Redner(in): Gerhard Schröder
Datum: 28.11.2000

Anrede: Herr Präsident! Meine Damen und Herren!
Quelle (evtl. nicht mehr verfügbar): http://archiv.bundesregierung.de/bpaexport/rede/44/25144/multi.htm


In der kommenden Woche werden die Staats- und Regierungschefs der Europäischen Union beim Europäischen Rat in Nizza zusammenkommen.

Auf diesem Gipfeltreffen zum Ende der französischen Präsidentschaft geht es - nicht nur nach meiner Auffassung - um wegweisende Entscheidungen. Nizza muss ein Europäischer Rat werden, auf dem die Weichen für die Zukunft der Europäischen Union gestellt werden. Diese Aufgabe wird deutlich an den Themen, die den Europäischen Rat bestimmen werden: die Regierungskonferenz zu den institutionellen Reformen und zu der künftigen Entwicklung der Union, die Ausgestaltung der europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik sowie die gemeinsame Proklamation der Grundrechte-Charta der Europäischen Union durch das Europäische Parlament, den Rat und die Kommission.

In Nizza geht es vor allen Dingen darum, vonseiten der Europäischen Union die letzten internen Hindernisse für die Erweiterung aus dem Weg zu räumen. Uns Deutschen ist die Erweiterung ein besonderes Anliegen, nicht nur, weil wir zu unserer historischen Verantwortung stehen. Auch aus wohlverstandenem Eigeninteresse haben wir uns immer als Anwalt der beitrittswilligen Staaten verstanden. Wir, die Deutschen, wollen die Erweiterung der Europäischen Union nach Osten und nach Südosten, weil sie im wirtschaftlichen und natürlich auch im politischen Interesse Deutschlands liegt, und wir wollen sie so rasch, wie es irgend möglich ist. Wir müssen jetzt die institutionellen Reformen verabschieden, damit, wie in den Beschlüssen von Helsinki vorgesehen, die Europäische Union ab Ende 2002, also Anfang 2003, in der Lage ist, neue Mitgliedstaaten aufzunehmen. Die jüngsten Fortschrittsberichte der Europäischen Kommission zu den einzelnen Beitrittsländern haben gezeigt, dass deren Reformen gut vorankommen. Die EU der 15 Mitgliedstaaten muss und wird nun ihrerseits Bedingungen dafür schaffen, dass eine starke Union mit mehr als 20 Mitgliedern entstehen kann. Wir wollen aber keine Erweiterung auf Kosten der Handlungsfähigkeit der Union. Deshalb müssen wir in Nizza die Effizienz, Legitimität und Transparenz der Europäischen Union auf Dauer sichern. Nur auf diese Weise können wir die Erweiterung zu einem Erfolg für uns alle werden lassen.

In dieser Reformdiskussion geht es auch um die Frage, wie wir Europa weiter ausgestalten wollen. Für die Bundesregierung steht dabei außer Zweifel, dass der Weg der weiteren Integration der richtige Weg ist. Mit dem Eintritt in die Wirtschafts- und Währungsunion, der Erarbeitung einer gemeinsamen Justiz- und Innenpolitik und der Schaffung einer sicherheits- und verteidigungspolitischen Dimension hat die Europäische Union einen Integrationsstand erreicht, der - anders, als manche glauben - mit bloßer intergouvernementaler Zusammenarbeit nicht zu halten sein wird.

Das ist der Grund, weshalb sich die Bundesregierung nachdrücklich zur Fortsetzung der Integration mit starken europäischen Institutionen bekennt. Wir wollen eine starke Kommission. Aber im Gegenzug erwarten wir, dass sich die Kommission bei der Ausübung ihrer umfangreichen Kompetenzen Zurückhaltung auferlegt, dass sie das Subsidiaritätsprinzip ernst nimmt. Wir wollen ein starkes Parlament und wir wollen einen handlungs- und beschlussfähigen Rat, in dem die Mitgliedstaaten eine wichtige Rolle in der Ausübung einer effizienten europäischen Politik spielen können. Dabei muss jedoch gelten: Für gemeinsam getroffene Entscheidungen müssen die Beteiligten auch in ihrem jeweiligen Bereich die politische Verantwortung übernehmen.

