Redner(in): Gerhard Schröder
Datum: 29.11.2000

Anrede: Herr Präsident!Meine Damen und Herren!
Quelle (evtl. nicht mehr verfügbar): http://archiv.bundesregierung.de/bpaexport/rede/42/26242/multi.htm


Ich habe durchaus amüsiert, vor allem dem Kollegen Glos, genauso wie dem Kollegen Brüderle, zugehört. Wer zugehört hat, der wird gemerkt haben, dass die beiden in humorvoller Art und Weise über ein Land geredet haben, das jedenfalls nicht Deutschland sein kann.

Die Situation in Deutschland ist anders - um das zu erkennen, muss man sich nur einmal mit der Wirklichkeit in unserem Land befasst haben - , als Sie sie darzustellen versucht haben. Durchaus sympathisch in der Art und Weise, aber schrecklich falsch in der Klassifizierung unseres Landes und damit auch in der Klassifizierung dessen, was die Menschen in unserem Land leisten. Wer die Wirklichkeit in Deutschland so verzeichnet wie Union und FDP, der irrt, wenn er glaubt, dass er - das scheint nur vordergründig so zu sein - damit in erster Linie die Bundesregierung trifft. Nein, Ihr Verhalten ist die aus parteipolitischen Gründen bewusst vorgenommene Missachtung der Leistungen von Millionen Menschen in unserem Land. Das ist das, was Sie falsch machen.

Die erfreuliche wirtschaftliche Entwicklung in Deutschland ist doch das Ergebnis der Arbeit dieser Menschen. Das sollten Sie erfreut zur Kenntnis nehmen und zu würdigen beginnen. Ihre Art, über Deutschland zu reden, ist eine Beleidigung der Leistungskraft der Deutschen, und das werden diese spüren und Sie auch spüren lassen.

Befassen wir uns mit der Wirklichkeit und nehmen uns erstens das wirtschaftliche Wachstum vor. Beim wirtschaftlichen Wachstum in den ersten neun Monaten dieses Jahres im Vergleich zum Vorjahr haben wir ein Plus von 3,2 Prozent, das heißt, dass wir im Jahr 2000 im Vergleich zum Vorjahr ein wirtschaftliches Wachstum von drei Prozent erreichen werden.

Der Sachverständigenrat sagt, drei Prozent, meine Damen und Herren, da haben Sie hier Recht, sei eine Menge, reiche aber nicht. Dies reicht auch uns nicht. Daher ist es sinnvoll, sich einmal zu fragen, woher es kommt, dass zu diesen schon erfreulichen drei Prozent - Sie hätten Freudentänze aufgeführt, wenn Sie zu Ihrer Regierungszeit ein solches Wachstum gehabt hätten, aber wir sind ehrgeiziger - nicht noch ein paar zehntel Prozentpunkte hinzugekommen sind.

Die Erklärung ist ziemlich einleuchtend und die geben Sie auch in anderen Zusammenhängen immer mit. Wir haben in der Tat Probleme in der Bauwirtschaft mit einem Schwerpunkt im Osten unseres Landes. Das ist gar keine Frage. Es gibt dort Kapazitäten, die nicht ausgelastet sind und auch nicht ausgelastet werden können. Es gab dort im letzten und leider auch in diesem Jahr noch immer eine sinkende Nachfrage nach Bauleistungen. Das ist bedauerlich.

Interessant ist nun, dass wir mit dem, was wir vorgelegt haben, nämlich durch die Zinsersparnisse, die aus der Verwendung der UMTS-Erlöse resultieren, wirklich Investitionskraft zu schaffen, und mit dem, was sich dort ergeben wird, auch dieses Problems Herr werden. Aber klar ist: Dadurch ist die wirtschaftliche Entwicklung speziell im Osten unseres Landes noch immer nicht so gut, wie wir es gerne hätten. Klar ist auch - das sagen nun wirklich alle Sachverständigen - , dass die wirklich rasanten Ölpreissteigerungen in diesem Jahr, verantwortet durch die OPEC, Wachstumsdellen verursacht haben, die das Ergebnis nicht noch besser ausfallen lassen, als es ohnehin schon ist.

Aber von wirklich allen wirtschaftswissenschaftlichen Experten werden drei Prozent in diesem Jahr - das steht fest - und 2,75 Prozent im nächsten Jahr trotz Ölpreissteigerungen prognostiziert. Das steht so gut wie fest. Das ist ein Ergebnis, das Sie, meine Damen und Herren, in den letzen Jahren Ihrer Regierungszeit zu keinem einzigen Zeitpunkt zu verzeichnen hatten. Gehen Sie in sich und freuen Sie sich mit uns darüber, dass die deutsche Wirtschaft, gespeist aus der Leistungskraft der Menschen in Deutschland, solche Erfolge zu zeitigen hat. Freuen Sie sich mit darüber und sitzen Sie nicht miesepetrig herum und machen alles schlecht. Das bringt doch nichts.

