Redner(in): Gerhard Schröder
Datum: 23.11.2000

Anrede: Sehr geehrter Herr Professor Ganten, sehr geehrter Herr Oberbürgermeister, meine Damen und Herren!
Quelle (evtl. nicht mehr verfügbar): http://archiv.bundesregierung.de/bpaexport/rede/25/24725/multi.htm


Zum 30. Jahrestag der Gründung der Arbeitsgemeinschaft der Großforschungseinrichtungen und zu fünf Jahren Helmholtz-Gemeinschaft möchte ich Ihnen herzlich gratulieren.

Hermann von Helmholtz war ab 1888 der erste Präsident der Physikalisch-Technischen Reichsanstalt in Charlottenburg. In dieser Eigenschaft hat er sich besonders um die Vermittlung zwischen Forschung und Politik verdient gemacht.

Schon bei der Entscheidung zur Errichtung der Reichsanstalt haben Fragen eine Rolle gespielt, die uns auch heute auffallend vertraut erscheinen. Heute würden wir von den Herausforderungen durch die "Globalisierung" und von "Sicherung der internationalen Wettbewerbsfähigkeit" sprechen. Aber damals ging es um ganz ähnliche Fragestellungen.

Mit der Wahl ihres Namensgebers haben sich die Helmholtz-Zentren zu einem Wissenschaftler bekannt, der sich vor Neuorientierungen nicht scheute. Diese Flexibilität im Denken ist auch eine Herausforderung unserer Zeit. Wissenschaft und Forschung entscheiden maßgeblich darüber, wie wir morgen leben werden. Wir erhoffen von der Wissenschaft nicht nur Hilfe bei der Überwindung von Krankheiten, bei der Beherrschung von Naturkatastrophen oder bei der Lösung sozialer Probleme. Die Wissenschaft soll auch Beiträge zur Bewältigung des Strukturwandels, bei der Überwindung der Arbeitslosigkeit und für ein nachhaltiges Wachstum leisten.

Die Bundesregierung ist sich der überragenden Bedeutung von Wissenschaft und Forschung für unsere Zukunft bewusst. Deshalb haben wir, trotz der notwendigen Haushaltskonsolidierung die Ausgaben des Bundes für Bildung und Forschung mit dem Haushalt 2001 nun bereits das dritte Mal in Folge kräftig erhöht.

Im Rahmen des Zukunftsinvestitionsprogramms werden wir in den nächsten drei Jahren zusätzlich 1,8 Milliarden Mark für die Genomforschung, für Hochschulen und Berufsschulen sowie für die Förderung innovativer Produkte und Dienstleistungen in den neuen Ländern zur Verfügung stellen. Von diesem Zuwachs bei den Ausgaben für Bildung und Forschung werden auch die Helmholtz-Zentren profitieren.

Bereits 1869 kennzeichnete Hermann von Helmholtz die Naturwissenschaften als "ein Material von kaum zu umfassender Mannigfaltigkeit, dessen äußere Ausdehnung und innerer Reichtum jährlich wächst und für dessen Wachsen noch gar keine Grenze abzusehen ist".

Heute stellen die Helmholtz-Zentren eine der Organisationsformen dar, in denen versucht wird, diese enorme Mannigfaltigkeit zu strukturieren. Ihr breites Themenspektrum, ihre interdisziplinäre Fachkompetenz und - vor allem - die Qualität Ihrer wissenschaftlichen Arbeit machen die Helmholtz-Zentren zu einem national wie international begehrten Partner. Eine ihrer zentralen Stärken liegt im Betrieb von Großgeräten. Diese tragen wesentlich zur Leistungsstärke unserer Hochschulen und anderer Forschungseinrichtungen bei.

An den Helmholtz-Forschungseinrichtungen kristallisiert internationale Zusammenarbeit. Das erhöht auch die Attraktivität der Forschung in Deutschland. Erfolgreiche Großforschung auf internationalem Niveau findet auch in der Beschäftigungsbilanz ihren Ausdruck. Die Helmholtz-Zentren stellen insgesamt rund 23.000 Arbeits- und Ausbildungsplätze bereit, die wir natürlich - im Wettbewerb mit anderen Forschungseinrichtungen - langfristig sichern wollen.

Dies bedeutet:

den in den Helmholtz-Zentren beschäftigten Menschen zukunftsorientierte Entwicklungs- und Fortbildungsmöglichkeiten zu eröffnen, understklassige Nachwuchswissenschaftler zu verpflichten und zu fördern. Übrigens gehört zur Zukunftssicherung auch - und nicht zuletzt - die Durchsetzung der Chancengleichheit zwischen Männern und Frauen. Nicht nur als Konsequenz des Gleichheitsgrundsatzes. Sondern auch, weil wir es uns überhaupt nicht leisten können, auch nur eine einzige Begabung brach liegen zu lassen.