Die Bundesregierung hat in intensiven Gesprächen versucht, mögliche Kompromisslinien für ein substanzielles Ergebnis in Nizza auszuloten. Beim deutsch-französischen Gipfel in Vittel, in den Gesprächen mit Premierminister Blair und Premierminister Juncker, Bundeskanzler Schüssel, den Ministerpräsidenten Kok, Rasmussen, Verhofstadt und Amato sowie bei meinen Begegnungen mit der Präsidentin des Europäischen Parlaments habe ich den festen Willen gespürt, zu einem wirklich tragfähigen Ergebnis zu kommen. Alle Gesprächspartner haben ihre Bereitschaft signalisiert, auf nationale Maximalpositionen zu verzichten und sich konstruktiv an der Suche nach belastbaren Kompromissen zu beteiligen. Solche Kompromisse - das wissen Sie alle - werden nicht zuletzt in Nizza angestrebt werden müssen. Dieses schwierige Dossier ist bei der französischen Präsidentschaft - jedenfalls nach deutscher Auffassung - in guten Händen. Wir wollen ihr bei der Lösung der bestehenden Probleme, soweit es in unserer Macht steht, helfen. Deutschland und Frankreich sind sich ihrer besonderen europäischen Verantwortung bewusst und nehmen sie im Geiste der engen freundschaftlichen Beziehungen zwischen Deutschland und Frankreich wahr.

Wenn wir in Nizza den Weg für die Erweiterung der Europäischen Union nach Osten und Südosten frei machen, wird dieser Gipfel einen historischen Wendepunkt in der Geschichte der europäischen Einigung markieren. Er wird entscheidend voranbringen, worum sich alle Europäer während des vergangenen Jahrzehnts intensiv bemüht haben: die Spaltung des Kontinents endgültig zu überwinden und Europa wieder zu kultureller, wirtschaftlicher und politischer Einheit zu führen.

Sie alle kennen die zentralen Fragen, die sich der Regierungskonferenz stellen und den Gipfel in Nizza bestimmen werden. Deshalb möchte ich nur kurz skizzieren, welche Ergebnisse die Bundesregierung von den Verhandlungen in Nizza erwartet und welches unsere wichtigsten Aufgaben sein werden. Ein Festhalten am bisher geltenden Einstimmigkeitsprinzip wäre, insbesondere für den Fall der Erweiterung der Europäischen Union, gleichbedeutend mit einer Selbstblockade der Europäischen Union. Deshalb ist es - nicht zuletzt auch für uns - wichtig, in einer erweiterten Union Beschlüsse so weit wie möglich mit qualifizierter Mehrheit fassen zu können.

Zur Abstimmung mit qualifizierter Mehrheit gehört nach unserer Auffassung immer dann, wenn es um Gesetzgebung auf europäischer Ebene geht - ich betone: um Gesetzgebung auf europäischer Ebene - , auch die Mitentscheidung des Europäischen Parlaments; seine Kontroll- und Legislativfunktionen müssen weiter gestärkt werden.

Mit den Ländern haben wir darin Einigkeit erzielt, das Prinzip der Mehrheitsentscheidung auf möglichst viele Bereiche anzuwenden. Nach unserer Vorstellung sollte es nur bei Erfüllung strenger Kriterien eine Ausnahme vom Prinzip der Mehrheitsentscheidung geben, beispielsweise bei ratifizierungsbedürftigen Beschlüssen sowie bei Beschlüssen mit konstitutionellem Charakter oder mit verteidigungspolitischen Bezügen. Darüber hinaus - das gilt auch für besondere deutsche Anliegen - sollten wir uns in Bereichen, die aus verständlichen Gründen für einzelne Mitgliedstaaten sensible Fragen berühren, auf differenzierte Lösungen verständigen. Ich denke, das wird sich erreichen lassen.

Allerdings haben wir bisher im Kreis der Partner für unsere Vorstellungen zur qualifizierten Mehrheit noch nicht überall die Unterstützung gefunden, die wir uns erhoffen; diese Frage muss offen diskutiert werden. Dies gilt insbesondere für die Anwendung der qualifizierten Mehrheit im Bereich der gemeinsamen Außen- und Sicherheits- sowie der Innen- und Justizpolitik. Aber, meine Damen und Herren, das wird und darf uns nicht daran hindern, mit allem Nachdruck und der Unterstützung vor allem auch des Europäischen Parlamentes weiter für unsere, wie wir meinen, richtigen Positionen zu werben.

