Redner(in): Hans Martin Bury
Datum: 10.11.2000
Anrede: Anrede,
Quelle (evtl. nicht mehr verfügbar): http://archiv.bundesregierung.de/bpaexport/rede/98/23798/multi.htm
der Bundesrat hat in seiner Sitzung am 20. Oktober Sie, Herr Ministerpräsident Beck, für das neue Geschäftsjahr zu seinem Präsidenten gewählt. Ich gratuliere Ihnen herzlich zu Ihrer Wahl. Zugleich darf ich Ihnen die besten Wünsche des Bundeskanzlers und der gesamten Bundesregierung übermitteln.
Ebenfalls im Namen des Bundeskanzlers und der gesamten Bundesregierung möchte ich Ihnen, Herr Ministerpräsident Biedenkopf, für die gute Zusammenarbeit während der vergangenen zwölf Monate danken.
In Ihre Amtszeit, Herr Ministerpräsident Biedenkopf, fiel der zehnte Jahrestag der Wiedervereinigung. Zehn Jahre Deutsche Einheit sind auch zehn Jahre gelebter Föderalismus in ganz Deutschland. Schon während der Wende zeigte sich, dass in der DDR gegen alle zentralstaatlichen Bestrebungen das föderative Grundgefühl erhalten geblieben war. Mit dem Vollzug der staatlichen Einheit lebten die wiedergegründeten Länder auf. Am 9. November 1990, gestern vor genau zehn Jahren, konnten ihre Ministerpräsidenten erstmals an einer Sitzung des Bundesrates teilnehmen. Seitdem sind sie selbstverständlicher Teil des Verfassungsorgans Bundesrat.
Deshalb ist es kaum noch bemerkenswert, dass die Präsidentschaft im Bundesrat jetzt von einem ostdeutschen Bundesland auf ein westdeutsches Bundesland übergegangen ist.
Sachsen und Rheinland-Pfalz symbolisieren heute in ganz anderer Weise die geographische und politische Lage Deutschlands, nämlich seine Lage in der Mitte Europas. Rheinland-Pfalz im Westen grenzt an Frankreich, Luxemburg und Belgien, drei Gründungsmitglieder der Europäischen Union. Eine Grenze, die dank der europäischen Verflechtung bis hin zum Abkommen von Schengen und der Währungsunion immer weniger als nationalstaatliche Schranke empfunden wird. Sachsen im Osten hat Polen und Tschechien als Nachbarn, Staaten, die noch nicht Mitglieder der Europäischen Union sind. Sachsen liegt dadurch, obwohl mitten in Europa, an der Außengrenze der EU. Diese Außengrenze ist nur als Spätfolge der überwundenen Spaltung unseres Kontinents zu verstehen. Unser Ziel muss nach der Wiedervereinigung Deutschlands die Vollendung der europäischen Einheit sein.
Das vereinte Europa muss sich deshalb so organisieren und legitimieren, dass es die mittel- und osteuropäischen Länder möglichst bald in seinen Kreis aufnehmen kann. Deshalb - aber nicht nur aus diesem Anlass - muss es handlungsfähig, effizient, demokratisch legitimiert und bürgernah sein.
Die Bundesregierung nimmt ihre Verantwortung bei diesen Aufgaben mit großem Engagement wahr. Unser Ziel ist es, die Regierungskonferenz zu den institutionellen Reformen der Europäischen Union beim Europäischen Rat in Nizza im Dezember mit wirklichen Fortschritten in den zentralen Fragen abzuschließen.
Doch es geht nicht nur um die sogenannten left overs. Mit der Regierungskonferenz und der Erweiterung ist die europapolitische Agenda noch nicht abgeschlossen. Erforderlich ist darüber hinaus eine Präzisierung der Aufgabenverteilung zwischen der Europäischen Union, den Mitgliedsstaaten und den Regionen. Gerade die Länder fordern dies mit Nachdruck, zu Recht. Das Unbehagen an den bestehenden Strukturen ist nachvollziehbar. So wächst der Konflikt zwischen der gesamtstaatlichen Verpflichtung Deutschlands in der Europäischen Union und den innerstaatlichen Mitwirkungsrechten der Länder.
Ich bin aber überzeugt, dass Globalisierung und Regionalisierung zwei Seiten der selben Medaille sind. Dass also das Bedürfnis nach Identifikation, Einbindung, Heimat wächst, angesichts des zunehmenden Zwangs zu Mobilität und Flexibilität. Deshalb müssen Entscheidungen möglichst dort fallen, wo die betroffenen Menschen leben. Der Grundsatz der Subsidiarität sichert die bestmögliche Form der Teilhabe.
Aus diesem Grund ist es wichtig, in Nizza eine weitere Regierungskonferenz zu vereinbaren. Die Bundesregierung weiß sich dabei mit den Ländern einig. Sie ist bereit, für die Abgrenzung von Zuständigkeiten rechtzeitig mit den Ländern eine gemeinsame Position zu entwickeln.
Ein starkes Europa braucht natürlich auch eine starke Kommission. Schwierig wird es jedoch, wenn die Kommission sich in Angelegenheiten einschaltet, bei denen nicht klar wird, warum sie plötzlich europaweit geregelt werden sollen. Die Daseinsvorsorge etwa gehört zu den gewachsenen und bewährten Strukturen unseres Landes.
