Redner(in): Angela Merkel
Datum: 16. April 2012
Untertitel: in Berlin
Anrede: Liebe Maria Böhmer,liebe Kolleginnen aus dem Deutschen Bundestag,sehr geehrter Herr Sirin
Quelle (evtl. nicht mehr verfügbar): http://www.bundesregierung.de/Content/DE/Rede/2012/04/2012-04-16-merkel-jugend.html
Und vor allen Dingen Sie, liebe Jugendliche 100 Ausgewählte aus vielen, die Sie jetzt auf dem 3. Jugendintegrationsgipfel einen Tag lang zusammen sein und sich austauschen werden,
ich freue mich, dass dieser Gipfel eine gute Resonanz gefunden hat. Es haben sich sehr viele beworben, um an diesem Gipfel teilzunehmen wir mussten auswählen bzw. Maria Böhmer musste mit anderen auswählen. Das ist ja erst einmal schon ein gutes Zeichen. Ich vermute daher, dass Sie auch alle Lust haben, sich in die Diskussion heute einzubringen. Sie haben durchaus eine große Verantwortung, das Beste zu geben. Wir haben das will ich ausdrücklich sagen große Erwartungen. Schon zu Beginn meiner Arbeit als Bundeskanzlerin haben wir, Maria Böhmer und ich, uns sehr bewusst dafür entschieden, das Thema Integration hier im Bundeskanzleramt anzusiedeln, denn wir sind der tiefen Überzeugung, dass es sich dabei um eines der großen Zukunftsthemen handelt.
Integration ist ja fast so ein sperriges Wort wie Migrant. Die Kombination zum Ausdruck "Integration von Migrantinnen und Migranten in unserem Land" distanziert die Sache doch sehr vom täglichen Leben. Deshalb ist es gut, dass Sie Ihre persönlichen Erfahrungen einbringen und wir uns mit Hilfe dieser Erfahrungen überlegen können: Worauf müssen wir politisch achten? Politik kann einen Rahmen setzen. Wir können auf bestimmte Dinge achten, wir können uns um Kindergartenplätze kümmern, wir können uns um gute Schulen kümmern, wir können uns darum kümmern, dass Sprachkurse angeboten werden. Wir können vieles machen. Aber wenn das nicht einhergeht mit dem guten Willen der Menschen, um die es geht, dann haben wir gar keine Chance.
Von den 100Jugendlichen hier haben 50 einen offensichtlichen Migrationshintergrund und 50 gehören zu denen, die man als Deutsche bezeichnet wobei man ja bei denen, die etwa von den Hugenotten abstammen, wie zum Beispiel unser Verteidigungsminister Thomas de Maizière, auch hinterfragen könnte: Wann, in welchem Jahrhundert, ist aus der hugenottischen Familie, die einmal nach Deutschland kam, eigentlich eine als deutsch angesehene Familie ohne Migrationshintergrund geworden? Insofern ist eine solche Eingruppierung also ein fließender Prozess.
Hier sitzen also 50 mit der einen Lebenserfahrung und 50 mit der anderen. Was zeigt das? Das zeigt, dass wir zutiefst davon überzeugt sind, dass Integration eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe ist, wie man politisch sagen würde also eine Aufgabe, die an alle gerichtet ist: sowohl an die, die schon immer bzw. deren Familien viele Jahrzehnte, viele Jahrhunderte lang hier gelebt haben, als auch an diejenigen, die erst vor kurzem oder deren Familien vor wenigen Generationen hierhergekommen sind. Denn wenn sich nur eine Gruppe um Integration bemüht und die andere sagt, dass sie damit nichts zu tun haben will, dann wird das natürlich nicht klappen.
Insofern hoffe ich, dass Sie uns mit Ihren Erfahrungen, die Sie auch in die Workshops einbringen, sozusagen ein Stück näher an die realen Probleme führen. Deshalb bitte ich Sie, in diesen Diskussionen offen zu sein. Ich bitte Sie, keine Sorge zu haben, dass man, wenn man irgendetwas ausspricht, damit vielleicht eine schlechte Stimmung hervorruft. Wenn einer, der sich in den Kulturkreisen, aus denen Migrantinnen und Migranten kommen, vielleicht nicht allzu sehr auskennt, eine Frage stellt, dann soll er nicht die Sorge haben, ob er damit gerade zeigt, dass er etwas nicht weiß.