Mit mehr als 3 Milliarden Mark jährlich an institutioneller Förderung stehen die Helmholtz-Zentren an der Spitze der außeruniversitären Forschung. Gerade deshalb sind sie ein Prüfstein dafür, wie Bund und Länder die Aufgabe bewältigen, das Forschungssystem flexibel auf neue Herausforderungen einzustellen.

Das deutsche Forschungssystem ist hoch differenziert und dezentral organisiert. Als Grundlage dient die fast auf den Tag genau vor 25 Jahren von Bund und Ländern unterzeichnete Rahmenvereinbarung Forschungsförderung.

Nach einem Vierteljahrhundert rasanter technologischer Entwicklung und zehn Jahre nach der Herstellung der staatlichen Einheit Deutschlands muss man fragen, ob die 1975 angelegten Strukturen noch durchweg zeitgemäß sind. Mit einer umfassenden Evaluierung der Forschungseinrichtungen haben wir begonnen, diese Aktualisierungs-Aufgabe in Angriff zu nehmen. Der Wissenschaftsrat selbst hat einen wesentlichen Beitrag geleistet mit seinen "Thesen zur künftigen Entwicklung des Wissenschaftssystems in Deutschland".

Ich will hier nur drei Prinzipien ansprechen, die nach meinem Verständnis grundlegend für die weitere Entwicklung sind:

Profilbildung durch interne und externe Vernetzung unserer Forschungseinrichtungen; Transfer von Wissen in Innovationen undInternationalisierung. Zum ersten: Das Profil unseres Wissenschaftssystems muss schärfer werden. Nur wenn wir Kompetenzen bündeln, werden wir im internationalen Wettbewerb bestehen können. Mit dem Konzept der Programmsteuerung stehen die Helmholtz-Zentren hier vor einem entscheidenden Schritt in der deutschen Forschung.

Durch angemessene Rahmenbedingungen wird die Politik ihren Beitrag leisten. Stichworte sind dabei: Budgetierung, überjährige Verwendbarkeit der Mittel und Lockerung der Stellenpläne.

Sie haben, als Vorstände, als Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter oder deren Vertreter früh Ihre Bereitschaft signalisiert, Schritte auf neuen Wegen der Forschung und der Forschungsorganisation zu tun. Für dieses Engagement danke ich Ihnen ausdrücklich.

Zur tätigkeits- und leistungsbezogenen Profilbildung unseres Wissenschaftssystems gehört nicht nur die interne Vernetzung, sondern auch die Durchlässigkeit zwischen den Forschungsorganisationen. Diese hat sich häufig als nicht hinreichend erwiesen. Nun versucht meine Regierung, eine erste sinnvolle Umgruppierung vorzunehmen.

Doch, lassen Sie mich das ganz offen sagen, die Diskussion verläuft mitunter etwas merkwürdig. Statt dass alle Beteiligten mit Eifer an einer optimalen Lösung arbeiten, wird der Protest einiger immer lauter und aggressiver. Mir scheint es aber dringend nötig, dass vernünftige Veränderungen nicht zu Bedrohungs-Szenarien aufgebaut werden - nur damit einige ihre etablierten Handlungsmuster und Besitzstände verteidigen können.

Auch gute Forschung bedeutet nicht automatisch ein Mehr an Innovation. Die Produktlebenszyklen werden immer kürzer, die Bedeutung wissensintensiver Technologien wächst, und der technologische Wettbewerb verschärft sich.

Angesichts dieser Dynamik bemisst sich der Erfolg einer modernen Industrienation wie Deutschland immer stärker daran, wie gut es gelingt, Forschungsergebnisse in neue Produkte und Verfahren umzusetzen. Diese Umsetzungs-Leistung verbessert die internationale Wettbewerbsfähigkeit, stärkt das Wirtschaftswachstum, erschließt neue Märkte und - vor allem - neue Beschäftigungsfelder. Das heißt, die Fähigkeit zur Umsetzung von Forschung sichert und schafft Arbeitsplätze.

