Redner(in): Gerhard Schröder
Datum: 05.11.2000

Anrede: Lieber Herbert Mai, sehr geehrter Herr Ministerpräsident, liebe Kolleginnen und Kollegen, liebe Kolleginnen und Kollegen,
Quelle (evtl. nicht mehr verfügbar): http://archiv.bundesregierung.de/bpaexport/rede/99/23499/multi.htm


lassen Sie mich zu Beginn ein Thema ansprechen, das mir besonders am Herzen liegt: Die überwältigende Mehrheit der Bevölkerung ist entsetzt über rassistische Pöbeleien und Gewalttaten, die übrigens keineswegs nur im Osten unseres Landes vorkommen. Ich denke, ich spreche in euer aller Namen, wenn ich sage: Die große Mehrheit der Deutschen verurteilt die abscheulichen Taten.

Polizei und Justiz in unserem Land werden mit aller Härte und Entschlossenheit gegen fremdenfeindliche Gewalt vorgehen. Wir werden nicht dulden, dass Vereine oder Parteien ein Umfeld bieten, in dem neonazistischer Terror gedeihen kann. Das ist der Grund, warum die Bundesregierung und, wie ich hoffe, auch der Bundesrat die nötigen Schritte zum Verbot der rechtsradikalen NPD bereits in Kürze einleiten werden.

Wenn Rechtsradikale und Neonazis sich anmaßen, sie könnten darüber bestimmen, wer bei uns unbehelligt leben und arbeiten darf, dann ist das eine Herausforderung an den Staat und an die gesamte Gesellschaft. Darauf, so denke ich, werden Staat und Gesellschaft unnachgiebig reagieren. Es geht dabei nicht um weniger als um die Verteidigung des Rechtsstaates, also die Verteidigung des Gewaltmonopols und die Verteidigung der Grundwerte unserer Verfassung. Für mich ist aber auch klar: Der Staat kann das Problem rechtsextremer Gewalt nicht allein lösen. Das ist vielmehr eine Aufgabe für uns alle. Ich habe an anderer Stelle schon gesagt - und ich will es hier wiederholen: Wir brauchen in der Tat den Aufstand der anständigen Deutschen gegen den rassistischen Pöbel. Ich erwarte, dass der kommende Donnerstag - das ist der 9. November - zu einer machtvollen Demonstration gegen rechte Gewalt in Berlin wird.

Vor diesem Hintergrund sind wir Zeugen einer, wie ich finde, grotesken Debatte über das, was einige in unserem Land "deutsche Leitkultur" nennen. Ich habe nicht den Eindruck, dass diese Debatte unsere Gesellschaft weiter bringt. Vielleicht soll sie das auch nicht. Sie klärt nichts, jedenfalls keinen Sachverhalt. Derart verquaste Begrifflichkeit lenkt nur vom eigentlichen Thema ab. Das eigentliche Thema in unserer Gesellschaft heißt: Was ist die Basis, auf der Deutsche und Nicht-Deutsche bei uns in unserem Land friedlich miteinander leben können und leben sollen?

Ich will zur Klarstellung nur drei Punkte nennen:

Erstens: Jeder, der in Deutschland leben will, hat unsere Verfassung zu achten. Ihre Werte, ihre Normen sind in juristische Form gegossene Konsequenz der europäischen Aufklärung. Wer in diesen Zeiten meint, die Probleme, um die es geht, seien national alleine zu lösen, verhält sich in einer Weise hinterweltlerisch, wie ich das kaum mehr für möglich gehalten hätte. Diese Werte unseres Grundgesetzes, unserer Verfassung sind für jeden Bürger verbindlich. Die Normen dieses Grundgesetzes hat jeder Bürger und jede Bürgerin, ob Deutsche oder nicht, zu befolgen. Das ist es ja gerade, was wir denjenigen beibringen müssen, die in rassistischer Verblendung meinen, anderen ihr Daseins- und Lebensrecht bestreiten zu können.

Zweitens: Die aus der Verfassung folgende gesetzliche Ordnung hat jeder, ob Deutscher oder nicht Deutscher, einzuhalten. Wenn ich sage "jeder hat Recht und Gesetz einzuhalten", dann richtet sich das auch an hohe und höchste politische Würdenträger. Auch das sollten die Debattierer der Leitkultur begreifen. Recht und Gesetz gilt für jedermann, gleichgültig in welcher Position. Das wird man vielleicht erneut vor dem Hintergrund dieser Debatte wieder klar machen müssen.