Es gibt einen Zusammenhang, den man nicht übersehen darf: Entscheidungen mit qualifizierter Mehrheit erfordern vor allem aus Legitimitätsgründen, dass das Stimmengewicht der einzelnen Mitgliedstaaten stärker an den Realitäten orientiert wird.

Ich will ein Beispiel nennen: Es kann nicht sein, dass künftig in einer erweiterten Union Deutschland mit mehr als 80 Millionen Einwohnern über zehn Stimmen im Rat verfügt, während 19 kleinere Länder, die zusammen noch nicht einmal auf 80 Millionen Bürgerinnen und Bürger kommen, im Rat 57 Stimmen hätten, wenn man das nicht änderte. Eine stärkere Rücksicht auf demographische Tatsachen muss auch für die Zusammensetzung des Europäischen Parlamentes gelten. Das Parlament selbst hat zu diesem Thema Überlegungen entwickelt, die aus unserer, aus deutscher Sicht eine gute Grundlage für eine Entscheidung bilden.

Mittlerweile wird von allen Partnern ausdrücklich anerkannt, dass das derzeitige System der Stimmengewichtung im Rat nicht einfach fortgeschrieben werden kann. Allerdings - das gilt es einzuräumen - liegen die Vorstellungen darüber, wie der Bevölkerungszahl konkret zu mehr Geltung verholfen werden soll, noch auseinander. Für Deutschland - das will ich hier ausdrücklich betonen - ist sowohl eine reine Neugewichtung der Stimmen als auch das Prinzip der doppelten Mehrheit akzeptabel, also eine Abstimmung zunächst nach dem Kriterium "Jedem Staat eine Stimme" und dann im zweiten Durchgang eine Abstimmung nach dem Kriterium der Einwohnerzahl. Aber ich betone noch einmal: Für Deutschland ist auch eine einfache Stimmengewichtung akzeptabel.

Für welches Verfahren sich die Konferenz in Nizza schließlich entscheiden wird, lässt sich derzeit nicht klar sagen. Die Reise der französischen Präsidentschaft durch die Mitgliedstaaten ist im Gange beziehungsweise steht in vielen Mitgliedstaaten noch bevor. Ich gehe davon aus, dass die Präsidentschaft ihren abschließenden Vorschlag erst nach der üblichen Präsidentschaftsreise durch die Mitgliedstaaten vorlegen wird. Ich betone aber noch einmal ausdrücklich, dass Deutschland sowohl gegenüber dem Prinzip einer einfachen Neugewichtung der Stimmen als auch gegenüber dem Prinzip der doppelten Mehrheit, die ich erläutert habe, aufgeschlossen ist. Man muss sehen: Es besteht eine enge Verbindung zwischen dem Stimmengewicht der einzelnen Mitgliedstaaten, der Regelung der Mehrheitsentscheidungen und selbstverständlich auch der Größe der Kommission.

Ein starkes Europa - das ist gewiss - braucht eine starke Kommission. Der Kommission ist es nicht zuletzt aufgetragen, über den Binnenmarkt und über die Einhaltung der Verträge zu wachen. Deshalb - das betone ich hier ausdrücklich - will Deutschland eine unabhängige, eine handlungsfähige und eine selbstbewusste Kommission mit einem starken Präsidenten, der in der Perspektive auch über eine klare Richtlinienkompetenz verfügen muss. Dazu gehört aber auch - ich habe dies bei meinem jüngsten Besuch in Brüssel deutlich gemacht - , dass die Kommission die ihr aufgetragenen Aufgaben mit Augenmaß und mit Zurückhaltung ausübt. Europäisches Recht muss gewiss eingehalten werden. Aber dann müssen die entsprechenden Entscheidungen aus Brüssel auch nachvollziehbar sein.

Wenn die Kommission Entscheidungen trifft, die Auswirkungen auf einzelne Mitgliedstaaten und auf einzelne Regionen haben, dann muss die Kommission dafür auch erkennbar politische Verantwortung übernehmen. Nur so, denke ich, lassen sich auf Dauer die Unterstützung und das Verständnis der Bürgerinnen und Bürger für die Entscheidungen der Gremien in Brüssel und in Straßburg gewinnen.

