Redner(in): Bernd Neumann
Datum: 28.08.2011

Untertitel: Anlässlich der Gedenkfeierin Friedland sprach Kulturstaatsminister Bernd Neumann über das Leid der 1941 vertriebenen Russlanddeutschen und appellierte an die Aufarbeitung des Stalinismus. Zudem würdigte er den Beitrag Vertriebener an der Vielfältigkeit deutscher Kultur.
Anrede: Anrede,
Quelle (evtl. nicht mehr verfügbar): http://www.bundesregierung.de/nn_1498/Content/DE/Rede/2011/08/2011-08-28-neumann-vertreibung-su,layoutVariant=Druckansicht.html


zur heutigen Gedenkveranstaltung überbringe ich die herzlichen Grüße von Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel wie der gesamten Bundesregierung.

Wir sind heute und hier zusammengekommen um eines Datums zu gedenken, das vor 70 Jahren zum Schlüsselereignis des Leidensweges der Russlanddeutschen geworden ist.

Mit dem von Stalin verfügten Erlass zur Deportation der Russlanddeutschen wurde wenige Wochen nach dem verbrecherischen Überfall Hitlers auf die Sowjetunion auf brutale Weise an sowjetischen Staatsbürgern deutscher Nationalität Rache genommen.

Der Erlass des Obersten Sowjets der UdSSR vom 28. August 1941 steht für das Ende der blühenden russlanddeutschen Kulturgemeinschaften und den Anfang des Versuches einer systematischen Zerstörung der Identität einer ganzen Volksgruppe.

Eine ganze Bevölkerungsgruppe wurde allein aufgrund ihrer deutschen Herkunft staatlichen Repressionen und einer gesellschaftlichen Ächtung ausgesetzt, nicht nur während des Krieges, sondern über Jahrzehnte. Anders kann man die kollektive Schuldzuweisung nach Volkszugehörigkeit, die Massendeportationen, die Zwangsarbeit in den Todeslagern des GULAG-Systems und das Leben unter Sonderaufsicht in ausgewiesenen Siedlungsgebieten nicht beschreiben.

Es soll am Anfang meiner Ausführungen das Gedenken an die Opfer stehen. Mehr als eine Million Russlanddeutsche erlitten das Leid des Heimatverlustes.

Sie wurden für immer von ihrem materiellen und kulturellen Nährboden entwurzelt.

Den Menschen, die auf dem Weg in die Verbannung und in den Arbeitslagern ihr Leben lassen mussten, gilt die besondere Trauer.

Menschlicher Verlust hinterließ in den Familien tiefe Wunden. Es gab kaum eine Familie, die dieses Schicksal unberührt ließ. Gedacht werden soll auch den kleinsten, den Kindern und Jugendlichen, die zu Tausenden in der Verbannung zu Waisen wurden, weil ihre Eltern in die Zwangsarbeiterlager mussten. Viele von denen sind heute noch lebende Zeugen dieser Zeit.

Unsere Anteilnahme gilt den Familien, die für lange Zeiten und sehr oft für immer getrennt oder auch ganz ausgelöscht wurden. Dieses menschliche Leid kann kaum eine Wiedergutmachung erfahren. Im Gedenken sollen alle Opfer gewürdigt werden.

Dies war eine menschliche Katastrophe mit nachhaltiger Wirkung. Die Erinnerung an diese Ereignisse soll der Nachwelt als Mahnung dienen.

Für ein angemessenes Verständnis dieser Katastrophe braucht es die Einsicht, dass neben dem Nationalsozialismus der Stalinismus ein totalitäres und menschenunwürdiges System war. Hitler und Stalin waren zutiefst verfeindet, dennoch sind sie oft genug in teuflischer Weise zu gemeinsamen Verbrechern geworden.

Es ist keine Relativierung der unvergleichbaren Verbrechen Hitlers und des nationalsozialistischen Deutschlands, wenn wir uns bei unserem Gedenken der Untaten Stalins bewusst werden.