Drittens: Wer dauerhaft in einem Land leben will - bei uns oder anderswo - , sollte ob seiner Integrationswilligkeit in der Lage und bereit sein, die Sprache des Landes zu lernen. Es sollte sich jeder darum bemühen, nicht weil wir irgendjemandem etwas aufdrängen wollen, sondern weil das die Voraussetzung für geglückte Integration ist und bleiben wird.

Ob jemand darüber hinaus Goethe mehr liebt als Dostojewskij, oder Hemingway mehr als Günter Grass, ist nun wirklich seine Privatsache. Ob er Sauerkraut mag, Knödel aber nicht, soll er auch selbst entscheiden. Welche Religion er hat und ausübt, ist ihm nach dem Grundgesetz selbst überlassen. Mein Rat an die Eiferer der CDU und CSU ist: Orientiert euch doch ein bisschen mehr am alten Fritz, den ihr sonst doch immer vor euch hertragt. Denn er wusste seinerzeit schon, dass zu einer toleranten Gesellschaft gehört, dass jeder nach seiner Fasson selig werden kann.

Wenn man einen entscheidenden Schritt in die Zukunft unternimmt, ist man gut beraten, das Bisherige einmal zu bilanzieren. Zur Geschichte der ÖTV und ihrer Vorgängerorganisationen gehört, dass der Transportarbeiterverband vor genau 100 Jahren die ersten Tarifverträge ausgehandelt hat. Ich denke aber auch an die vielen Opfer, die eurer Gewerkschaft der Naziterror abverlangt hat. Das war für diese Gewerkschaft eine Zeit zwischen Widerstand und Wartestand. Eure Vorsitzenden Anton Reißner und Otto Becker wurden verfolgt und inhaftiert. Männer wie Adolph Kummernuss, Herrmann Knüfken und Hans Jahn waren im Widerstand aktiv. Nach dem Krieg waren es insbesondere die Gewerkschaften des öffentlichen Dienstes, die sich sowohl um die Versorgung der Bevölkerung als auch um die notwendige Entnazifizierung verdient gemacht haben.

Darüber hinaus hat die ÖTV früh auf gesellschaftliche Entwicklungen reagiert. 1982, um nur das zu nennen, habt ihr mit Monika erstmals eine Frau an die Spitze der Gewerkschaft gewählt. Aber das war es nicht allein. Diese Gewerkschaft hat sich auch immer in politische Fragestellungen eingemischt und das zum Guten unseres Landes. So haben die Gespräche von Heinz Kluncker in der Sowjetunion, Polen und der CSSR Mitte der 60er Jahre wichtige Impulse für die dann so erfolgreiche Ostpolitik von Willy Brandt gegeben. Tarifpolitische Erfolge waren 1966 der sogenannte Versorgungstarifvertrag, 1972 die 40-Stunden-Woche im öffentlichen Dienst, der 1988 die 38, 5-Stunden-Woche folgte. Die ÖTV hat stets wichtige Impulse für die Reform des öffentlichen Dienstes gegeben. Viele dieser Anstöße haben wir aufgenommen, und zwar auch wieder aktuell. Der Grundgedanke unseres Programms "Moderner Staat, moderne Verwaltung" ist der aktivierende Staat. Bürgerorientierung und effiziente Verwaltung sind Prinzipien und Handlungsauftrag zugleich. Sie sollen und werden im Konsens mit der ÖTV durchgesetzt werden.

Im Laufe der Jahre haben sich die Herausforderungen für die Gewerkschaften gewandelt, und zwar für alle. Heute erleben wir eine wirklich rasante Entwicklung in unserer Gesellschaft. Der Dienstleistungssektor durchdringt die traditionellen Industriebereiche immer stärker. Die neuen Medien boomen, Kommunikations- und Technologien halten Einzug in fast jeden Lebensbereich. Wenn es um Jobpotenziale der Zukunft geht, sehe ich vor allen Dingen in diesen Dienstleistungssektoren gewaltige Chancen. Ob Erziehung und Unterricht, Pflege und Gesundheitsdienstleistungen, Beratung, Bank- und Finanzdienstleistungen oder bei sozialen und haushaltsbezogenen Dienstleistungen - all diese Bereiche haben nach meiner Auffassung eine große Zukunft.