Ich glaube, zur Integration gehören Toleranz, Offenheit und auch ein kleines Stückchen Mut, das auszusprechen, was einen bewegt. Das ist auch meine Erfahrung aus meinen Bürgerdialogen, an denen immer auch Menschen mit Migrationshintergrund teilgenommen haben: Dass Fremdartigkeit und Unbekanntheit bei denen, die meinen, Sie kämen aus dem Kreis, dem alles bekannt sei, immer auch Reaktionen hervorrufen, die die Migrantinnen und Migranten vielleicht manchmal auch ein bisschen verschrecken, weil man die Motive nicht genau kennt. Da braucht man dann auch ziemlich viel Selbstbewusstsein, um über das zu sprechen, was einen eigentlich bewegt.
Das heißt, der erste Weg zu einer wirklichen Integration ist das gemeinsame Gespräch, die gegenseitige Offenheit und die Fähigkeit, sich Fragen zu stellen und aus dem eigenen Leben zu berichten. Dabei wird sicherlich auch herauskommen, dass jeder von uns egal, woher er kommt immer auch ein wenig geneigt ist, in Klischees zu denken. Man kann ja nicht alles, was es im Leben gibt, selbst erleben; also hat man von vielen Dingen, die man selbst nicht erlebt hat, irgendeine Vorstellung, weil jemand einmal etwas davon erzählt hat, wie das angeblich sein soll. Bis man es nicht selbst erlebt hat, hängt man eben an dieser Erzählung und denkt: So ist das immer. Deshalb ist es wichtig, dass wir aus dem Denken in Klischees herauskommen, dass wir uns aus dem realen Leben berichten und dass wir dies vor allen Dingen auch tun, indem wir uns sozusagen immer gewiss sind, dass jeder Mensch einzigartig ist.
Es gibt nicht "die" Türken und "die" Deutschen, sondern es gibt unter den Deutschen ziemlich Faule und vielleicht mehr Fleißige und das ist bei den Türken genauso. Das heißt, alle Klischees darüber, wer wie ist, sind falsch. Wir haben Lustige und Traurige, Wortkarge und Wortreiche in Deutschland. Wenn der Mecklenburger einen Sachsen trifft, dann fragt er sich: Was babbelt der dauernd? Und wenn der Sachse einen Mecklenburger trifft, dann fragt er sich: Kann der nicht auch einmal den Mund aufmachen? Also gibt es schon Vielfalt in unserem eigenen Land. Wir sind ohnehin ein Land, das eigentlich sehr offen gegenüber Vielfalt sein sollte. Denn Deutschland hat immer wieder die Erfahrung gemacht: Wenn wir uns auf Vielfalt eingelassen haben, dann hat uns das bereichert, weil wir auch völlig neue Erfahrungen in unsere Erkenntnisse aufnehmen konnten und daraus dann gemeinsam wieder etwas Gutes gemacht haben.
Viele Menschen begegnen sich hier 50 und 50, also insgesamt 100 in vier Workshops mit je 25Beteiligten. In der Bundesrepublik Deutschland mit noch über 80Millionen Menschen ist uns das Thema Integration deshalb so wichtig, weil die Zahl derer, die nicht auf eine jahrhundertelange deutsche Herkunft blicken, zunehmen wird, und weil wir einfach festgestellt haben: Integration funktioniert offensichtlich nicht ganz von alleine.
Wir haben sehr oft und sehr lange von "Gastarbeitern" gesprochen und uns nach 25 oder 30Jahren gewundert, dass die Gäste immer noch da waren. Das ist ja eine Möglichkeit, aber wir haben aufgehört, so über sie zu sprechen. Ich glaube, das war für die Partei, der ich angehöre ich spreche jetzt einmal für die CDU wirklich ein wichtiger Schritt. Wir haben einmal das gehört für mich zu den emotionalsten Begebenheiten, die ich jemals erlebt habe auf Einladung von Maria Böhmer die Gastarbeiter der ersten Stunde in das Kanzleramt eingeladen. Bis dahin war noch gar niemand auf eine solche Idee gekommen, obwohl sie einen Riesenbeitrag zu unserem Wohlstand geleistet haben. Es gab bei diesem Treffen sehr rührende Erzählungen. So hat etwa der ehemalige Vorsitzende der BASF, Herr Hambrecht, erzählt, wie er von einem italienischen Gastarbeiter seine ersten Brocken Italienisch und dieser seine ersten Brocken Deutsch gelernt hat. Das hat sich Schritt für Schritt entwickelt. Im Arbeitsleben insgesamt sind wir ja vielleicht schon am allermeisten integriert.
