Redner(in): Gerhard Schröder
Datum: 20.11.2000
Anrede: sehr geehrte Damen und Herren,
Quelle (evtl. nicht mehr verfügbar): http://archiv.bundesregierung.de/bpaexport/rede/99/24399/multi.htm
Exzellenzen,
ich freue mich, Sie bereits zum zweiten Mal in Berlin zum traditionellen Jahresempfang für das Diplomatische Korps begrüßen zu können.
In den vergangenen Monaten haben immer mehr von Ihnen den Dienst in Berlin angetreten, sind neue Botschaften und Residenzen eingeweiht und bezogen worden. Bei vielen anderen Vertretungen sind die großen Baufortschritte nicht zu übersehen. Der Zuzug weiterer Botschaften nach Berlin wird die Stadt nicht nur politisch und kulturell, sondern auch architektonisch bereichern.
Berlin, diese geschichtsbeladene Metropole, davon kann sich jeder in dieser Stadt ein Bild machen, wird mehr und mehr zu einem Bauplatz des neuen Europa. Der Architekt Renzo Piano, der den Potsdamer Platz in der Stadtmitte gestaltet, hat dieses Berlin sehr anschaulich und mit großer Sympathie beschrieben: Auf unseren Baustellen waren von 5000 Mitarbeitern nur 500 Deutsche. Eine Stadt, die das Zentrum der größten Intoleranz in der Neuzeit war, ist heute die Bühne für eine Kooperation aller Herren Länder geworden, also zum Gegenteil von Intoleranz."
Deutschland hat vor wenigen Wochen den 10. Jahrestag seiner Einheit gefeiert. Sie waren dabei und haben unsere Freude geteilt. Wir Deutsche sind dankbar für den Beitrag unserer ausländischen Freunde zu diesem historischen Ereignis und wir sind stolz, dass die friedliche Revolution der Menschen in der ehemaligen DDR die Entwicklung in Europa so nachhaltig und so positiv beeinflusst hat.
Am 31. Oktober ist die Weltausstellung in Hannover zu Ende gegangen. Ihre Länder haben die Expo durch die Kreativität und Originalität ihrer Beiträge über fünf Monate hinweg zu einer Bereicherung für alle Besucher werden lassen. Dafür möchte ich Ihnen auch an dieser Stelle herzlich danken.
Beide Ereignisse illustrieren anschaulich, dass Deutschland bereit ist, die gesellschaftlich-politischen und die wissenschaftlich-technologischen Chancen zu nutzen und sich gemeinsam mit seinen Partnern beherzt der Gestaltung der Zukunft zu stellen.
Als aufmerksame Beobachter Deutschlands haben sie sicher festgestellt: Die Bilanz dieser Regierung bei der Bekämpfung dessen, was man noch vor zwei Jahren die "deutsche Krankheit" nannte, kann sich sehen lassen. Wir haben den Reformstau in Deutschland, der sich über Jahre hinweg aufgebaut hatte, aufgelöst. Die Weichen für einen strukturellen Aufschwung sind gestellt.
Weltoffenheit und Toleranz sind unverzichtbare Bestandteile unseres Staatsverständnisses. Sie sind Garanten für die Zukunftsfähigkeit Deutschlands, Europas und der Völkergemeinschaft.
Lassen Sie mich im Namen der Bundesregierung ganz klar sagen:
Wir sind fest entschlossen, weiterhin unnachsichtig und mit allen Mitteln, die uns zu Gebote stehen, gegen antisemitische, rassistische und fremdenfeindliche Gewalttäter und ihre Hintermänner vorzugehen. Die deutsche Demokratie weiß sich zu verteidigen.
Erweiterung und Vertiefung der Europäischen Union sind die strategischen Antworten Europas auf die neuen Herausforderungen. Die engagierte Fortsetzung des europäischen Einigungsprozesses bleibt das zentrale Anliegen deutscher Politik.
Der Europäische Rat von Nizza steht bevor. Die Bundesregierung vertraut darauf, dass die französische EU-Präsidentschaft die notwendige institutionelle Reform erfolgreich abschließt. Wir selbst tun alles, um zu einem Erfolg im Dezember beizutragen. Nizza muss gelingen, damit die Europäische Union ab dem Jahr 2003 aufnahmebereit für neue Mitgliedstaaten ist.
Die Erweiterung liegt in unserem Interesse wie auch dem der Beitrittsstaaten und des gesamten Kontinents. In der Wirtschaft würde man sagen: Es ist eine "win-win-Situation". Sie bietet immense Chancen, politisch wie ökonomisch. Wir werden die EU-Erweiterung mit allem Nachdruck vorantreiben. Je früher der Vorbereitungsstand eines jeden Kandidaten den Beitritt zulässt, desto besser.