Daneben wird der Informations- und Kommunikationssektor massiv an Bedeutung gewinnen. In diesem Zusammenhang nur ein paar Zahlen: Derzeit gibt es allein in der Informationswirtschaft 1,8 Millionen Beschäftigte. Alle Prognosen, die wir kennen, gehen von einem weiteren Zuwachs um 750.000 innerhalb der nächsten zehn Jahre aus. Auch andere Bereiche werden von dieser Entwicklung profitieren. Ich denke zum Beispiel an Transport und Logistik, was einer euerer Organisationsbereiche ist. Der Informations- und Kommunikationssektor hat im letzten Jahr rund 205 Milliarden DM umgesetzt. Schon in fünf Jahren soll die Schwelle von 300 Milliarden DM übersprungen werden. Dann wäre der I- und K-Sektor der größte Wirtschaftszweig in Deutschland überhaupt.

Das sind nur wenige Zahlen, die aber eines verdeutlichen: Für Verdi gibt es alle Hände voll zu tun, denn die verschiedenen Dienstleistungsbereiche sind heute noch sehr unterschiedlich gewerkschaftlich organisiert.

Für mich ist klar: Die Sicherung der gesellschaftlichen Teilhabe ist und bleibt auch auf dem Weg in die Informations- und Dienstleistungsgesellschaft eine der wichtigen Handlungsmaximen sozialdemokratischer Politik. Wir haben schon eine Menge erreicht. Wir haben zusammen mit Herbert Mai im "Bündnis für Arbeit" im Sommer 1999 eine mehrjährige Offensive zum Abbau des Fachkräftemangels in der Informationsgesellschaft vereinbart.

Mit dem I- und T-Sofortprogramm vom März haben wir gemeinsam mit der ent-sprechenden Wirtschaft die letztjährige Bündnisoffensive weiter entwickelt. Die Wirtschaft wird ihr Ausbildungsplatzangebot im IT-Bereich weiter steigern. Bis 2003 sollen es 60.000 sein. Als kurzfristig wirksames Element gegen den Fachkräftemangel haben wir die so genannte "Green Card" auf den Weg gebracht. Im Zeitalter der Informations- und Dienstleistungsgesellschaft müssen wir aber auch unsere Auffassung davon, was soziale Gerechtigkeit ist, um den Aspekt "gleiche Zugangschancen zu den neuen Medien" erweitern. Deshalb wollen wir die Teilhabe der Menschen an den Möglichkeiten, die die neuen Medien bieten, fördern.

Erstens: Wir haben als sozialdemokratisch geführte Bundesregierung den Anspruch, dass für jeden in unserer Gesellschaft, der dies will, der Zugang zu den neuen Medien möglich ist. Hier geht es um Berufs- und Lebenschancen von einer Dimension, die manch einer noch gar nicht richtig vergegenwärtigt hat.

Zweitens geht es darum, dass wir uns aus ökonomischer Sicht nicht leisten können, Begabungen und Talente in unserer Gesellschaft nicht zu nutzen.

Auch die Wirtschafts- und Steuerpolitik hat den Menschen zu dienen. Sie hat Beschäftigung zu sichern und Wachstum zu fördern. Die Steuerreform, die wir gemacht haben, entlastet Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Das Entlastungsvolumen beträgt insgesamt 93 Milliarden DM bis zum Jahre 2005. Die Wirtschaftsforschungsinstitute kommen in ihrem aktuellen Herbstgutachten zu dem Schluss, dass unsere Reform Wachstum und Beschäftigung weiter anregen wird. Durch den Konsolidierungskurs in der Haushaltspolitik gewinnen wir Spielräume für eine Politik, die auf Investitionen setzt, zurück. Wir können nicht einerseits von Modernisierung und Zukunftsfähigkeit reden und auf der anderen Seite heute durch die weitere Anhäufung des Schuldenberges die Zukunft unserer Kinder verfrühstücken.