Zugleich brauchen wir eine Kommission, deren Größe und Zusammensetzung sich nach ihren Aufgaben richtet. Gemeinsam mit Frankreich und anderen Mitgliedstaaten sind wir dafür eingetreten, die Zahl der Kommissare zu begrenzen. Es kann nicht sein, dass die Europäische Kommission mit jeder Erweiterung größer wird, ohne dass für die Vielzahl der Kommissare jeweils eigenständige Verantwortungs- und Zuständigkeitsbereiche vorliegen.

Wir wollen gewiss keine Europäische Union, in der es Mitgliedstaaten erster und zweiter Klasse gibt. Gerade deshalb habe ich beim Rat in Biarritz in Absprache mit einigen Partnern vorgeschlagen, die Begrenzung der Größe der Kommission mit einem gleichberechtigten Rotationssystem zu kombinieren, in dem kein Mitgliedstaat, auch nicht die größeren, ein automatisches Recht besitzt, einen Kommissar zu stellen. Das ist nicht zuletzt deshalb sachgerecht, weil die Kommissare nach der Konstruktion der Kommission eben keine Vertreter der Mitgliedstaaten sein sollen; vielmehr sollen sie gleichsam das Gemeinschaftsinteresse definieren und über das Gemeinschaftsinteresse wachen.

Ich habe Zweifel, ob diese Vorstellung nicht nur Deutschlands, sondern auch Frankreichs und anderer Mitgliedstaaten sofort umzusetzen sein wird, Zweifel deshalb, weil es eine Reihe wichtiger kleiner und mittlerer Staaten gibt, die auf eine Präsenz in der Kommission nicht oder noch nicht verzichten wollen. Da die Entscheidungen indessen, wie Sie wissen, dem Einstimmigkeitsprinzip unterliegen, wird man sich auch in dieser Frage um einen Kompromiss bemühen müssen.

Die Kommission ist die europäische Institution par excellence. Sie muss an europäischen Notwendigkeiten ausgerichtet werden. Die Kommission ist eben nicht die Vertretung der Mitgliedstaaten in Brüssel. Mein Eindruck ist, dass wir für diese Ansicht noch werben müssen.

Große Fortschritte haben wir in den letzten Wochen in einem Bereich erzielt, dem ich persönlich immer besondere Bedeutung zugemessen habe, dem Ausbau der Regelungen zur verstärkten Zusammenarbeit innerhalb des Gemeinschaftsrahmens, ich betone: innerhalb des Gemeinschaftsrahmens; denn mir ist wichtig, dass die Staaten, die bezüglich der Integration weitergehen wollen, das auf dem Boden der Verträge tun. Es darf nicht dazu kommen, dass verstärkte Zusammenarbeit nicht auf dem Boden der Verträge stattfindet. In einer erweiterten Europäischen Union wird es immer schwieriger werden, Integrationsfortschritte mit allen Mitgliedsländern gleichzeitig zu erreichen. Aber ohne weitere Integration würden die Handlungs- und Einflussmöglichkeiten der Europäischen Union gerade vor dem Hintergrund der zunehmenden Globalisierung auf Dauer geschwächt werden. Deshalb brauchen wir die Möglichkeit, dass Mitgliedstaaten, die das wollen und können, im Hinblick auf die Integration voranschreiten, wie es ja auch schon im Schengen-Bereich oder bei der Wirtschafts- und Währungsunion mit Erfolg geschehen ist.

Über das Grundprinzip der verstärkten Zusammenarbeit besteht seit Biarritz weit- gehendes Einvernehmen unter den Mitgliedstaaten. Wir werden uns in Nizza um die konkrete Ausgestaltung dieses wichtigen Prinzips kümmern müssen. Hierzu haben Deutschland und Italien zusammen einen viel beachteten Vorschlag vorgelegt, der die Basis für die Schlussberatungen bilden dürfte. Es ist gelegentlich die Frage aufgeworfen worden - das habe ich gelesen - , warum dies eine Aktion Deutschlands und Italiens gewesen sei und Frankreich nicht einbezogen worden sei. Ich möchte das ohne jede Polemik erklären: Das hat schlicht damit zu tun, dass die jeweilige Präsidentschaft, also auch die jetzige französische Präsidentschaft, in der Lage sein muss, Kompromisse aufgrund der Vorschläge der Mitgliedstaaten zu formulieren. Das hat also nichts mit Irritationen im deutsch-französischen Verhältnis zu tun. Es geht schlicht darum, der jeweiligen Präsidentschaft die Möglichkeit, eigene Kompromisse zu erarbeiten, zu erhalten. Der eine oder andere, der das kritisiert hat, hat das offensichtlich übersehen.