Ich sage noch einmal: Wenn es stimmt - viele Experten sagen das ja - , dass die Hälfte dessen, was sich in der Wirtschaft vollzieht, auf Psychologie beruht, dann ist die Miesepetrigkeit, dann ist das bewusste Schlechtreden aus parteipolitischen Gründen, was Sie machen, ökonomisch nachgerade gefährlich. Das dürfen Sie so nicht weitermachen. Stellen Sie sich einmal vor, jemand aus dem Ausland hätte die Rede von Herrn Glos oder von Herrn Brüderle gehört: Was dächte der wohl über Deutschland? Die Wahrscheinlichkeit, dass das passiert, ist zwar nicht sehr groß; aber gefährlich wäre es schon, wenn Sie so über Ihr eigenes Land reden.

Schauen wir uns an, was sich als Folge unserer Politik auf dem Arbeitsmarkt in Deutschland wirklich tut. Ich habe die Zahlen des Jahres 1997, also des Jahres, bevor wir ins Amt kamen, in etwa im Kopf: Die Zahl der Arbeitslosen lag zwischen 4,6 und 4,7 Millionen. Das können Sie nicht bestreiten. Das war das Ergebnis Ihrer Politik. Da sitzen Sie nun und schweigen mich an. Das ist nichts Neues und für die Menschen in Deutschland auch nichts Gutes, weil diese Form der Schwarzmalerei jenen Optimismus wirklich nicht hervorbringt, den wir brauchen und auf den wir angesichts der Erfolge der Menschen in Deutschland auch ein Recht haben.

Schauen wir uns an, was auf dem Arbeitsmarkt von 1997 bis jetzt passiert ist. Am Ende dieses Jahres ist die Arbeitslosigkeit um nur etwas weniger als eine Million niedriger als in der Schlussphase Ihrer Regierungszeit. Nach allen uns bekannten Prognosen werden wir Ende des nächsten Jahres eine Arbeitslosigkeit von 3,5 Millionen - vielleicht wird sie sogar etwas darunter liegen - erreichen können. Nun höre ich: Das reicht nicht. Auch mir reicht das nicht; das ist gar keine Frage. Aber es ist schon richtig, zu würdigen, dass in den letzten zwei, zweieinhalb Jahren eine Menge passiert ist.

Wenn ich die Zahl der Erwerbstätigen in Deutschland von Oktober 2000 mit der von Oktober 1999 vergleiche, dann stelle ich einen Anstieg von mehr als 550 000 sozialversicherungspflichtig Beschäftigten fest. Ich höre Sie schon reden, das reiche Ihnen nicht. Auch mir reicht das nicht; aber Sie haben dergleichen in den 16 Jahren, in denen Sie regiert haben, doch nicht einmal zuwege gebracht. Was soll denn diese Art der Auseinandersetzung?

Ich gehöre zu denjenigen, die gesagt haben: Wir wollen, was unsere Regierungstätigkeit angeht, am Abbau der Arbeitslosigkeit und an der Gesundung, beziehungsweise an der Perspektive unserer wirtschaftlichen Entwicklung, gemessen werden. Wir haben gut daran getan, dies - übrigens, man hätte sowieso nach dieser Elle gemessen - als Maßstab für die Bewertung des Erfolgs unserer Politik zu benennen. Ich stelle mit einem gewissen Stolz fest: Nicht zuletzt aufgrund der Politik, die wir eingeleitet haben, sind diese Erfolge durch die Menschen in Deutschland erreicht worden. Wir haben einen vernünftigen Rahmen gesetzt, der das ermöglicht hat.

Es ist immer wieder notwendig, darauf hinzuweisen - gerade in Zeiten aufgeregter Debatten - , was die Ursache für die doch insgesamt positiven Daten - eine Opposition kann das nicht ernsthaft bestreiten - ist, über die wir uns eigentlich alle freuen müssten. Ich nenne drei Ursachen und ich knüpfe damit an das an, was der Finanzminister gestern mit gutem Recht und mit ein wenig Stolz - ich finde, den darf man bei guter Arbeit empfinden - im Hinblick auf seinen Haushalt deutlich gemacht hat: Wir haben eine Konsolidierungspolitik begonnen und in die Tat umgesetzt, die diesen Namen wirklich verdient.

Diese Konsolidierungspolitik von Hans Eichel und des gesamten Bundeskabinetts, einmütig unterstützt von der Koalition, ist einer der wichtigsten Gründe für das Positive, das wir in den letzten Jahren erreicht haben; denn der vom Finanzminister verdeutlichte Zusammenhang zwischen der Konsolidierung auf der einen Seite und den damit freigesetzten Möglichkeiten für Zukunftsinvestitionen auf der anderen Seite ist ja nicht konstruiert, sondern es gibt ihn wirklich. Wir haben deshalb - das unterstreiche ich hier noch einmal sehr deutlich; Herr Claus, das geht auch an Sie - Sparen nie als Selbstzweck begriffen, sondern erkannt, dass wir - übrigens auch wegen der Integration Europas; darauf hat der Finanzminister gestern ebenfalls hingewiesen - die öffentlichen Haushalte in Ordnung bringen müssen, weil dies ökonomisch notwendig ist, weil nur eine Finanzpolitik, die die Bezeichnung "nachhaltig" verdient, unserer Verantwortung für künftige Generationen gerecht wird, und weil nur diese Eichelsche Finanzpolitik uns die Spielräume für das eröffnet, was wir zu Recht Zukunftsinvestionen nennen.