Wir sind - und das dürfte ja wohl eine Gewerkschaft besonders interessieren - auch bei der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit entscheidend vorangekommen. Hatten wir noch Anfang 1998, also kurz bevor wir ins Amt kamen, einen traurigen Höchststand von gut 4,8 Millionen Arbeitslosen zu beklagen, so sind es derzeit unter 3,7 Millionen. Das ist immer noch zu viel - keine Frage. Aber eine Million weniger kann sich sehen lassen. Ich will in diesem Zusammenhang meine Gegner daran erinnern, dass ich noch genau im Ohr habe, wie hämisch sie noch vor anderthalb Jahren waren, als ich gesagt habe: Diese Regierung wird sich am Rückgang der Arbeitslosigkeit messen lassen. - Das gilt immer noch. Das werden wir dann im Jahr 2002 auch tun.

Manche Neunmalklugen unter den Statistikern sagen: Die Arbeitslosigkeit nähme nur auf Grund der demografischen Entwicklung ab. Das ist falsch. Dieses Argument wird durch die Zahlen des Herbstgutachtens eindeutig widerlegt. Von 1998 bis ins nächste Jahr hinein - so weit reicht diese Prognose - nimmt die Zahl der Erwerbstätigen jedes Jahr um eine halbe Million zu. Das hat nicht nur, aber auch mit unserer Politik zu tun. Nehmen wir als Beispiel den Lehrstellenmarkt. Auch hier hatten wir Ende September erstmals seit 1995 wieder mehr offene Stellen als unvermittelte Jugendliche. Gleichwohl - das ist einzuräumen - ist die Verteilung längst nicht so, wie ich mir das wünsche. Wir haben vor allen Dingen im Osten unseres Landes immer noch gewaltige Probleme. Niemand darf darüber hinwegsehen. Gerade hier in den ostdeutschen Ländern müssen wir uns noch gewaltig anstrengen, damit das wohnortnahe Angebot an Ausbildungsplätzen verbessert wird. Ich sage das aber nicht nur an die eigene Adresse. Auch an die Adresse der Wirtschaft sage ich: 56 Prozent der Betriebe können ausbilden. Aber von diesen 56 Prozent bildet tatsächlich nur jeder zweite Betrieb aus. Das ist eindeutig zu wenig. Das muss mehr werden. Wir haben uns darauf im "Bündnis für Arbeit" auch verständigt. Es gilt jetzt, dass diejenigen, um die es dabei geht, auch einhalten, was sie versprochen haben.

Die aktive Wirtschafts- und Steuerpolitik muss durch die zukunftsorientierte Reform der sozialen Sicherungssysteme ergänzt und flankiert werden, vor allem der Rentenversicherung. Wir streben in der Altersversicherung eine Reform an, die für viele Jahre Bestand haben soll. Ich denke, dass die demographischen Rahmendaten bekannt sind. Sie begründen die Notwendigkeit einer wirklich umfassenden Reform.

Ihr wisst genauso gut wie ich, wie sich die Arbeitswelt in der letzten Zeit verändert hat. Das gegenwärtige umlagefinanzierte Rentensystem hängt vor allen Dingen an Vollerwerbsbiografien. Wir haben aber den Tatbestand, dass das Bruttoinlandsprodukt bei uns immer mehr von Beschäftigten mit gebrochenen Erwerbsbiografien hergestellt wird, bedauerlicherweise immer weniger mit Vollerwerbsbiografien. Das ist die eine Seite, die auf das umlagefinanzierte Rentensystem Druck ausgeübt wird. Die andere ist, dass die Menschen in unserem Land - Gott sei Dank - älter werden. Die eindeutige Konsequenz ist eine längere Rentenbezugsdauer. Wie sollte das auch anders sein? - Das drückt natürlich auf das umlagefinanzierte Rentensystem.

Wir haben aber noch einen dritten Punkt zu beachten. Der geht die in den Betrieben, in den Dienstleistungszentren und den Verwaltungen aktiv Beschäftigten an. Keineswegs nur wegen der Lohnnebenkosten, die die Unternehmen bezahlen müssen - Unternehmen, die wir im globalen Wettbewerb wettbewerbsfähig halten müssen - , sondern vor allen Dingen, weil bei der Umlagefinanzierung die Hälfte der Beiträge von den aktiv Beschäftigten zu bezahlen ist, müssen und wollen wir die Beiträge stabil halten.

