Redner(in): Gerhard Schröder
Datum: 21.11.2000

Anrede: Anrede,
Quelle (evtl. nicht mehr verfügbar): http://archiv.bundesregierung.de/bpaexport/rede/30/24430/multi.htm


Anrede!

Es ist mir eine besondere Freude, Sie als Mitglieder der Parlamentarischen Versammlung der NATO, deren Jahrestagung bereits zum sechsten Mal in Deutschland stattfindet, hier in Berlin zu begrüßen.

Vor etwas mehr als einem Jahr haben die Bundesregierung und der Deutsche Bundestag den Umzug von Bonn nach Berlin vollzogen. Berlin, das werden Sie hoffentlich alle selbst erleben, ist eine kreative und lebendige Stadt, eine noch wachsende und unfertige Metropole, die in der Mitte Europas liegt und damit auch eine Brückenfunktion für unsere mittel- und osteuropäischen Partner hat. Sie haben inzwischen selbst feststellen können: Die Grundorientierung unserer Politik hat sich durch den Umzug nach Berlin nicht geändert.

Europäische Einigung und Atlantische Allianz werden auch in Zukunft die tragenden Säulen der deutschen Außenpolitik bleiben. Gerade weil wir Deutschen durch die jahrzehntelange Teilung Europas besonders betroffen waren - die Mauer verlief nur wenige Meter von diesem Gebäude entfernt mitten durch Berlin - werden wir nicht vergessen, dass die NATO in dieser Zeit erfolgreich Frieden und Sicherheit gewährleistet hat.

Für die Sicherheit Europas bleibt die starke und dynamische transatlantische Partnerschaft auch in Zukunft unverzichtbar. Dazu gehört eine substantielle militärische Präsenz der USA in Europa. Die Allianz war für Deutschland stets mehr als ein bloßes Militärbündnis. Entscheidend für uns ist das gemeinsame transatlantische Eintreten für die Werte und Prinzipien, die uns verbinden: für Freiheit und Menschenrechte, für Demokratie und Rechtsstaatlichkeit. Um diese Werte leben zu können, sind wir Mitglied der NATO und deshalb übernehmen wir Verantwortung im Bündnis.

Die einschneidenden geopolitischen Veränderungen am Ende des 20. Jahrhunderts stellen die NATO vor große Herausforderungen. Nach dem Ende des Kalten Krieges ist in Europa die Gefahr eines großen militärischen Konfliktes nicht akut und wir haben allen Grund, dafür dankbar zu sein. Dennoch bleibt der Kernauftrag der NATO, die kollektive Verteidigung ihrer Mitglieder zu gewährleisten, unverändert wichtig. Daneben gewinnen neue Aufgaben wie Krisenprävention und Krisenbewältigung zunehmend an Bedeutung. Die Allianz muss angemessen auf Krisen und Instabilitäten im euro-atlantischen Raum reagieren können.

Solche Krisen können auch die Sicherheit des Bündnisses und seiner Mitglieder bedrohen. Dann wird die Allianz - je nach Fallgestaltung in Zusammenarbeit mit der Europäischen Union, der OSZE oder den Vereinten Nationen - Verantwortung übernehmen müssen. NATO, Europäische Union, OSZE und Vereinte Nationen werden Frieden und Stabilität dabei um so besser sichern können, je enger sie sich untereinander abstimmen.

Dabei gilt mehr denn je, dass Sicherheit immer weniger durch militärische Mittel allein zu gewährleisten ist. Diese dürfen stets nur "ultima ratio" sein. Militärische Mittel können die gesamte Bandbreite ziviler Fähigkeiten der Krisenprävention und -bewältigung nicht ersetzen. Dies hat sich deutlich auf dem Balkan gezeigt. Dort hat die NATO in den vergangenen Jahren wichtige Bewährungsproben bestanden.

Der Erfolg der friedlichen Revolution in Serbien hat uns vor Augen geführt, wie richtig es war, dass wir uns gegen das menschenverachtende Regime von Milosevic gestellt haben. Den Bürgern Jugoslawiens gebührt Respekt. Sie haben den großen Mut aufgebracht, ein Regime zu stürzen, das über Millionen Menschen auf dem Balkan großes Leid gebracht hat. Mit dem Amtsantritt von Präsident Kostunica und der neuen Regierung haben sich die Aussichten auf dauerhaften Frieden und Demokratie für Jugoslawien und seine Nachbarn wesentlich verbessert.

Die Balkanstaaten müssen jetzt die Chance ergreifen und den Menschen gemeinsam eine neue Perspektive für die Zukunft eröffnen. Wir werden ihnen hierbei durch den Stabilitätspakt nach besten Kräften helfen. Die Präsenz der NATO auf dem Balkan bleibt dabei weiterhin unentbehrlich. Sie hilft nicht nur in KFOR und SFOR, den Schutz der Menschen im Kosovo, in Bosnien und Herzegowina vor erneuten Feindseligkeiten sicherzustellen.