Ich selbst habe deshalb vor einer Woche mit Experten aus Wissenschaft und Wirtschaft über Defizite und mögliche Lösungen diskutiert. Eines der Ergebnisse ist: Die Bundesregierung wird noch in diesem Jahr ein Aktionsprogramm vorlegen:

Mit einer Partnerschaftsoffensive wollen wir Anreize schaffen, dass Wissenschaft und Wirtschaft stärker aufeinander zugehen. Mit einer Verwertungsoffensive wollen wir erreichen, dass wissenschaftliche Forschungsergebnisse schneller den Weg zum Markt finden. Mit einer Kompetenzoffensive wollen wir Unternehmen darin unterstützen, externes Wissen stärker für den betrieblichen Innovationsprozess nutzbar zu machen. Mit einer Ausgründungsoffensive wollen wir schließlich weitere Unternehmensgründungen aus der Wissenschaft mobilisieren. Die Diskussion um die Anwendungsnähe der Großforschungseinrichtungen ist nicht neu. Viel zu lange wurde zwischen Forschung und Anwendung ein künstlicher Gegensatz behauptet. Dabei gehört beides zusammen. Ich kann mir gut eine Grundlagenforschung vorstellen, die keine Anwendung hat, aber unsere Erkenntnis mehrt. Ich kann mir auch eine technologische Anwendung vorstellen, die aus dem Stand heraus möglich ist und ihrerseits keine vertiefende Forschung benötigt. Das Wichtigste aber ist die Grundlagenforschung, die gleichzeitig Anwendungen in sich birgt.

Den Helmholtz-Zentren ist dieser Zusammenhang durchaus bewusst. Dies beweist die drastisch gestiegene Zahl der Ausgründungen und Patentanmeldungen. Mit ihren Patentanmeldungen liegt die Helmholtz-Gemeinschaft auf einem der ersten zehn Plätze, noch vor der Fraunhofer-Gesellschaft. Dieser Trend ist gut, sehr gut sogar. Dennoch: Beim Technologietransfer insgesamt könnte es auch in der Helmholtz-Gemeinschaft etwas besser laufen. Die Helmholtz-Gemeinschaft - aber nicht nur sie - braucht eine offensive Verwertungsstrategie. Diese Strategie muss aufbauen auf gemeinsamen Visionen - geformt aus der Neugier und Vorstellungskraft der Wissenschaft und der Marktstrategie der Wirtschaft.

Zum Schluss will ich einen Blick über unsere Grenzen werfen. Wer Forschung und Entwicklung nur durch die nationale Brille sieht, wird nämlich leicht kurzsichtig. Zu Lebzeiten von Helmholtz erforderte der internationale Markt nur eine Abstimmung von Standards und Regelungen. Man erbrachte gute Forschungsergebnisse in Deutschland und verkaufte gute Produkte ins Ausland. Heute müssen wir uns darauf einstellen, dass bestimmte Leistungen faktisch in derselben Geschwindigkeit in Deutschland, den USA, Indien oder China erbracht werden können.

Dies gilt für ein Computerprogramm wie für die Genforschung. Begabte Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sind heute dort zu Hause, wo sie für ihre Arbeit das richtige Umfeld finden. Der Wettbewerb um Studenten, Doktoranden, Wissenschaftler und gut ausgebildete Arbeitskräfte ist in aller Schärfe entbrannt. Unser Land darf in diesem Wettbewerb nicht zurückfallen. Im Gegenteil: Wir müssen Deutschland weit internationaler machen, als es bisher ist.

Nur wenn wir ganz bewusst Austausch und Kooperation praktizieren, wenn wir uns für das Wissen und die Erfahrungen Anderer öffnen, für Menschen aus anderen Gesellschaften und anderen Kulturen - nur dann steht uns buchstäblich die Welt offen.

Es ist verhängnisvoll, wenn rechtsradikale Hetze und Gewalt unsere Chance beeinträchtigen, die Besten der Welt in unsere Forschung einzubeziehen. In den persönlichen Beziehungen, die über Gastforscher und den wissenschaftlichen Nachwuchs aufgebaut werden, liegt ein entscheidender Mehrwert der internationalen Kooperation. Ausländische Märkte erschließen sich - das muss uns bewusst sein - maßgeblich über Personen. Investoren entscheiden sich für ein Land, für eine Forschungs- oder Produktionsstätte nicht nur aufgrund nüchterner Datenanalyse.

Denjenigen, die vor der europäischen Dimension noch die Augen verschließen, sage ich: Nehmen Sie teil an den spannenden Entwicklungsprozessen. Mischen Sie mit beim Ausbau und der Gestaltung des Europäischen Forschungsraumes, der Europas Leistungsfähigkeit gegenüber seinen internationalen Wettbewerbern sichern soll. Die Helmholtz-Zentren haben ein unvergleichliches Potenzial, mit dafür zu sorgen, dass in Europa ein dichtes Forschungsnetz entsteht. Und auch dies wäre ganz gewiss im Sinne Ihres Namensgebers.