All diejenigen, die uns empfehlen,"Löst doch eure Finanzierungsprobleme, indem ihr etwas großzügiger mit dem Anstieg der Beiträge seid", machen sich verantwortlich. Wenn wir das denn realisierten - was wir nicht tun werden - , bestünde die Gefahr einer Flucht der Jungen aus den Rentensystemen. Für diejenigen, die gerade in der Familiengründungsphase sind und sich ein Häuschen bauen wollen, wären die Belastungen, die ihnen ansonsten auferlegt würden, so hoch, dass sie sie nicht mehr auszuhalten im Stande wären. Unsere Konzeption ist also, das Rentensystem für die Älteren so sicher wie möglich zu machen, es aber zugleich für die Jüngeren bezahlbar zu halten. Das ist ein Grundsatz aktiver Solidarität zwischen den Generationen, der nicht verletzt werden darf.

Wer das indessen will, wer so vorgehen will, der muss neben der Umlagefinanzierung - da kann man so viel "Buh" rufen, wie immer man will - das aufbauen, was man Kapitaldeckung nennt, also eine zweite Säule hinstellen, damit das gesamte System auch in Zukunft tragfähig bleibt. Das werden wir tun, weil das notwendig ist. Da kann man noch so viel erzählen. Es ist notwendig und wir werden es machen. Basta! Man muss ja auch einmal deutlich werden, verehrte Kolleginnen und Kollegen.

Darüber hinaus haben wir die Aufgabe, große Reformvorhaben in der betrieblichen und der Arbeitswelt anzupacken. Mitbestimmung und Betriebsverfassung müssen auch in der Informations- und Dienstleistungsgesellschaft ihren Stellenwert behalten. Die Mitbestimmung der Arbeitnehmer im Betrieb und im Unternehmen ist ein wesentlicher Grundpfeiler unserer Wirtschafts- und Sozialordnung. Dabei ist die Betriebsverfassung der Rahmen, den die Betriebspartner mit Leben füllen.

Unser Gesetzentwurf wird demnächst auf dem Tisch liegen. Ziel unserer Reform sind moderne und flexible Betriebsverfassungen. Wichtige Forderungen der Gewerkschaften werden dabei erfüllt werden. Wir werden für praxisnahe und flexible Regelungen und für maßgeschneiderte Mitbestimmungsstrukturen sorgen. Wir wollen verhindern, dass mitbestimmungsfreie Räume entstehen. Wir werden die Wahl der Betriebsräte unbürokratischer machen, und wir werden die Rechte des Betriebsrates bei Fragen der Qualifizierung, aber auch bei Fragen des Umweltschutzes stärken.

Wir werden darüber hinaus einen Rechtsanspruch auf Teilzeitarbeit schaffen. Wir sind davon überzeugt, dass das eine sinnvolle Balance zwischen den Erwartungen, insbesondere von Frauen in der Arbeitswelt, und der notwendigen Flexibilität der Unternehmen geben wird. Wenn es in den Betrieben nicht geht, dann wird man Teilzeitarbeit auch verweigern können. Aber immer dort, wo es möglich ist, wollen wir, dass die Beschäftigten auch die Möglichkeit haben und sie nutzen. Darüber hinaus werden wir eine sinnvolle Balance schaffen zwischen den betrieblichen Notwendigkeiten, etwa auch befristet Menschen einzustellen, und der nun einmal nötigen Sicherheit der Beschäftigten, was ihre Arbeit und die Perspektive für sie selbst und ihre Familien angeht.

Für uns sind das drei wichtige Reformvorhaben, die wir durchsetzen werden. Dabei werden wir auch keine Rücksicht auf das Geschrei derjenigen nehmen können, die sich mit den Einzelheiten der Entwürfe nicht auseinander setzen, die aber - wie viele Verbände - meinen, dass die Durchsetzung von Verbandsinteressen identisch mit der Durchsetzung von Parteiinteressen sein dürfte. Das werden und wollen wir nicht zulassen.