Konsolidierung - Sparpolitik kann man auch dazu sagen - ist also kein Selbstzweck. Ich bitte Sie, das im Auge zu behalten und weiter zu bedenken. Konsolidierung ist die Voraussetzung dafür, sich finanzielle Möglichkeiten zu verschaffen, um die wichtigen Zukunftsaufgaben anzugehen und zu erfüllen.

Die zweite Grundlage dieses Erfolges ist die Steuerreform, die mühsam genug gegen Blockadehaltungen im Bundesrat durchzusetzen war. Ich bin Ihnen dankbar dafür, dass Sie hierbei geholfen haben, meine Damen und Herren von der FDP. Das war wirklich einmal Einsicht in eine historische Notwendigkeit. Hier ist eine Wiederholung durchaus erwünscht, Herr Brüderle. Sie haben auch etwas dafür bekommen, was wir nicht wollten. Das ist fairerweise zuzugeben. Wenn man einen Kompromiss mit jemandem schließt, der anders denkt, dann kann das ja nur ein Geben und Nehmen sein. So war das auch hier. Insoweit hat - anders, als ich es gelegentlich gelesen habe - niemand den anderen über den Tisch gezogen. Wir haben vielmehr miteinander geredet und uns auf ein vernünftiges Konzept geeinigt. So einfach kann das sein, auch wenn es so einfach nicht immer ist.

Diese Steuerpolitik hat neben der Konsolidierungspolitik die Grundlage für den wirtschaftlichen Aufschwung in Deutschland gelegt. Wir haben mit dem manchmal sehr merkwürdigen Gegeneinanderausspielen von angebots- und nachfrageorientierter Steuer- und Finanzpolitik aufgehört. Wir haben beides gemacht und eine sinnvolle Balance gefunden. Es kann gar nicht oft genug betont werden, dass zu Beginn des nächsten Jahres die größte Steuerentlastung für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in Kraft treten wird, die es jemals in der Bundesrepublik Deutschland gegeben hat. Ein verheirateter Arbeitnehmer mit zwei Kindern, der brutto 75 000 DM verdient, wird nach Abschluss aller Stufen der Steuerreform im Jahre 2005 - ich komme auch zu den anderen Zahlen; ich habe sie alle im Kopf - im Vergleich zu 1998 deutlich mehr als 5 000 DM jährlich netto im Portemonnaie haben. Das ist ein Erfolg, den Sie nicht klein schreiben sollten.

Herr Glos, da Sie über Gerechtigkeit geredet haben, sage ich Ihnen, dass das nicht nur ein Gebot praktizierter Gerechtigkeit, sondern auch ein Gebot ökonomischer Vernunft ist; denn die positiven Wirtschaftsdaten, die Sie wirklich würdigen sollten, haben jetzt Gott sei Dank nicht mehr nur mit der Außenkonjunktur zu tun. Natürlich freue ich mich darüber, dass wir in diesem Quartal im Vergleich zum dritten Quartal des Vorjahres immer noch ein Exportwachstum von etwas mehr als zwölf Prozent haben. Dieses Wachstum können wir gut gebrauchen; das ist gar keine Frage.

Wir sehen inzwischen, dass die von uns angekündigten Reformen, die 2001 in Kraft treten werden, auch auf dem Binnenmarkt Erfolge zeitigen. Im Vergleich zum Oktober 1999 stiegen die Ausrüstungsinvestitionen in Deutschland - diese sind ein ganz wichtiger Indikator für das, was zukünftig in der Wirtschaft passieren wird - um sage und schreibe fast neun Prozent; exakt um 8,9 Prozent, wie ich glaube. Das ist doch ein Erfolg. Greifen Sie doch diese Erfolgsstory auf und sagen Sie den Menschen - ich hoffe, Sie tun das nachher, Herr Merz - : Das ist ein Erfolg; das ist euer Erfolg; macht weiter so; auch die CDU kapiert inzwischen, dass das, was momentan geschieht, vernünftig ist. Das wäre doch einmal etwas Neues und wäre auch nötig.

Aufgrund der Steuerreform, die wir gemacht haben und fortführen werden, entwickeln sich im Übrigen nicht nur die Ausrüstungsinvestitionen positiv, sondern auch der private Konsum zieht an. Das freut die Einzelhändler und auch die Konsumenten. In diesem Jahr ist die Nachfrage nach Konsumgütern gegenüber 1999 um zwei Prozent gestiegen. Nach den vorliegenden Prognosen wird sie im nächsten Jahr dank unserer Steuerreform um drei Prozent steigen. Dieses kann sich doch sehen und hören lassen. Ich würde mir ein bisschen Freude über diese Entwicklung wünschen, auch wenn es Ihnen schwer fällt; übrigens kann man gelegentlich auch ein wenig Leidenschaft gebrauchen. Ein wenig Leidenschaft angesichts der Leistungen der Menschen in Deutschland kann nicht so schlecht sein. Vielleicht kommen Sie damit nachher ja rüber. Ich würde mich darüber jedenfalls freuen. Ich höre auch genau zu; das verspreche ich Ihnen.

Nicht alleine die Nachfrageseite haben wir verbessert, sondern auch die Unternehmensteuern kräftig gesenkt. Sonst hätten Sie ja nicht geholfen. Es ist eine Mär, dass wir nur etwas für die großen Kapitalgesellschaften gemacht haben. Diese höre ich immer wieder insbesondere von Herrn Glos; er hat zu Zeiten, in denen sich die PDS von Karl Marx abwendet, sein antikapitalistisches Herz entdeckt und beginnt von ihm zu lernen. Damit wird eine völlig neue Form der Programmdebatte in der CDU / CSU kreiert. Ich bin einmal gespannt, inwieweit das in Ihrer Partei Schule macht.