Unsere gemeinsame Vorstellung ist, dass verstärkte Zusammenarbeit künftig durch einen Beschluss mit qualifizierter Mehrheit eingeleitet werden kann und dann für einen Mitgliedstaat keine Vetomöglichkeiten mehr bestehen. Dabei sollte die Mindestteilnehmerzahl auf acht Länder beschränkt sein. Es ist auch wichtig, dass kein politischer Bereich von vornherein von der Möglichkeit zu einer verstärkten Zusammenarbeit ausgenommen sein sollte. Genauso selbstverständlich muss es sein, dass kein Mitgliedstaat, der bereit und in der Lage ist, an der verstärkten Zusammenarbeit teilzunehmen, von dieser ausgeschlossen werden darf. Es darf also keinen "closed shop" geben.

Unbestritten ist auch, dass sich die verstärkte Zusammenarbeit möglichst innerhalb der Verträge vollziehen soll und dass die Kommission als Hüterin der Verträge eine starke Rolle spielen muss. Ich bin sehr zuversichtlich, dass wir in Nizza in dieser Frage eine wirklich gute Lösung finden werden, die einer erweiterten Union die notwendige Flexibilität gibt, um auf dem Weg der zunehmenden Integration vorankommen zu können.

Die Entwicklung der Europäischen Union findet mit Nizza und mit der Erweiterung keineswegs ihren Abschluss. Vielmehr müssen wir uns Gedanken machen, wie wir die Union weiter festigen und wie wir den Bürgerinnen und Bürgern ein klareres Bild von der künftigen Europäischen Union vermitteln können. Hierfür haben wir mit der Grundrechte-Charta ein gutes Fundament geschaffen.

Die Charta wird in Nizza als gemeinsames Dokument von Europäischem Parlament, Rat und Europäischer Kommission feierlich proklamiert werden. Ich nehme gerne die Gelegenheit wahr, um von dieser Stelle aus dem Konvent, vor allem dem Leiter,

Altbundespräsident Herzog, noch einmal meinen Dank und meine Anerkennung für die großartige Leistung auszusprechen, die erbracht worden ist.

Die Charta - das kann man wirklich sagen - fasst europäische Wertevorstellungen und europäische Traditionen klar und für alle Bürgerinnen und Bürger verständlich zusammen. Deshalb ist dieses Dokument ein Gewinn für Europa. Die Bundesregierung tritt dafür ein, die Charta mittelfristig in die Verträge zu übernehmen, gleichsam als Herzstück für ein Grundgesetz der Europäischen Union.

Was wir darüber hinaus brauchen, ist eine Vereinfachung und Neuordnung der Verträge, eine Klärung der Gewaltenteilung zwischen den Brüsseler Institutionen und eine klare Abgrenzung der Kompetenzen zwischen dem, was in Brüssel geschieht, und dem, was in den Mitgliedstaaten zu geschehen hat.

Die Bürger beklagen sich zu Recht darüber, dass die Entscheidungswege in Europa nicht nachvollziehbar und vielfach undurchsichtig sind. Deswegen - nicht nur wegen des Freistaats Bayern, Herr Glos - sind wir der Auffassung, dass geklärt werden muss, wer für welche Fragen und für welche Entscheidungen zuständig ist. Das ist eine Frage der Klarheit, der Transparenz und damit der Legitimität Europas.

Das sind einige der wichtigen Aufgaben für eine Regierungskonferenz, die wir für das Jahr 2004 vorgeschlagen haben. Um die Akzeptanz der Union bei unseren Bürgerinnen und Bürgern zu erhöhen, ist es wichtig, dass diese Fragen geklärt werden, aber nicht nur auf einer Regierungskonferenz - das kann nur der Abschluss sein - , sondern auch in einer breiten öffentlichen Debatte.