In Nizza wird die Europäische Union darüber hinaus die Voraussetzungen für einen eigenständigen Beitrag Europas zum militärischen und zum zivilen Krisenmanagement schaffen. Die Zeit hierfür ist mehr als reif. Die Europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik wird die Handlungsfähigkeit Europas beträchtlich erhöhen.
Die enge deutsch-französische Abstimmung bleibt eine Voraussetzung erfolgreicher Europapolitik. Die Besuche Präsident Chiracs im Juni und im Oktober sowie seine Reden vor dem Deutschen Bundestag und in Dresden haben die Bedeutung der deutsch-französischen Partnerschaft hervorgehoben.
Das serbische Volk hat mit großem Mut einen Diktator entmachtet, der vier Kriege auf dem Gewissen hat. Es hat sich für den Weg nach Europa entschieden. Damit ist ein dauerhafter Frieden auf dem Balkan ein gutes Stück nähergerückt.
Wir werden Jugoslawiens Rückkehr in die Staatenfamilie erleichtern. Dabei wird sich auch Jugoslawien seiner historischen Verantwortung stellen müssen.
Der Stabilitätspakt für Südosteuropa ist eine unverzichtbare Hilfe für Versöhnung und Wiederaufbau. Wir werden weiter aktiv in ihm mitarbeiten. Ich erwarte von dem bevorstehenden Gipfel in Zagreb ein Signal, dass die Europäische Union sich an der Entwicklung der Region nach Kräften beteiligt.
Auch in Zukunft bleibt die transatlantische Zusammenarbeit ein tragender Pfeiler deutscher und europäischer Außenpolitik. Nur das aktive Engagement unserer amerikanischen Partner in Europa verleiht einer gesamteuropäischen Sicherheitsarchitektur Stabilität.
Auch ein friedliches und demokratisches Russland, das seine internationale Verantwortung umfassend wahrnimmt, ist wesentlicher Bestandteil einer europäischen Sicherheitsarchitektur. Russland unternimmt unter Präsident Putin wichtige Schritte zur Modernisierung von Staat, Wirtschaft und Gesellschaft. Unser Wille, gemeinsam mit unseren Partnern die strategische Zusammenarbeit mit Russland auszubauen, ist ungebrochen.
Die Pflege unserer Beziehungen zu den Staaten Asiens, Lateinamerikas, Afrikas und des Nahen Ostens ist mir ein persönliches Anliegen. Mit zahlreichen Regierungschefs dieser Regionen bin ich im vergangenen Jahr zusammengetroffen.
Aber auch bei Gelegenheiten wie dem letztjährigen Lateinamerika-Gipfel in Rio, beim EU-Afrika-Gipfeltreffen im Frühjahr in Kairo oder bei dem Treffen der Regierungschefs aus Asien und Europa vor vier Wochen in Seoul habe ich die internationalen Kontakte vertiefen und die traditionell guten Beziehungen zwischen Deutschland und ihren Ländern ausbauen können.
Bei meiner Reise durch den Nahen Osten habe ich mit allen Staats- und Regierungschefs Einvernehmen erzielt, dass es keine Alternative zu einem verhandelten Frieden gibt.
Auch in den Vereinten Nationen stehen für die Bundesregierung die Wahrung des Friedens, die Stärkung der Menschenrechte, der Schutz der Umwelt und die Förderung des wirtschaftlichen und sozialen Fortschritts, insbesondere in den Ländern der Dritten Welt, im Vordergrund.
Ich unterstütze nachdrücklich das Ziel des Milleniums-Gipfels, bis zum Jahr 2015 den Anteil der Menschen, die in extremer Armut leben, zu halbieren. Das habe ich in New York im September auch deutlich gemacht. Die Bundesregierung arbeitet an einem Aktionsplan, der konkret und ressortübergreifend aufzeigen wird, wie Deutschland dazu beitragen kann.
Deutschland wird den armen hochverschuldeten Entwicklungsländern auf der Grundlage nationaler Strategien zur Bekämpfung der Armut ihre bilateralen Schulden erlassen. Die Kölner Entschuldungsinitiative ist auf gutem Weg.
Wir sind bei dieser anspruchsvollen Agenda auf Partner angewiesen, die uns verstehen und unsere Ziele teilen. Dabei vertrauen wir auf Ihr persönliches Engagement und Ihr Talent als professionelle Mittler.
Für Ihre wichtige Arbeit im Dienste der Beziehungen zwischen unseren Ländern im zurückliegenden Jahr danke ich Ihnen herzlich. Ihre Länder werden in Deutschland weiterhin einen solidarischen Partner bei der gemeinsamen Arbeit für Frieden und Entwicklung, Demokratie und Menschenrechte finden.
Ich wünsche Ihnen persönlich und Ihren Familien für die Zukunft alles Gute.