Spaß beiseite. Wir haben keineswegs nur etwas für die Großen gemacht, aber natürlich wegen des verschärften internationalen Wettbewerbs auch etwas für diese. Denn das ist kein Pappenstiel. Sie zahlen jetzt 25 Prozent Körperschaftsteuer. Das haben wir gemacht, damit die deutsche Wirtschaft bei der Eroberung von Märkten konkurrenzfähig bleibt.

Das internationale Geschäft, Herr Kollege Claus, ist nämlich wirklich hart. Wenn Sie sich damit näher beschäftigten, werden Sie merken, dass das nicht so einfach ist. Wir tun das, weil möglichst hohe Marktanteile für Firmen in Deutschland Arbeitsplätze für unsere Menschen nach sich ziehen. Dieser Zusammenhang liegt dem zugrunde. Wir wollen dabei behilflich sein. 25 Prozent sind im internationalen Vergleich eine Menge, die sich wahrlich sehen lassen kann. Hinzu kommen - das ist von Kommune zu Kommune unterschiedlich und darauf haben wir keinen Einfluss - im Durchschnitt zwölf bis dreizehn Prozent Gewerbeertragsteuer.

Diese 38 Prozent - das muss man endlich einmal in die Köpfe bekommen - nennt der Finanzminister Definitivbesteuerung. Das heißt, dieses Geld ist abzuliefern. Dagegen gibt es beim Mittelstand eine Einkommensbesteuerung. Sie setzen sich zu Recht für den Mittelstand ein; das wäre aber gar nicht nötig, weil wir ihn bei unserer Steuerreform berücksichtigt haben. Diese Einkommensbesteuerung ist eine Grenzbesteuerung, wie Sie - insbesondere gilt das für Herrn Merz - genau wissen. Das bedeutet, dass nicht schon von der ersten Mark an Steuern zu zahlen sind. Wir haben die Steuerreform so konstruiert, dass mit ihr ein Traum des Mittelstandes in Erfüllung gehen konnte.

Es ist also ein Traum der mittelständischen Unternehmen in Erfüllung gegangen, dass die faktische Abschaffung der Gewerbeertragsteuer realisiert worden ist. Der Unterschied zwischen uns ist: Sie haben Jahrzehnte darüber geredet, aber wir haben es gemacht. Ich bestreite überhaupt nicht, dass es nicht einfach war.

Ich mache jetzt noch eine Bemerkung zur Rente, weil sie zu dem Paket gehört, das in der Zukunft seine Wirkungen entfalten wird. Ich habe schon deutlich gemacht, dass wir in dieser Legislaturperiode im Deutschen Bundestag bei der Rente eine zentrale Aufgabe zu erfüllen haben. Sie werden es erleben, da bin ich ganz sicher, dass ich fest mit der Koalition rechnen kann. Wir müssen die Rente für die Alten so sicher wie möglich machen und für die Jungen bezahlbar halten.

Angesichts der demographischen Entwicklung und der veränderten Arbeitsbiographien in unserem Land, die sich von den Biographien vor 20 Jahren unterscheiden, geht kein Weg daran vorbei, dass wir die umlagefinanzierte Rente zwar nicht ersetzen, aber doch ergänzen. Wir müssen also das aufbauen, was man private Vorsorge oder auch Kapitaldeckung nennt. Das ist der Kern dessen, was wir wirklich schaffen müssen.

Ich sage an alle, die sich mit den Einzelheiten gelegentlich kritisch beschäftigen und insbesondere an alle Skeptiker in der Koalition: Der Kern der Rentenreform ist der Aufbau einer kapitalgedeckten Altersvorsorge. Das muss uns gelingen. Über die Einzelheiten kann man mit der Opposition, den Verbänden und den gesellschaftlichen Gruppen diskutieren. Man darf aber nicht - mit welchen Argument auch immer - vor der Einsicht flüchten, dass dieser Kern notwendig ist. Wir brauchen diese Reform in Deutschland, wenn wir über die hinreichende Sicherheit für die Alten und die Bezahlbarkeit für die Jungen nicht nur sprechen, sondern sie wirklich erreichen wollen. Mir geht es auch und gerade in dieser Frage um das Machen.

Wenn man einen Strich zieht, kann man sagen, dass jeder Versuch der Opposition, eine andere Lage als die eben mit doch nüchternen Zahlen skizzierte zu beschreiben, ein bisschen beleidigend für unser Land und für die Menschen ist, die diese Leistungen erbracht haben. Es ist beleidigend - das bedauere ich - , weil eine Opposition, die ihre Verantwortung wahrnimmt, zwar die Regierung kritisieren sollte, aber doch nicht das Land permanent schlechtreden darf. Das ist doch nicht in Ordnung!