Deswegen sollten wir uns schon in Nizza in den Grundzügen über die Aufgaben, über den Zeitpunkt und über die Vorbereitung dieser neuen Regierungskonferenz verständigen. Auch hierfür gibt es viel Zustimmung bei den Kolleginnen und Kollegen im Rat. Damit hier und anderswo keinerlei Missverständnisse aufkommen: Diese neue Regierungskonferenz ist nicht als eine Beitrittshürde für die beitrittswilligen Staaten gedacht. Sie formuliert keine neuen Voraussetzungen für die Erweiterung der Union. Dies wird auch in Nizza noch einmal ausdrücklich betont werden.

Die Europäische Union - das ist mir wichtig - steht zu ihren Zusagen von Helsinki: Bis Ende 2002, so haben wir es beschlossen, ist die interne Erweiterungsfähigkeit der EU hergestellt, und über die konkreten Beitrittstermine der einzelnen Kandidaten entscheidet dann allein deren Fähigkeit, den Acquis der Europäischen Union wirklich in vollem Umfang zu übernehmen.

Das ist der Grund, warum ich von einer Datendiskussion so wenig halte. Wir haben mit den Beschlüssen von Helsinki vernünftigerweise, wie ich finde, festgelegt: Das Europa der 15 strebt an - es wird das Ziel erreichen - , bis Ende 2002, Anfang 2003 aufnahmefähig in bezug auf neue Mitglieder zu sein. Es liegt vor allen Dingen an den beitrittswilligen Staaten selbst - wir können und wollen da hilfreich sein - , beitrittsfähig zu werden. Wann das in den einzelnen Staaten erreicht ist, ist nicht Sache der Europäischen Union, des Europas der 15, zu entscheiden; vielmehr liegt die Entscheidung vor allen Dingen bei den beitrittswilligen Staaten selbst.

Hierin liegt der Grund, warum wir der Auffassung sind, dass eine Datendiskussion von den Notwendigkeiten eines zügigen Fortschritts bei den inneren Reformen in den Beitrittsstaaten eher ablenkt und nicht hilfreich ist.

Im Zusammenhang damit ist etwas anderes wichtig: Die politische Frage der Erweiterung ist geklärt. Niemand - ich denke, auch niemand in diesem Hohen Hause - ist der Auffassung, dass an der Notwendigkeit, Europa nicht an der deutschen Ost- oder an der polnischen Westgrenze enden zu lassen, ein vernünftiger Zweifel erlaubt ist. Also verschiebt sich die Frage eines Beitritts weg von der rein politischen Ebene hin zu einer ökonomisch zu beantwortenden Frage. Ob ein Staat objektiv in der Lage ist - seine Bereitschaft unterstelle ich - , die ökonomischen Konsequenzen einer Mitgliedschaft in der Europäischen Union zu tragen - sie sind ja nicht nur entlastender, sondern auch belastender Natur; wir wissen das aus der Transformation einer Kommandowirtschaft in eine Marktwirtschaft in Deutschland - , das entscheidet sich nach dem Stand der inneren Reformen in den Beitrittsstaaten selbst.

Es entzieht sich der direkten Verantwortung der Mitgliedstaaten des Europas der 15. Dass das Europa der 15 ein Interesse daran hat, dass die Erweiterung zügig vonstatten geht, erklärt sich aus der politischen Dimension dieser Frage, aber auch aus der ökonomischen Dimension. Das gilt nicht zuletzt für Deutschland.

Ich halte es deshalb - ich sage es noch einmal - für falsch, jetzt eine Diskussion darüber zu beginnen, wann welches Land seine Beitrittsfähigkeit erreicht haben wird. Diese Diskussion würde falsche Hoffnungen und Erwartungen wecken. Unter Umständen würde sie den Reformeifer der einzelnen Länder schwächen und auf diese Weise eventuell gewaltige Enttäuschungen hervorrufen.

Was wir indessen brauchen und was wir auch schaffen wollen, ist, einen Fahrplan über die Behandlung der Sachfragen in den Beitrittsverhandlungen aufzustellen, um das hohe Tempo, das inzwischen erreicht worden ist, beibehalten und die Einzelheiten zielgerichtet umsetzen zu können. Für ein solches Vorgehen, für eine solche "road map", wie man es nennt, wird sich die Bundesregierung in Nizza einsetzen.