Anrede, nicht nur in der Europäischen Union, auch in Deutschland gilt es Herausforderungen anzunehmen. Nach der Steuerreform liegt unsere wichtigste Aufgabe in der Reform der sozialen Sicherungssysteme, zunächst der Altersvorsorge. Hier ist ebenfalls unsere politischen Gestaltungskraft gefordert. Die absehbare - und, Herr Ministerpräsident Biedenkopf, in der Tat seit Jahren absehbare - demographische Entwicklung, die Veränderungen von Wirtschaftsstrukturen und Erwerbsbiographien lassen ein "Weiter so" nicht zu.
Die Zukunft unseres Landes hängt entscheidend davon ab, dass wir die Verantwortung zwischen Staat und Bürger fair teilen; eine neue Balance zwischen Eigenverantwortung und sozialer Sicherung schaffen.
Die ausgeprägten Verhandlungszwänge unseres Föderalen Systems erhöhen den Zwang zum Konsens, sie verbessern deshalb jedoch zugleich bei grundlegenden Entscheidungen die Möglichkeit langfristiger Weichenstellungen. Auf der anderen Seite folgt aus dem Zwang zur Koordination und Kooperation aber auch eine Verflechtung der Politik auf allen Ebenen. Genauso, wie wir in Europa fordern, dass möglichst jede Entscheidung eindeutig der ihr angemessenen Ebene zugewiesen wird, sollten wir auch im eigenen Land prüfen, ob und wie Zuständigkeiten klarer zugeordnet werden können. Zur Modernisierung der bundesstaatlichen Ordnung zählt auch die Neuordnung des Länderfinanzausgleichs. Der erste Schritt, das uns vom Bundesverfassungsgericht aufgegebene Maßstäbegesetz, wird den Bundesrat schon bald beschäftigen. Bereits in diesem Punkt wird unser aller Kompromissfähigkeit stark gefordert sein, ebenso wie später bei dem Finanzausgleichsgesetz. Breite Übereinstimmung besteht bereits darüber, dass der Solidarpakt fortgeführt wird. Die Menschen zwischen Erzgebirge und Ostsee arbeiten sich, wie Sie, Herr Ministerpräsident Biedenkopf, es neulich formuliert haben,"mit eigenem Fleiß, eigener Leistung, eigenem Willen und eigener Kraft" wieder nach vorn. Sie können bei diesem Neuaufbau weiterhin auf die Solidarität des gesamten Landes zählen.
Anrede,
gestern war der 9. November, oft als Schicksalstag der deutschen Nation bezeichnet. Das Datum steht für das Glück unserer wiedergewonnenen Einheit, es steht aber auch als Symbol für das finsterste Kapitel unserer Geschichte. Damals, hieß Widerstand, die eigene Freiheit zu riskieren, oft sogar das Leben. Aber es gab Menschen, die dazu bereit waren. Ich erinnere nur an den gerade verstorbenen ehemaligen Reichstagabgeordneten Josef Felder, ein Vorbild an Mut und Zivilcourage. Heute bedarf es keines vergleichbaren Muts, um dem Rechtsextremismus politisch entgegenzutreten. Das Engagement aller Demokraten ist erforderlich; viele Menschen haben dies gestern mit der großen Demonstration hier in Berlin gezeigt. Demonstrationen allein reichen aber nicht aus. Der demokratische Rechtsstaat muss alle Maßnahmen ergreifen, um Fremdenfeindlichkeit, Rechtsextremismus und Gewalt entgegenzutreten.
Der Bundesrat hat in dieser Sitzung zu entscheiden, ob er einen Verbotsantrag gegen die NPD stellt. Die Ministerpräsidentenkonferenz hat einen entsprechenden Beschluss gefasst, den ich ausdrücklich begrüße. Ich bitte Sie, bei der Entscheidung heute "Gesicht zu zeigen", sich nicht hinter anderen Verfassungsorganen zu verstecken. Jeder muss seinen Beitrag leisten. Der Verbotsantrag ist ein Schritt unter vielen. Ihn nicht zu machen wäre das falsche Signal.
Herr Präsident, Sie übernehmen zum ersten Mal den Vorsitz der Länderkammer. Ich wünsche Ihnen in diesem wichtigen Amt Mut, Tatkraft und eine glückliche Hand. Sie gelten in Rheinland-Pfalz und darüber hinaus als ein Regierungschef, der die Erwartungen der Bürger aus zahllosen persönlichen Begegnungen kennt. Wir alle wissen, dass nicht alle Erwartungen der Menschen an die Politik erfüllbar sind. Unser Ziel muss es aber sein, das Allgemeinwohl zu bestimmen und auch gegen Gruppeninteressen durchzusetzen. Herr Präsident, Sie haben zu Recht darauf hingewiesen, dass sich die Bürger heute mehr denn je politisch, gesellschaftlich und kulturell engagieren wollen.
Die Modernisierung unseres Staates und unserer Gesellschaft wird um so besser gelingen, je wirksamer wir das Prinzip der gesellschaftlichen Teilhabe zur Geltung bringen können.
Es ist nicht zu verkennen, dass die Dynamik manche Menschen überfordert, dass einige Sorge haben, beim gegenwärtigen Tempo nicht mehr mithalten zu können. Wir sollten gemeinsam für das Bewusstsein werben, dass Veränderung Chance bedeutet.
Wir müssen Chancen aufzeigen und Teilhabemöglichkeiten eröffnen; im Sinne der von Ihnen, Herr Präsident, skizzierten Bürgergesellschaft. Herr Ministerpräsident Beck, ich wünsche Ihnen auch in diesem Zusammenhang eine erfolgreiche Präsidentschaft.
Uns allen wünsche ich eine Fortsetzung der guten Zusammenarbeit zum Wohle unseres Landes.