In Deutschland leben also 80Millionen Menschen mit einem wachsenden Anteil von Menschen, die aus anderen Ländern zu uns kommen. Es stellt sich die Frage: Was ist dabei die Aufgabe der Politik; und was müssen die Menschen selbst schaffen? Wir versuchen durch den Nationalen Aktionsplan Integration, den wir Ende Januar beschlossen haben, ein Gemeinschaftswerk auf die Beine zu stellen, mit dem wir die Kommunen, also die Städte und Gemeinden, die Länder und den Bund gemeinsam dazu zu bringen versuchen, bestimmte Dinge ganz normal werden zu lassen. Vieles machen wir auch heute noch über sogenannte Modellprogramme. Da gibt es Tausende toller Initiativen. Aber zu Recht wird oft darüber geklagt, dass es viel zu wenige Ansprüche und normale Dinge gibt. Wir haben in den letzten Jahren bei den Sprachkursen Riesenfortschritte gemacht, indem wir gesagt haben: Es muss normal sein, dass jeder, der zu uns kommt und der noch nicht perfekt Deutsch spricht, auch die Chance bekommt, einen Sprachkurs zu absolvieren. Aber wir haben noch eine ganze Menge zu erledigen bei Dingen, die noch nicht so laufen, wie wir es uns vorstellen.
Wann ist Integration eigentlich geschafft? Wie misst man das politisch? Ich würde sagen, sie ist dann geschafft, wenn in den verschiedenen Berufen, in den verschiedenen Führungspositionen und in allen Bereichen der Gesellschaft Migrantinnen und Migranten genauso vorkommen wie Menschen, die hier schon ewig gelebt haben. Da könnte man auch sagen: Deutschland hat noch ganz andere Integrationsprobleme. Wir streiten zum Beispiel darüber, ob wir eine Frauenquote brauchen oder nicht, weil es die Frauen nach Jahrhunderten noch nicht ganz geschafft haben, in alle gesellschaftlichen Bereiche voll integriert zu sein. Daran arbeiten wir also auch noch. Es gibt auch Diskussionen zwischen den neuen Bundesländern im ehemaligen Ostdeutschland und den Ländern in Westdeutschland darüber, wie viele Ostdeutsche eigentlich in welchen Führungspositionen sind. Wenn man sich die DAX-Unternehmen ansieht, weiß man, dass die Ostdeutschen dort genauso rar wie die Frauen sind, obwohl wir schon über 20Jahre Deutsche Einheit haben.
Das heißt, wenn Sie sich einmal ärgern, dass es mit der Integration noch nicht so richtig geklappt hat, dann sind Sie nicht die Einzigen, bei denen es noch nicht geklappt hat, sondern wir haben noch mehrere Integrationsprobleme. Und an denen arbeiten wir noch. Auch dabei sind wir der festen Überzeugung, dass wir in der Wirtschaft, in der Gesellschaft stärker sind, wenn zum Beispiel Männer und Frauen, Migrantinnen und Migranten genauso wie die hier schon lange Lebenden in allen Bereichen vertreten sind. Das gilt im Übrigen auch für bestimmte Berufe. Wenn Männer zum Beispiel im pflegerischen Bereich, im Bereich der Erziehung, im Grundschullehrerbereich eine Berufsausbildung machen, ist das eigentlich als Integrationserfahrung genauso wichtig. Es ist vieles in unserer Gesellschaft im Umbruch, woran wir auch weiterarbeiten müssen.
Sie sollten durchaus auch schlechte oder traurige Erfahrungen zur Sprache bringen. Für mich war eines der bedrückendsten Erlebnisse nicht das Erlebnis selbst; aber die Tatsache war bedrückend, dass einige Jugendliche im Wesentlichen aus dem türkischstämmigen Bereich offensichtlich auch deshalb keinen Ausbildungsplatz bekommen hatten, da schon allein ihre Namen ein Hinderungsgrund waren, ihnen einen Ausbildungsplatz zu geben. Sie wurden dann in einem Ausbildungsprojekt, das ich hier in Berlin kennenlernte, als Bankkauffrauen und -männer ausgebildet. Danach sind sie für ein Praktikum angenommen worden und siehe da: Sie alle waren genauso gut wie diejenigen, die Müller, Meier, Schulze hießen. Dann sind sie von den Banken auch gerne genommen worden. Aber schon von Anfang an mit einem ausländisch klingenden Namen überhaupt einen Zugang zu bekommen und nicht erst einmal mit der Bemerkung "Ach, das Deutsch ist ja doch nicht so schlecht" konfrontiert zu werden, ist immer noch schwierig. Man sagt sonst nur zu Schwaben: Ach, Sie sprechen auch Hochdeutsch. Da ist man auch überrascht. Jetzt bekomme ich wahrscheinlich wieder Kritik aus Baden-Württemberg. Ist jemand aus Baden-Württemberg hier? Bitte verraten Sie mich möglichst wenig. Ich hatte damit schon einmal in einem anderen Zusammenhang Ärger.