Die NATO vermittelt in der Partnerschaft für den Frieden auch das Verständnis für die Rolle der Streitkräfte in demokratischen Gesellschaften. Sie leistet hierdurch wichtige Vorarbeit für die weitere Annäherung der teilnehmenden Staaten an die euro-atlantischen Strukturen.

Der Stabilisierungs- und Demokratisierungsprozess auf dem Balkan ist auf unabsehbare Zeit ein zentrales europäisches Sicherheitsanliegen und damit auch eine wichtige Aufgabe für das Bündnis. Dabei bleibt eine Beteiligung unserer transatlantischen Partner wesentlich. Ich möchte aber auch unsere gute Zusammenarbeit in SFOR und KFOR mit den vielen Partnern würdigen, die nicht dem Bündnis angehören und die, wie zum Beispiel Russland, einen wesentlichen Beitrag zur Stabilisierung auf dem Balkan leisten.

Europa und Nordamerika hatten im Kosovo-Konflikt die Kraft zu gemeinsamer Aktion und Verantwortung. An der Friedenssicherung im Rahmen von KFOR sind die europäischen Staaten maßgeblich beteiligt. Zuletzt haben wir mit der Übernahme der Führung der Kosovo-Operation durch das Hauptquartier des Eurokorps gezeigt, dass die Europäer willens und in der Lage sind, im NATO-Rahmen militärisch Verantwortung zu übernehmen. Dieser Wille leitet uns auch bei der Entwicklung einer Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik, mit der wir Europa auch militärisch handlungsfähig machen wollen. Sie liegt in der Logik der Europäischen Einigung.

Nur mit einer sicherheitspolitisch starken, einer militärisch handlungsfähigen Europäischen Union an der Seite der NATO und mit einer effizienten europäischen Sicherheits- und Verteidigungsidentität innerhalb der NATO werden wir zukünftige Herausforderungen als transatlantische Partner erfolgreich bewältigen können. Wir sind auf dem besten Wege, die Beschlüsse von Helsinki umzusetzen und die Europäische Union mit angemessenen militärischen Kapazitäten und mit den erforderlichen politischen und militärischen Entscheidungsstrukturen auszustatten.

Dazu gehören auch Instrumente zur Früherkennung von Krisen sowie zum militärischen und zivilen Krisenmanagement. Die hierfür bisher bei der WEU angesiedelten Aufgaben werden wir zum Jahresende in die Europäische Union überführen. Eine eigenständige Europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik wird auch die NATO stärken. Der zusätzliche Beitrag, den die Europäische Union dann im Rahmen der atlantischen Sicherheitspartnerschaft leistet, wird eine Entlastung der Vereinigten Staaten von Amerika zur Folge haben. Ich freue mich, dass die amerikanische Regierung dies nach ursprünglicher Zurückhaltung nun ebenso einschätzt und dass sie ihre Unterstützung für die Europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik bekräftigt hat.

Für die Bundesregierung ist in diesem Zusammenhang von Bedeutung, dass die europäischen NATO-Mitglieder, die nicht der Europäischen Union angehören, in geeigneter Weise in die Europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik einbezogen werden. Wir setzen uns hierfür mit Nachdruck ein. Ebenso halten wir eine enge und kontinuierliche Abstimmung zwischen NATO und Europäischer Union in allen sicherheitspolitischen Fragen für unverzichtbar. Ich bin davon überzeugt, dass wir in zweieinhalb Wochen beim Europäischen Rat in Nizza einen weiteren qualitativen Sprung machen und die Umwandlung der Interimsgremien in eine permanente, entscheidungsfähige Struktur beschließen können.

Vor dem Hintergrund des veränderten Sicherheitsumfeldes ist es besonders wichtig, die militärischen Fähigkeiten der Allianz an die neuen Aufgaben des Bündnisses anzupassen. Daher haben wir beim NATO-Gipfel in Washington die Initiative zur Verbesserung der Verteidigungsfähigkeiten beschlossen, deren Umsetzung inzwischen auf gutem Wege ist.

Wir werden allerdings nicht alles gleichzeitig machen können. Vordringlich erscheint mir, dass sich die Allianz zunächst auf die Bereiche konzentriert, die für die Erfüllung der neuen Aufgaben zentral sind. Für die deutschen Streitkräfte stehen dabei strategische Aufklärung, Transport, und Kommunikationsfähigkeit im Vordergrund. Die Bundesregierung hat von Anfang an alle Anstrengungen zur Realisierung dieses wichtigen Vorhabens der NATO unternommen. Im Rahmen der Bundeswehrreform wird eine umfassende Neuausrichtung der deutschen Streitkräfte erfolgen. Nach Abschluss dieser Reform wird Deutschland einen qualitativ deutlich verbesserten Beitrag zu den neuen Aufgaben der Allianz leisten können.