Lassen Sie mich in diesem Zusammenhang ein schwieriges Problem ansprechen, nämlich die Frage, wie wir mit den BSE-Fällen in Deutschland in Zukunft umgehen werden. Ich bin dankbar dafür - so sieht es im Moment aus - , dass alle Fraktionen des Hohen Hauses der Meinung sind: Wir müssen in dieser Woche eine gesetzliche Grundlage dafür schaffen, dass Tiermehl nicht mehr verfüttert wird. Es soll nicht nur an Wiederkäuer nicht verfüttert werden - das ist schon seit 1994 der Fall - , sondern es soll ganz aus der Nahrungskette herausgenommen werden. Das ist ein wichtiger Fortschritt.

Ich erbitte die Unterstützung des ganzen Hauses - ich sage das ohne Einschränkung; die Opposition ist eingeschlossen, sie gehört ja dazu - für unsere Bemühungen. Nach dem, was man aus anderen Ländern hört, scheint es zu gelingen, entsprechende Regelungen europaweit in Kraft zu setzen. Angesichts der offenen Grenzen können diese Regelungen nur funktionieren, wenn man sie europaweit durchsetzt.

Wir haben darüber hinaus Maßnahmen eingeleitet - ich denke, auch darüber besteht in diesem HauseEinigkeit - , die sicherstellen, dass die Schnelltests, die zur Entdeckung der Krankheit in Deutschland geführt haben, massiv ausgeweitet werden, sodass wir den Verbrauchern sagen können, was auf sie zukommt und was nicht.

Ich will an das anknüpfen, was schon heute Morgen diskutiert worden ist, übrigens auch an das, was Sie, Herr Glos, gesagt haben. Ich weiß nicht, ob diese Sache in allen Einzelheiten so durchgeführt worden ist. Es gibt zum Beispiel in Bayern Ketten - solche Ketten gibt es nicht nur in Bayern, sondern auch in anderen Ländern - es gibt sie ebenso in Niedersachsen, aber auch in Baden-Württemberg, das ist ja keine Frage; wir sollten da nicht streiten, sondern sich vielleicht eine sinnvolle Konkurrenz, wer es besser macht, entfalten lassen - einer lückenlosen Verfolgbarkeit des Produkts Fleisch bis hin zum Erzeuger, und es gibt Formen der Vertragslandwirtschaft - der Landwirtschaftsminister hat darüber gesprochen - , die das sicherstellen.

Wer immer in der Vergangenheit Schuldzuweisungen machen wollte oder in der Gegenwart welche machen will, geht nicht richtig auf die Ängste der Verbraucher ein. Es ist notwendig, dass wir die eben dargestellten Maßnahmen durchführen. Außerdem müssen wir eine Landwirtschaftspolitik einleiten, die auf genau dieser Basis beruht. Wenn wir hier im Deutschen Bundestag klarmachen, dass das der feste Wille des ganzen deutschen Parlaments ist, sollte uns das auch gelingen. Wir könnten damit auf der einen Seite ein Beispiel in und für Europa geben und auf der anderen Seite wirklich eine Perspektive für unsere bäuerlichen Unternehmer schaffen und etwas gegen ihre Existenznot tun. Diese wiederum müssten und könnten dann eine Form von Produktion und Vermarktung schaffen, die diese Kontrollierbarkeit für die Verbraucher erlaubt. Dann kann der eine seinen Leberkäs und der andere seine Currywurst wieder ohne Ängste verzehren.

Aber wenn wir den Fehler machen, es jetzt bei der Aufdeckung und Bekämpfung der aufgetretenen Krankheiten und Missstände zu belassen, statt daraus eine Perspektive für eine andere, verbraucherfreundlichere Landwirtschaft zu entwickeln, also weg von den Agrarfabriken zu kommen, werden wir das nie mehr schaffen.

Ich bin im Übrigen froh darüber, dass wir nicht nur mit der Steuer- und Konsolidierungspolitik Maßstäbe haben setzen können - übrigens stark beachtet in Europa und über Europa hinaus - , sondern dass wir durch die Art und Weise, wie wir mit - wie hat Herr Eichel das genannt? - dem Zufallsfund der UMTS-Lizenzen umgegangen sind, in doppelter Hinsicht Verantwortung für künftige Generationen bewiesen haben. Zum einen haben wir die Schulden um hundert Milliarden DM abgebaut. Das ist kein Pappenstiel. Außerdem können wir durch das aus den reduzierten Zinslasten gewonnene Geld zunächst für drei Jahre nachhaltig Zukunftsinvestitionen finanzieren. Wir tun das. Über die Bahn ist schon gesprochen worden: Wir werden in den nächsten drei Jahren jährlich zwei Milliarden DM zusätzlich - ich unterstreiche "zusätzlich" - investieren. Ich hoffe, es besteht hier und in dem entsprechenden Ausschuss Einigkeit darüber, dass sie nicht zur Lösung bestehender betriebswirtschaftlicher Probleme genutzt werden können, sondern investiert werden müssen. Ich finde, das sollte für uns alle klar sein.

Zum anderen haben wir das Thema Straße nicht vernachlässigt. Wenn ich es richtig im Kopf habe, investieren wir in den nächsten Jahren dreimal 900 Millionen DM. Auch das ist kein Pappenstiel. Diese Investitionen erfolgen zusätzlich zu den Investitionen, die ohnehin im Bundesverkehrswegeplan stehen. Das zeigt ebenfalls, dass wir Verantwortung für die Infrastruktur, die ja auch zukunftsträchtig ist, wahrnehmen.

