Verantwortung und alle gemeinsam in wohlverstandener Solidarität. Diesem Ziel dient eine Reihe wichtiger Vereinbarungen der Euroländer:

Der Stabilitäts- und Wachstumspakt erhält mehr Biss. Stärker denn je setzen wir auf Vorbeugung, damit die Maastricht-Kriterien gar nicht erst verletzt werden.

Um diesen Ansatz zu stärken, werben der französische Staatspräsident und ich für die Schuldenbremse. Deutschland hat sie bereits. In Frankreich ist sie auf den Weg gebracht. Das soll Vorbild für andere Eurostaaten und überhaupt für andere Staaten in der Europäischen Union sein, ebenfalls so zu handeln.

Zudem können wettbewerbsschwache Länder mit hohen Defiziten künftig notfalls über Sanktionen gezwungen werden, Strukturreformen einzuleiten.

Die Europäische Union soll diese Länder mit den Europäischen Struktur- und Kohäsionsfonds bei ihren Anstrengungen gezielter unterstützen.

Darüber hinaus haben die Staats- und Regierungschefs vieler europäischer Länder den Euro-Plus-Pakt für mehr Wettbewerbsfähigkeit geschlossen und machen auch aktiv in ihm mit. Dabei beteiligen sich eben auch etliche Länder außerhalb der Eurozone. Der Pakt nimmt die Staats- und Regierungschefs persönlich in die Pflicht.

Der französische Staatspräsident und ich wollen noch weiter gehen und den institutionellen Rahmen der Eurozone stärken, straffen und effizienter gestalten.

Wir wollen, dass sich dazu die Staats- und Regierungschefs regelmäßig unter einem ständigen Vorsitz treffen und dabei Eckpunkte der Wirtschaftspolitik im gemeinsamen Währungsgebiet definieren. Ziel ist es, nicht nur zu diskutieren, sondern die gemeinsamen Zielsetzungen verbindlich zu besprechen.

Ich weiß, der vor uns liegende Weg ist anspruchsvoll. Aber ich bin überzeugt, es ist der richtige Weg, um die politische und wirtschaftliche Glaubwürdigkeit der Wirtschafts- und Währungsunion dauerhaft zu stärken. Es ist der richtige Weg, um Schritt für Schritt das Vertrauen der Menschen und der Märkte zurückzugewinnen. Es ist der Weg, der uns erfolgreich bei der europäischen Einigung voranbringen kann. Dafür lohnt es sich, alle Bürden auf sich zu nehmen.

In einigen Mitgliedstaaten werden auch in Zukunft schmerzhafte Anpassungsschritte notwendig sein. Aber die Reformen dulden keinen Aufschub. Auch den Bürgerinnen und Bürgern unseres Landes wurde in den vergangen Jahren viel abverlangt. Aber die Mühe hat sich gelohnt: Deutschland geht aus der Wirtschaftskrise stärker hervor, als es hineingegangen ist. Unser Land bleibt damit in schwieriger Zeit Stabilitätsanker in und für Europa. Denn eines ist auch klar: Deutschland kann es auf Dauer nicht gut gehen, wenn es Europa schlecht geht.

Mein wichtigstes Anliegen als deutsche Bundeskanzlerin ist es deshalb, dass am Ende der gegenwärtigen Krise Europa gestärkt dasteht. Ich will, dass Europa stärker aus der Krise herauskommt, als es in sie hineingegangen ist. Die Europäische Union muss erfolgreich bleiben: als innovationsstarker und wettbewerbsfähiger Partner in der Welt; als stabiler Währungsraum; als Gemeinschaft, die sich nicht weiter auf Kosten kommender Generationen verschuldet; als Gesellschaftsmodell, das wirtschaftlichen Erfolg, gesellschaftlichen Zusammenhalt und Umweltschutz vereint, sowie als eine Union, die auf einem gemeinsamen freiheitlichen Fundament steht.

Aus einem Leben in Freiheit, Frieden und Wohlstand erwächst auch Verantwortung für jene, die sich nach diesen Werten sehnen. Die Menschenrechte weltweit zu stärken, ist deshalb unser gemeinsames europäisches Ziel. Gemeinsam können wir in Europa Vorreiter in globalen Fragen sein. Ob beim Kampf gegen Armut oder beim Klimaschutz wir haben die Kraft, mit gutem Beispiel voranzugehen.

Meine Damen und Herren, der Dom, in dem wir uns befinden, ist ein besonderes Meisterwerk. Er verlangt uns tiefe Ehrfurcht und Demut ab vor den Architekten und vor den Menschen, die über viele Generationen Stein auf Stein gesetzt haben, um dieses Gebäude zu errichten. Mit Ehrfurcht und auch mit Demut blicke ich auf das Werk der europäischen Einigung. Unsere Vorgänger haben es mit Weitsicht, Klugheit und dem Mut zur Versöhnung geschaffen. 2007, zum 50. Jahrestag der Römischen Verträge, haben wir gesagt: Wir Europäer, wir sind zu unserem Glück vereint.

Die Aufgabe unserer heutigen politischen Generation können wir deshalb so auf den Punkt bringen: Wollen wir Länder und Völker Europas es angesichts der Krise wieder jeder für sich allein versuchen also die Griechen mit der Drachme, die Spanier mit dem Peso, wir Deutsche mit der D-Mark, oder wollen wir weiter gemeinsam vorgehen? Setzen wir also auf das gemeinsame Europa, und sind wir dazu bereit, noch mehr für Europa einzusetzen und Europa zu geben, damit Europa und der Euro die schwere Bewältigungsprobe dieser Monate bestehen können, um hinterher stärker als zuvor zu sein? Ich bin dafür, dass wir genau das wagen. Denn ich bin überzeugt, es bleibt richtig, was wir 2007 gesagt haben: Wir Europäer, wir sind zu unserem Glück vereint.

Ich danke Ihnen für das Vertrauen, aber auch den Ansporn, den Sie mir mit der Verleihung des Kaiser-Otto-Preises gegeben haben. Ich bedanke mich noch einmal bei der Laudatorin, die die Brücke zu den Mitgliedstaaten schlägt, die heute, nach dem Ende des Eisernen Vorhangs und des Kalten Krieges, gemeinsam mit denen, die schon länger dabei sind, dieses Europa ausmachen. Ich wünsche der Stadt Magdeburg alles Gute und dem Dom viele Besucher, die wissen, dass hier ein Stück europäische Geschichte geschrieben wurde.

Herzlichen Dank.