In Nizza geht es noch um eine Reihe weiterer wichtiger Fragen. Ich erwähne hier vor allen Dingen die europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik. Bei diesem zentralen Vorhaben, das wir 1999 unter deutscher Präsidentschaft auf den Weg gebracht haben, werden wir in Nizza aller Voraussicht nach ein wirklich bedeutendes Etappenziel erreichen. Die Truppensteller-Konferenz in der vergangenen Woche hat deutlich gemacht, dass die Europäer bereit und entschlossen sind, im Bereich der Sicherheits- und Verteidigungspolitik gemeinsam Verantwortung zu übernehmen. Die Europäer werden bei der Krisenprävention und bei der Krisenbewältigung ein starker Akteur sein.

Schließlich haben wir - nicht zuletzt auf deutsches Drängen hin - erreicht, dass zivile Krisenprävention und ziviles Krisenmanagement im Rahmen dieser Konzeption einen bedeutenden Stellenwert erreichen. Ich halte es für einen Vorzug, dass Europa nicht in erster Linie in militärischen Kategorien denkt. Für uns kann der Einsatz militärischer Mittel - das unterstreiche ich - immer nur Ultima Ratio sein.

Aus deutscher Sicht ist darüber hinaus die Sicherung der öffentlichen Daseinsvorsorge von besonderer Bedeutung. Die Kommission hat dazu gemäß dem von Deutschland angeregten Beschluss des Europäischen Rates in Lissabon im Spätsommer eine neue Mitteilung vorgelegt, die die aus dem Jahr 1996 ersetzt. Diese Mitteilung wird derzeit im Rat intensiv beraten. Wir sind der Auffassung, dass sie wichtige Schritte in die richtige Richtung enthält. Der kommende Europäische Rat sollte nach unserer Auffassung die Kommission beim Wort nehmen und die Erwartung formulieren, dass das Beihilferecht der Europäischen Union im Hinblick auf eine Stärkung der Rechtssicherheit fortentwickelt wird. Es muss sichergestellt werden, dass die besonderen Leistungen, die Einrichtungen der Daseinsvorsorge im Interesse der Allgemeinheit erbringen, bei der Anwendung wettbewerbs- und beihilferechtlicher Vorschriften des EG-Vertrages angemessen berücksichtigt werden.

Beitrittsverhandlungen und Verfassungsdiskussionen, Erweiterung und Vertiefung - das sind die großen Themen, die die Europadiskussion in den kommenden Jahren prägen werden. Am Ende dieses Jahrzehnts werden wir in einem anderen Europa leben. Dieses Europa wird größer sein; aber es muss zugleich politisch enger verflochten sein, und es wird nach meiner festen Überzeugung über eine verfassungsmäßige Grundlage verfügen müssen und verfügen.

Der Weg dorthin ist keineswegs zwangsläufig. Um dieses Europa muss also politisch gekämpft werden, und zwar nicht nur auf der Ebene von Staaten und Regierungen, sondern vor allen Dingen in den europäischen Gesellschaften selbst. Wir müssen um des großen Projektes willen verstärkt nicht bloß um den Verstand der Bürgerinnen und Bürger, sondern eben auch um ihr Engagement für dieses Europa und, wenn man so will, um ihre Herzen ringen.

Angesichts dessen, was ich skizziert habe, lässt sich wirklich ohne falsches Pathos sagen: Europa ist unsere Zukunft. Seine Vertiefung und Erweiterung bringen uns Fortschritte, die im gemeinsamen Interesse, aber eben auch im nationalen Interesse Deutschlands liegen. Dabei wissen wir um die Ängste und Sorgen der Bürgerinnen und Bürger. Auch wenn sich diese Sorgen im Ergebnis als weitgehend unbegründet erweisen werden, müssen wir diese Sorgen im Prozess der Erweiterung und Vertiefung ernst nehmen.

Weil das so ist, dürfen wir bei diesem Thema keine Stimmungsmache betreiben, sondern müssen gemeinsam die politische und ökonomische Notwendigkeit und unser nationales Interesse an der Erweiterung betonen. Ich sage das noch einmal insbesondere mit Bezug auf die Menschen, die in den Grenzgebieten zu Polen, zu Tschechien leben und die angesichts bestimmter Fragen Ängste haben, die ich nachvollziehen kann.