Dann gibt es noch etwas, auf das die Bildungs- und Forschungsministerin wirklich stolz sein kann. Wir haben nicht nur - so viel zum Punkt Gerechtigkeit; ich weiß, worüber ich in diesem Zusammenhang spreche - jungen Leuten aus ärmeren Familien geholfen, studieren zu können, sondern wir haben wirklich massiv mehr Geld gegeben, damit der Anteil derer aus Arbeitnehmerfamilien, die in materieller Hinsicht nicht die Möglichkeit haben, Deutschlands hohe und höchste Schulen zu besuchen, wieder steigt. Das ist wichtig.

Wir brauchen das übrigens nicht nur unter dem Aspekt der sozialen Gerechtigkeit, sondern vielmehr auch aus purer ökonomischer Vernunft. Ein hoch entwickeltes Land wie das unsere, dessen Produktion immer mehr auf Wissen basiert und basieren wird, kann es sich buchstäblich nicht leisten, eine einzige Begabung in unserem Volk unausgeschöpft zu lassen. Das gilt übrigens allemal auch für Frauen; das will ich hier sehr deutlich betonen.

Wir haben nicht nur das getan, sondern auch massiv in die Hochschulen und in Forschungsbereiche investiert, die mit über unsere Zukunftsfähigkeit entscheiden. Ich meine zum Beispiel das sehr schwierige Gebiet der Genomforschung. Es ist nicht meine Sache, hierzu einen Vorschlag zu machen. Aber ich würde mir wünschen, dass wir hier im Deutschen Bundestag, bevor wir zu Lösungen kommen, was diese einerseits unter wirtschaftlichen Gesichtspunkten, aber andererseits auch sehr stark unter ethischen Gesichtspunkten zu beurteilende Frage angeht, eine Diskussion führen, die diesem Thema gerecht wird.

Ich habe zum Beispiel in Amerika und England ganz unterschiedliche Ansätze wahrgenommen. Die Franzosen haben jetzt angekündigt, sie würden ein neues Gesetz machen. Frau Fischer arbeitet an Eckpunkten. Ich wünsche mir wirklich, dass das Parlament die Stunde nutzt, über dieses Thema, das sich sehr stark parteipolitischen Festlegungen entzieht - denn ethische Gesichtspunkte spielen in diesem Zusammenhangeine große Rolle - , wirklich intensiv zu sprechen.

Dies würde ich mir deshalb wünschen, weil es wirklich schwierig ist, auf diesem Gebiet eine feste Position zu haben, die auch einer breiten Diskussion zugänglich ist. Dieser Bereich ist sehr stark zum Ersten mit wirtschaftlichen Erwartungen, zum Zweiten mit Emotionen, was die Chance, schwere Krankheiten zu heilen, angeht und zum Dritten, wie gesagt, mit prinzipiellen ethischen Fragen belastet. Ich glaube daher, dass diese drei Punkte im Mittelpunkt einer verantwortungsbewussten parlamentarischen Debatte stehen sollten. Wir werden sicher die Gelegenheit haben - wir werden sie uns nehmen müssen - , über diese Fragen hier miteinander zu diskutieren. Dass in diesem Bereich jetzt die Forschungsaufwendungen dramatisch erhöht werden, finde ich richtig. Dies muss aber durch die von mir soeben skizzierte Form der Auseinandersetzung begleitet werden.

Ich habe gehört, dass der Oppositionsführer Herr Merz heute Morgen angekündigt hat, er wolle sich besonders mit den Fragen des Arbeitsmarktes auseinandersetzen. Das ist schon okay; denn das ist eine wirklich ernsthafte Geschichte.

Ich will Ihnen die drei Punkte nennen, die wir gemacht haben und noch machen werden, und ich möchte, dass wir darüber in unserer Gesellschaft eine wirkliche Diskussion führen. Worum geht es bei den Fragen, die mit dem Beschäftigungsförderungsgesetz, mit der Teilzeitregelung und mit dem Betriebsverfassungsgesetz verbunden sind? Es geht uns dabei um das, was man einmal aus guten Gründen stolz das "Modell Deutschland" genannt hat - es war richtig, das so zu nennen - , ein Modell der Industriegesellschaft also, das auf zwei Grundpfeilern ruht: zum einen auf der wirtschaftlichen Leistungskraft und zum anderen auf der Teilhabe aller in der Gesellschaft, an den Entscheidungen der Gesellschaft, aber auch an den materiellen Ver diensten der Gesellschaft, also Teilhabe in einem umfassenden Sinne. Philip Rosenthal, ein großer alter Mann der deutschen Sozialdemokratie, hat einmal gesagt: Worum es geht, ist die Teilhabe der breiten Schichten der arbeitenden Bevölkerung am Haben und am Sagen in der Gesellschaft.

Vielleicht unterscheidet uns das ja; vielleicht trennen sich da unsere Wege. Es wäre ein Stück Klarheit für die Wahlbevölkerung in Deutschland, wenn das so wäre. Dieses Prinzip der Teilhabe am Haben und am Sagen für die arbeitenden Schichten in unserem Volk ist für die deutsche Sozialdemokratie, Gott sei Dank auch für die ganze Koalition, unaufgebbar.