Die Organisationsbereiche der ÖTV sind breit gefächert. Ein zentraler Bereich eurer Organisationsarbeit liegt - wir wissen das alle - in der Energiewirtschaft. Die Energiewirtschaft gehört zu den Schlüsselbranchen unserer Volkswirtschaft, weil ohne Energieproduktion nichts läuft. Auf Grund der Liberalisierung erlebt die Energiewirtschaft derzeit einen beispiellosen Strukturwandel. Viele von euch sehen das mit Sorge. Ich weiß das wohl. Für mich ist klar: Politik hat diesen Strukturwandel aktiv zu begleiten und ihn zu gestalten. Dazu gehört auch die Umsetzung des Energiekonsenses zwischen den Energieversorgungsunternehmen und der Bundesregierung. Wir wollen und brauchen einen starken Energiestandort Deutschland. Die Stromproduktion im eigenen Land ist und bleibt ein entscheidender Wirtschaftsfaktor.

Vor allem ist sie ein wichtiger Beschäftigungsfaktor. Wenn ich mich für einen starken Energiestandort Deutschland einsetze - das werde ich weiter tun - , geht es mir nicht zuletzt um die Arbeitsplätze in diesem Bereich. Übrigens setzen wir uns gerade auch deshalb für die Kraftwärmekopplung ein. Mit dem Soforthilfeprogramm haben wir für rasche Hilfe gesorgt. Bis zum Ende des Jahres - das ist mit Herbert Mai vereinbart - werden wir Eckpunkte für den Ausbau der Kraftwärmekopplung vorlegen. Das macht umwelt- und auch beschäftigungspolitisch Sinn.

Diese Position werden wir mit Nachdruck gegenüber der EU-Kommission in Brüssel vertreten. Es ist doch kaum zu glauben, dass auf der einen Seite von der Kommis-sion in Europa anspruchsvolle Klimaziele festgelegt werden - was in Ordnung ist - , andererseits aber Maßnahmen wie zum Beispiel die Kraftwärmekopplung blockiert werden, die diese Klimaschutzziele zu erreichen helfen. Das ist doch ein Widerspruch in sich, den auch die Kommission einsehen muss. Wir brauchen hier mehr Klarheit. Ich weiß, dass die kommende schwedische Präsidentschaft ein besonderes Schwergewicht auf diesen Bereich legen wird. Wir werden sie dabei unterstützen.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, auch die Gewerkschaften stehen auf dem Weg in die Informations- und Dienstleistungsgesellschaft vor neuen Herausforderungen. Die wichtigste: Die Gewerkschaften müssen für die Beschäftigten interessant bleiben. Wo sie das nicht sind, müssen sie es werden. Nur wer aktiv auf die Beschäftigten zugeht, wird Organisationsreserven mobilisieren können. Ich meine, die Chancen dafür sind gut. Gewerkschaften und Beschäftigte verfolgen identische Interessen: Mitsprache am Arbeitsplatz, bei Arbeitszeit und Arbeitsabläufen, Mitgestaltung der Zukunft in Verwaltung und Unternehmen sowie die Entwicklung neuer Produkte und Dienstleistungsangebote.

Bei aller notwendigen Flexibilität gibt es aber auch Bewährtes, das weiterhin Bestand haben sollte. Das Prinzip "ein Betrieb - eine Gewerkschaft" gehört für mich dazu. Die Gründung der Vereinten Dienstleistungsgewerkschaft ist deswegen die richtige Antwort auf den rasanten Strukturwandel in der Arbeitswelt.

Dieser Gewerkschaftstag richtet den Blick nach vorn. Jetzt zählt die endgültige Entscheidung über die Gründung der Vereinten Dienstleistungsgewerkschaft im Frühjahr. Euer Gewerkschaftstag ist auch ein Signal für die Kolleginnen und Kollegen der Deutschen Angestelltengewerkschaft, der Deutschen Postgewerkschaft, der Gewerkschaft "Handel, Banken und Versicherungen" sowie der IG Medien. Wenn alles gut geht, wovon ich ausgehe, liegen bis Ende November Satzung und Verschmelzungsvertrag beim Notar.

Ich bin sicher, dass sich die Vereinte Dienstleistungsgewerkschaft schon ab März nächsten Jahres zu einer wirkungsvollen Interessenvertretung entwickelt. Wir wollen das. Wir wollen einen starken Partner für unsere Arbeit. Eurem Gewerkschaftstag, dem vermutlich letzten ordentlichen der traditionsreichen ÖTV, wünsche ich nicht nur aus diesem Grunde viel Erfolg. Ich wünsche es deshalb, weil wir alle, die ganze Gesellschaft, etwas von starken Gewerkschaften haben, auch und gerade von einer starken Dienstleistungsgewerkschaft.