Ich habe dort immer wieder gesagt und will es auch hier sagen: Es gibt längs der Grenze eine Reihe wirklich wichtiger Industrieunternehmen, die sich Gott sei Dank dort angesiedelt haben. Mit ihrer Ansiedlung verbanden sie aber die klare Strategie, aus diesen Grenzgebieten, zum Beispiel längs der Oder, die mittel- und osteuropäischen Märkte zu bearbeiten und für ihre eigenen Produkte zu erobern.

Die Strategie dieser Unternehmen, die in diesen Bereichen Arbeitsplätze schaffen, kann und wird nur aufgehen, wenn die Märkte auch aufnahmefähig für die Produkte werden, die längs der Grenze hergestellt werden. Hier liegt einer der Gründe, warum es auch und gerade im Interesse der Grenzregionen liegt, dass die Erweiterung kommt.

Wir alle müssen begreifen, dass es in unserem ökonomischen Interesse liegt und uns nützt, wenn durch Integration in die Europäische Union in den Staaten Mittel- und Osteuropas für uns wichtige Märkte entstehen. So können wir den richtigen Weg einschlagen. Dabei wird dann auch deutlich, dass die Chancen einer Erweiterung weit größer sind als die Nachteile, die viele befürchten.

In diesem Zusammenhang noch etwas: Natürlich wird im Laufe der Verhandlungen auch darüber geredet werden müssen, welche Übergangsfristen erforderlich sind. Das ist doch gar keine Frage. Das wird übrigens ein bilateraler Prozess sein. Es steht doch völlig außer Frage, dass es für gewisse Zeiträume bezüglich einiger Tatbestände Übergangsfristen auch für die beitrittswilligen Staaten geben muss und geben wird. Ich will dazu keine Beispiele nennen. Aber Sie alle kennen doch die Tatsache, dass der Industrialisierungsgrad auf absehbare Zeit noch unterschiedlich sein wird. Deswegen muss natürlich auch auf der anderen Seite und keineswegs nur auf unserer Seite über Übergangsfristen diskutiert werden. Das wird auch geschehen.

Auf unserer Seite bezieht sich die Diskussion zum Beispiel auf die Frage der Arbeitnehmerfreizügigkeit. Wir wollen und wir werden kein Lohndumping zulassen. Das ist gar keine Frage. Sie bezieht sich auch auf gewisse Formen von Dienstleistungsfreiheit, denn wir wollen und wir werden bei uns kein Preisdumping zulassen. In den beitrittswilligen Staaten bezieht sie sich etwa auf für diese wichtige Fragestellungen der Industrie- und Landwirtschaftspolitik. Insofern bin ich ganz sicher, dass es im

Interesse beider Seiten liegt, hier zu vernünftigen, den Ängsten der Bevölkerung auch wirklich begegnenden Regelungen zu kommen. Wir jedenfalls werden uns dafür einsetzen.

Politische Orientierungen für das zukünftige Europa zu geben und dafür um die Zustimmung der Bürgerinnen und Bürger zu werben sollte vor diesem Hintergrund eine gemeinsame Aufgabe des Hohen Hauses sein. Ein so herausragendes politisches, wirtschaftliches und gesellschaftliches Zukunftsprojekt wie die europäische Einigung lebt gewiss von der produktiven Auseinandersetzung um seine Gestaltung. Die Auseinandersetzung zwischen allen Beteiligten und in der Gesellschaft bei uns sollte konstruktiv - ich betone: konstruktiv - geführt werden.

Vor diesem Hintergrund ist die Bundesregierung bereit - sie befindet sich damit in einer guten deutschen Tradition - , die großen europapolitischen Aufgaben der Zukunft, die im wohlverstandenen nationalen Interesse Deutschlands liegen, gemeinsam mit allen Fraktionen des Deutschen Bundestages anzugehen, um die zwischen uns weitgehend unstrittigen Ziele hinsichtlich der Perspektiven der europäischen Einigung in und eben auch für Europa zu verwirklichen. Ich sage es noch einmal: Das schließt produktiven Streit nicht aus. Aber er sollte auf der Basis der gemeinsamen Grundüberzeugungen, was die Entwicklung der Europäischen Union, ihre Erweiterung und ihre Vertiefung angeht, ausgetragen werden.