Im Zuge der politischen Veränderungen in Europa seit dem Ende des Kalten Krieges hat die Atlantische Allianz ihre Beziehungen zu den Staaten Mittel- , Süd- und Südosteuropas neu definiert. Sie hat ihre Offenheit für alle europäischen Demokratien, ungeachtet ihrer geographischen Lage, bekundet und ein Angebot umfassender Partnerschaft unterbreitet. Dies ist Teil unserer gemeinsamen Bemühungen um eine stabile Friedensordnung für ganz Europa.

Ein historischer Schritt war die Aufnahme von Polen, der Tschechischen Republik und Ungarns in die NATO. Ihre parlamentarischen Vertreter grüße ich besonders. Wir haben den Beitrag dieser Staaten zur deutschen Einheit nicht vergessen. Ohne sie, aber auch ohne die Unterstützung unserer Partner in der Allianz, wäre die Herstellung der staatlichen Einheit Deutschlands nicht gelungen.

Die Allianz ist offen für weitere neue Mitglieder. Wichtiges Kriterium für die Aufnahme neuer Mitglieder bleibt, ob die Beitrittskandidaten jeweils in der Lage sind, die Verpflichtungen und Verantwortlichkeiten von Mitgliedern der Allianz wahrzunehmen und zur Sicherheit des euro-atlantischen Gebiets beizutragen. Der "Aktionsplan zur Mitgliedschaft" hat sich als hilfreiches Instrument der Heranführung erwiesen. Zusätzlich bieten der Euro-Atlantische Partnerschaftsrat und das Programm "Partnerschaft für den Frieden" den Beitrittskandidaten Möglichkeiten, ihre Fähigkeiten zur Zusammenarbeit mit der NATO in der Praxis zu erproben.

Ich möchte alle Beitrittskandidaten, aber auch alle anderen Partnerstaaten ermutigen, diese Möglichkeiten, umfassend zu nutzen. Deutschland wird die Staaten Mittel- und Osteuropas bei ihren Bemühungen um Annäherung an die Allianz weiterhin unterstützen. Dabei möchte ich eines besonders betonen: Niemand in Europa sollte der Offenheit der NATO für neue Mitglieder misstrauisch begegnen. Dies gilt auch und gerade für Russland. Die Sicherheit und Stabilität der Staaten Mittel- , Ost- und Südosteuropas sind nicht nur für diese selbst von Bedeutung. Sie schaffen vielmehr neue Möglichkeiten der Kooperation, die auch den Interessen Russlands dienen.

Die NATO hat 1997 mit Russland eine umfassende Zusammenarbeit vereinbart. Sie ist von großer Bedeutung für den Aufbau einer dauerhaften europäischen Friedensordnung. Der Bundesregierung liegt sehr daran, diese Zusammenarbeit auf der Basis der Grundakte von 1997 auszubauen. Auch Russland sollte die Möglichkeiten konstruktiver Zusammenarbeit voll ausschöpfen. Der NATO-Russland-Rat bietet hierfür ein besonders geeignetes Forum.

Die Herausforderungen an das Nordatlantische Bündnis bleiben zahlreich. In der Vergangenheit hat die Allianz stets die Fähigkeit bewiesen, sich an ein verändertes Umfeld anzupassen. Dies wird nach meiner festen Überzeugung auch in Zukunft der Fall sein, wenn wir alle hierzu unseren Beitrag leisten. Dann wird die NATO handlungsfähig bleiben und ihre beispiellose Erfolgsgeschichte fortsetzen können.

Der Parlamentarischen Versammlung der NATO kommt dabei eine wichtige Rolle zu. Sie erschließt der Allianz den Sachverstand der Parlamentarier und trägt umgekehrt dazu bei, den Gedanken der transatlantischen Sicherheitspartnerschaft noch fester in den nationalen Parlamenten zu verankern. Ganz besonders zu würdigen sind die vielfältigen gemeinsamen Aktivitäten der Versammlung mit den Parlamenten unserer mittel- und osteuropäischen Partner.

Sie können zu den für die Zukunft der Allianz entscheidenden Themen viele wertvolle und zukunftsweisende Vorschläge beisteuern. In diesem Sinne möchte ich Ihnen für Ihre Jahrestagung hier in der deutschen Hauptstadt gute und anregende Beratungen wünschen.