Auch heute, zwanzig Jahre nach dem Fall des Eisernen Vorhangs, muss die Auseinandersetzung dem Nationalsozialismus wie dem Stalinismus gelten. Deutschland und Russland haben deshalb eine gemeinsame Verantwortung gegenüber den Russlanddeutschen, die die Bundesregierung in Zusammenarbeit mit der russischen Regierung wahrnimmt.

Auch in der Bundesrepublik Deutschland, in unserer Gesellschaft, die sich so weltoffen zeigt, gibt es immer wieder Ressentiments gegenüber Russlanddeutschen. Sie zielen darauf ab, dass ihnen ihr Deutschsein unter anderem aufgrund der oft mangelhaften deutschen Sprachkenntnisse nicht anerkannt wird. Dass Russlanddeutsche einer jahrzehntelangen systematischen und repressiven Assimilierungspolitik ausgesetzt waren, ist der breiten Öffentlichkeit zum größten Teil nicht bewusst.

Es sollte ein vorrangiges Ziel der Integrationspolitik sein, die Öffentlichkeit für den Leidensweg der Russlanddeutschen zu sensibilisieren.

Die historisch-moralische Verpflichtung der Bundesrepublik Deutschland gegenüber den Deutschen aus den Staaten der ehemaligen Sowjetunion macht die Solidarität und das Bemühen um eine angemessene Wiedergutmachung zu einem besonderen Anliegen.

Seit den Sechzigerjahren nimmt die Bundesrepublik Deutschland Russlanddeutsche aufgrund der Aussiedlerbestimmungen nach dem Bundesvertriebenengesetz auf.

Die Aussiedlerpolitik gehört zu den festen Konstanten der Bundesrepublik. Viele Organisationen und Privatpersonen haben sich in den Jahrzehnten seit Kriegsende bei der Aussiedleraufnahme verdient gemacht.

Insbesondere möchte ich die Leistung der Landsmannschaft der Deutschen aus Russland, als zentrale Interessensvertretung der Russlanddeutschen hervorheben.

Lieber Herr Vorsitzender Fetsch, mit Ihrem langjährigen Engagement, zum Beispiel durch die Monatszeitschrift "Volk auf dem Weg" oder die gleichnamige Wanderausstellung, tragen Sie maßgeblich zur Aufklärung über Geschichte und Schicksal der Russlanddeutschen bei. Mit Ihrer Verbandsarbeit, den regelmäßigen Treffen, den Beratungsstellen und der politischen Vertretung Ihrer Anliegen nach Außen helfen Sie außerdem bei der Integration Ihrer Landsleute hier in Deutschland.

Für all dieses Engagement möchte ich Ihnen, lieber Herr Fetsch,

und allen, zum großen Teil ehrenamtlich Tätigen in Ihrer Landsmannschaft im Namen der Bundesregierung große Anerkennung aussprechen und sehr herzlich danken!

Die Bundesregierung bekennt sich auch in ihrer Koalitionsvereinbarung von 2009 zur "besonderen Verantwortung für die Deutschen aus den Nachfolgestaaten der Sowjetunion, die als Aussiedler zu uns gekommen sind oder als deutsche Minderheiten in diesen Ländern leben".

Die einzigartige Kulturleistung der Russlanddeutschen muss gepflegt und wo immer möglich - erhalten bleiben. Deshalb engagiert sich auch mein Ressort für die Interessen der Russlanddeutschen. Allein in den vergangenen vier Jahren sind aus dem Etat meines Hauses über eine Viertelmillion Euro in kulturelle und wissenschaftliche Projekte geflossen.

Ich denke dabei zum Beispiel an das grundlegende Forschungsprojekt der Universität Heidelberg zur Geschichte der Russlanddeutschen seit den Anfängen der Kolonisation bis heute.

Auch der Museumsverein für russlanddeutsche Kultur und Volkskunde, der das Museum für russlanddeutsche Kulturgeschichte in Detmold trägt, hat jüngst eine Projektförderung erhalten. Sie ermöglichte den Austausch mit Museumsleuten aus Omsk, Odessa und Saratow.