Nun geht es aber nicht darum, einfach festzuhalten am Überkommenen. Ich denke, wir haben deutlich gemacht, dass das nicht die Form ist, in der wir mit diesem Prinzip umgehen. Nein, es geht darum, in der jeweiligen historischen Situation die Veränderungen an der ökonomischen Basis zur Kenntnis zu nehmen, zu bestimmen, was das in unserer augenblicklichen Situation denn heißt: Teilhabe am Haben und am Sagen.

Damit bin ich bei den drei Punkten, die ich Ihnen, Herr Merz, für die Debatte ganz klar sagen wollte.

Erster Punkt: Beschäftigungsförderungsgesetz. Sie werden sich erinnern: Sie haben das gemacht, und Sie haben es befristet bis zum 31. Dezember dieses Jahres. Sie haben es befristet - damals vielleicht auf Druck der Opposition - , um im damaligen Bündnis für Arbeit, das es ja noch gab, den Gewerkschaften etwas entgegenzukommen. So war das doch wohl.

Sie haben es befristet. Wenn wir nichts gemacht hätten, wäre das Gesetz sang- und klanglos ausgelaufen. Nun ging es für uns darum - immer das Stichwort Teilhabe im Hinterkopf - , dafür zu sorgen, dass die notwendige Flexibilität, die die Unternehmen brauchen bei der Befristung von Arbeitsverträgen, übereinkommt - Herr Glos, ich nehme Ihnen ja ab, dass Sie sich wirklich Sorgen machen um die kleinen Leute; die Kleinen sind ja meistens die ganz Großen - mit jenem Maß an Sicherheit und an Planbarkeit ihres Lebens und des Lebens ihrer Familien, auf das die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer auch angewiesen sind.

Wir werden nicht zulassen, dass die deutschen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer unter dem Stichwort Flexibilität zu einer fungiblen Menge werden. Das lassen wir nicht zu. Deswegen sagen wir: Die Veränderungen in der Arbeitswelt erfordern befristete Einstellungen. Wir haben sogar - gegen den Rat der Freunde in den Gewerkschaften; Sie können sich vorstellen, das war nicht so ganz einfach - gesagt: Wir machen das unbefristet, und wir machen es viermal sechs Monate. Aber eine Übung, die eingerissen war, dass man zunächst jemanden mit einem sachlichen Grund, eine Krankheitsvertretung zum Beispiel, befristet einstellt und danach das Spiel mit den viermal sechs Monaten beginnen lässt, ist ein Verstoß gegen das notwendige Maß an Sicherheit, das die Beschäftigten nun einmal brauchen. Das können Sie auch nicht wollen, meine Damen und Herren.

Ich will nicht pathetisch oder zu leidenschaftlich werden. Aber die Würde des Menschen ist eine Kategorie, die auch in der Arbeitswelt zu gelten hat, damit das völlig klar ist.

Zweitens: Teilzeitarbeit. Jeder in diesem Haus, der sich über Wirtschaftspolitik verbreitet hat, hat schon über die Notwendigkeit der Ausweitung der Teilzeitarbeit geredet, übrigens nicht nur, aber auch und vor allem der Tatsache wegen, dass insbesondere Frauen dies wollen und darauf angewiesen sind. Was haben wir gemacht? Wir haben gesagt: Wir wollen darüber nicht nur reden, sondern wir wollen etwas dafür tun. Also geben wir Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern, die das wünschen, einen Rechtsanspruch auf Teilzeitarbeit gegenüber dem Arbeitgeber.

Nun ist klar, dass es Gründe geben kann und häufig gibt - sonst hätten wir im Vergleich zu den Holländern ja nicht so wenig Teilzeitarbeit - , wonach das im Betrieb nicht möglich ist. Das gibt es, das ist doch gar keine Frage. Was haben wir dann gemacht? Wir haben wieder einen sinnvollen Ausgleich zwischen den Interessen des einen und des anderen gefunden, indem wir gesagt haben: Wenn das nicht geht, dann muss der Arbeitgeber in der Lage sein, aus betrieblichen Gründen, ohne etwas davor oder danach, diesen Wunsch zurückzuweisen. Es sind immer unbestimmte Rechtsbegriffe, das lässt sich nun einmal nicht ändern. Es gibt im Übrigen seit langem eine ausgereifte Kasuistik in der Rechtsprechung. Damit können Sie sich ja einmal beschäftigen. Das ist ein sinnvoller Ausgleich zwischen den Interessen der Arbeitnehmerinnen - um die jetzt einmal zu nennen - , Teilzeitarbeit machen zu können, und den Interessen des Betriebes, wenn es nicht geht, auch Nein zu sagen. Ich weiß nicht, was man dagegen haben kann, meine Damen und Herren.

Exakt nach diesem Prinzip - seien Sie sich dessen sicher - werden wir auch beim Betriebsverfassungsgesetz verfahren. Die Arbeitswelt hat sich in den letzten 25 Jahren verändert. Deshalb macht es Sinn, darauf zu reagieren. Es geht hier nicht um Beruhigung, sondern um vernünftige Regelungen. Es reicht bei Ihnen allerdings nicht dazu, das einzusehen.