Spaß beiseite Vorurteile sind da. Ich glaube, dass Sie, gerade weil Sie noch jüngere Menschen sind, die Offenheit aufbringen sollten, darüber zu sprechen und darüber zu berichten. Nur so kommen wir weiter. Wir müssen auch mit den Unternehmen, mit den Betrieben reden. Wenn man zum Schluss jemanden aus einem Unternehmen, der Auszubildende einlädt, fragt, ob er auch Auszubildende einstellt, die einen Namen haben, der sichtlich nicht deutscher Herkunft ist, muss die Antwort wie aus der Pistole geschossen kommen: Ja.
Wir sollten auch darüber sprechen, dass es viele Beispiele gelungener Integration gibt, dass es aber auch Bereiche gibt, in denen wir noch nicht so weit sind. Es hat ja keinen Sinn, davor die Augen zu verschließen. Es ist auch so, dass, wenn es meinetwegen türkische Filme gibt, die in bestimmten Vierteln Berlins gezeigt werden, und einer mit erkennbar deutschem Gesicht ins Kino kommt, dieser erst einmal gefragt wird: Was willst du denn hier? Es ist nicht so, dass wir keinerlei Formen von Parallelwelten hätten, sondern die gibt es schon. Wenn Sie auch darüber berichten können, wie man so etwas überwinden kann, dann ist das für uns wieder ein wichtiger Beitrag, weil wir glauben, dass wir aus Ihrer Lebenserfahrung auch wirklich etwas lernen können.
Denken Sie nicht, dass Ihre Aufgabe, wenn der Tag vorbei ist und es morgen Mittag ist, erloschen ist. Ich werde mir berichten lassen, was herausgekommen ist. Wir haben natürlich Hoffnung in Sie. Die Hoffnung ist, dass Sie von diesem Integrationsgipfel dann auch in Ihren Netzwerken, in Ihrem Bekanntenkreis berichten und andere animieren, aufeinander zuzugehen und vielleicht ähnliche Treffen auch einmal in Ihrem Lebensumfeld durchzuführen, sodass wir einen gewissen Multiplikatoreneffekt bekommen. Ich habe ja schon gesagt, dass es einen Nationalen Aktionsplan gibt. Dieser muss mit Leben erfüllt werden. Das gilt auch für das, was Sie hier erleben. Es gibt das schöne Sprichwort: "Reden ist Silber, Schweigen ist Gold." Das aber gilt in Ihrem Fall nicht; die Anwendung ist nicht erwünscht. Vielmehr dürfen Sie über das, was Sie hier erfahren, durchaus berichten und damit weitere Impulse in die lange Geschichte der Integration bringen.
Maria Böhmer hat gesagt, dass das Thema Heimat auch eine Rolle spielen wird. Das halte ich für eines der spannendsten Themen. Ich werde mich danach erkundigen, was dazu gesagt wurde. Ich habe es schon öfters erzählt, und ich erzähle es noch einmal: Ich war einmal in einer baden-württembergischen Schule, nämlich in Stuttgart, in der es im Deutschunterricht um das Thema Heimat ging. Jeder sollte aufschreiben, was er unter Heimat versteht. Was habe ich aufgeschrieben? Ich habe aufgeschrieben: Kirche, See und Wald. Ich komme aus der Uckermark; und das ist meine bildliche Vorstellung von dem, was für mich Heimat ist. Diejenigen mit Migrationshintergrund haben vor allem etwas über Menschen geschrieben: die Freunde, das Zuhause, die Familie, der Bekanntenkreis. Diejenigen, die schon ewig in Deutschland leben, haben fast alle irgendein Landschaftsmerkmal bzw. etwas Abstraktes aufgeschrieben. Ich muss sagen: Nachdem wir das in der Stunde diskutiert haben, habe ich mich zwar nicht schlecht das ist falsch, aber ein bisschen einseitig gefühlt. See und Wald stellen schon meine Heimat dar, aber dass ich gar keinen Menschen aufgezählt hatte, war eigentlich auch eher ein bisschen defizitär, muss ich sagen. Insofern habe ich in dieser Unterrichtsstunde eine ganze Menge gelernt.
Ich hoffe, Ihnen macht der Gipfel hier Freude. Das Programm macht einen guten Eindruck. Das Hotel heißt "Ramadan". Aber ich hoffe, man darf essen und trinken. Viel Spaß und alles Gute.