Auch das durch mein Haus finanzierte Institut für Kultur und Geschichte der Deutschen in Nordosteuropa in Lüneburg ist mit Wissenschaftlern besetzt, die zur russlanddeutschen Geschichte forschen.

Und nicht zuletzt muss die Geschichte und das Schicksal der Deutschen in Russland ein fester Bestandteil der Dokumentationsstätte "Flucht, Vertreibung, Versöhnung" in Berlin werden. Dort entsteht ein Ausstellungshaus, das im Geist der Versöhnung und im historischen Kontext die Erinnerung an Flucht, Vertreibung und Deportation während und nach dem Zweiten Weltkrieg dokumentieren wird.

Der bisherige Weg zur Errichtung dieser Dokumentationsstätte war politisch nicht immer leicht, aber wir werden sie gemeinsam mit dem Bund der Vertriebenen verwirklichen. An dieser Stelle möchte ich Ihnen, lieber Herr Fetsch, für Ihre konstruktive Mitarbeit als Mitglied im Stiftungsrat der Stiftung "Flucht, Vertreibung, Versöhnung" herzlich danken.

Ebenso bedanke ich mich bei dem Vorstandsmitglied Ihrer Landsmannschaft, Alfred Eisfeld, der seinen großen historischen Sachverstand in den Wissenschaftlichen Beraterkreis einbringt. Damit ist gewährleistet, dass die Sichtweise der Deutschen aus Russland kompetent in die Stiftungsarbeit einfließt und die Dokumentation dieser Schicksale nicht zu kurz kommt.

Meine Damen und Herren,

ich möchte an dieser Stelle die Gelegenheit nutzen, die Leistungen Russlanddeutscher auf dem Gebiet der Kultur zu würdigen. In der Sammlung der Ostdeutschen Galerie in Regensburg befinden sich viele Werke russlanddeutscher Künstler wie Peter Weibel, der in Odessa geboren wurde.

Zu den überragenden Pianisten der letzten Jahrzehnte, der Weltruhm erlangte, gehört der in der Ukraine geborene und 1997 verstorbene Swjatoslaw Richter, dessen Vater einer deutschen Kaufmannsfamilie angehörte. Es sind Komponisten wie Alfred Schnittke, der 1934 in Engels geboren wurde, Schauspielerinnen wie Olga Tschechowa, die in Armenien auf die Welt kam.

Russlanddeutsche Schriftsteller haben vielfach vor Augen geführt, was Diktatur und Krieg, Vertreibung und Verbannung konkret bedeuteten.

Viktor Heinz zum Beispiel hat uns in seiner Dramentrilogie "Auf den Wogen der Jahrhunderte" die Leidenszeiten der Russlanddeutschen von der Ansiedlung bis zur Kollektivierung, Deportation und Umsiedlung nach Sibirien unter Stalin nahegebracht; er spannt von dort den Bogen bis zum Verlassen der Heimat und der Aussiedlung in die Bundesrepublik Deutschland.

Auch junge russlanddeutsche Autorinnen und Autoren fanden ihr Thema: In ihrem Roman "Die Fische von Berlin" erzählte Eleonora Hummel die Lebensgeschichte ihres Großvaters aus der Perspektive eines Mädchens.

Die Schlagersängerin Helene Fischer - 1984 in Krasnojarsk in Russland geboren wurde 2010 mit dem Echo-Musikpreis ausgezeichnet und ist das beste Beispiel dafür, dass Deutsche aus Russland auch heute in der Mitte unseres Kulturlebens stehen.

Meine Damen und Herren,

die gemeinsame Kultur ist die Grundlage unserer Gesellschaft, sie schafft Identität. Die Russlanddeutschen haben zu der uns verbindenden Kultur einen wertvollen Beitrag geleistet, den wir pflegen und wo immer möglich erhalten wollen.

Die Regierung unter Bundeskanzlerin Angela Merkel möchte dabei ein aufgeschlossener und verlässlicher Partner sein.