Das ist es, was wir im Bereich des Arbeitsmarktes vorhaben; Teile davon haben wir schon umgesetzt. Es geht um einen sinnvollen Ausgleich zwischen den Interessen der Wirtschaft an Flexibilität und den Interessen der arbeitenden Menschen an Sicherheit und damit Planbarkeit für sich selber und ihre Familien. Es kann doch nicht angehen, dass Leute fordern, die Menschen in Deutschland, die jeden Tag zur Arbeit in die Fabriken, in die Dienstleistungszentren gehen und dort ihre Pflicht tun, einfach dem Prinzip auszusetzen: heute geheuert, morgen gefeuert.

In diesem Zusammenhang will ich noch etwas zum Bündnis für Arbeit sagen. Von manch einem bin ich über die Art und Weise enttäuscht, wie er mit diesem Bündnis umgeht. Das betrifft alle beteiligten Parteien. Man kann ein Bündnis für Arbeit nicht immer nur dann gut finden, wenn man gerade die eigenen Interessen realisieren kann. Das Bündnis ist ein Instrument zur Konsensfindung in Situationen und zwischen Parteien, die nicht von vornherein auf einen Konsens ausgerichtet sind. Natürlich freuen wir uns zu Recht darüber - ich habe mich auch gefreut - , dass es nicht zuletzt durch das Bündnis erreicht werden konnte, dass wir eine Reihe von wirtschaftspolitischen Maßnahmen mit Zustimmung aus der Gesellschaft haben durchsetzen können, dass es in diesem Jahr Tarifvereinbarungen gegeben hat, die ihre wirtschaftliche Vernunft auf der Stirn getragen haben. Das hat mit dem Bündnis für Arbeit zu tun. Dann aber kann man doch vernünftigerweise nicht sagen: Wenn ihr jetzt einen Ausgleich im Sinne einer Teilhabe auf der anderen Seite schafft - der im Übrigen den Interessen der Gesamtwirtschaft entspricht - , dann ziehen wir uns zurück. Das kann nicht sein.

Durch das Bündnis ist eine Menge erreicht worden; aber es steht auch noch eine Menge bevor. Ich denke zum Beispiel an den Ausbildungskonsens. Ich weiß, dass es bei den jungen Leuten im Osten noch große Schwierigkeiten gibt. Aber wir haben zum ersten Mal seit sehr langer Zeit erreicht - das freut mich von ganzem Herzen - , dass die Zahl der angebotenen Ausbildungsplätze in ganz Deutschland - regionale Unterschiede zugestanden - die Zahl der nachgefragten Ausbildungsplätze wieder deutlich übersteigt. Das ist doch ein Fortschritt. Wir alle haben mit bedrückten Mienen hier oder in den Wahlkreisen gesessen, wenn wir gehört haben, wie die Ausbildungsnot an den Jugendlichen nagt. Nun haben wir ein wenig erreicht. Darüber sollten wir uns freuen.

Abschließend will ich etwas zu einer Diskussion sagen, von der ich nicht weiß, ob ich sie richtig mitbekommen habe. Es handelt sich um die Diskussion über Zuwanderung auf der einen Seite und über angeblich vaterlandslose Gesellen auf der anderen Seite. Worum geht es? Ich will hier keine neue Debatte über den Begriff der Leitkultur beginnen. Dazu hat Herr Struck heute Morgen das Notwendige gesagt. Mittlerweile hat auch jeder bemerkt, dass dieser Begriff missverständlich war. Herr Merz, ich werfe Ihnen das nicht vor. Es ist ein missverständlicher Begriff. Ich unterstelle Ihnen nicht, dass Sie ihn haben denunziatorisch gebrauchen wollen. Sie sollten aber sagen, dass Sie sich vergaloppiert haben. Sagen Sie: Dieser Begriff kann diese Wirkung entfalten. Weg damit! Das wäre eine sinnvolle Art und Weise des Umgangs.

Es besteht inzwischen im ganzen Haus Konsens darüber, dass wir eine gesteuerte Zuwanderung brauchen. Unsere Vorstellungen von Selbstachtung gebieten es, dass wir Flüchtlingen unabhängig davon Zuflucht gewähren. Dies hat nach meiner Auffassung gar nichts mit Image zu tun - vielleicht hilft das - , auch nicht nur mit formalen Rechten. Dies hat etwas mit der Art und Weise zu tun, wie man in diesem Land mit sich selbst umgeht, wie ernst wir jene zivilisatorischen Fortschritte nehmen, die wir alle zusammen seit der Überwindung des Faschismus gemacht haben. Deswegen sage ich: Asyl hat etwas mit unserer Selbstachtung zu tun.

Für diejenigen, die wir wollen und die bei uns leben und arbeiten, gelten drei ganz einfache Grundsätze.

Erstens: Unsere Verfassung, das Grundgesetz, ist das in eine juristische Form gegossene Erbe der europäischen Aufklärung, keineswegs nur der deutschen. Die Normen und die Wertvorstellungen, die dem Grundgesetz zugrunde liegen, hat jeder, der bei uns leben will, zu achten, zu respektieren und einzuhalten - keine Frage. Das gilt aber für alle, nicht nur für Ausländer, sondern auch für Deutsche.

Die nun wirklich erhabenste Norm ist der Art. 1 des Grundgesetzes. Dort steht: Die Würde des Menschen ist unantastbar. Vor dem Wort "Menschen" steht kein Eigenschaftswort. Ich denke, darüber sind wir uns in diesem Haus einig: Pöbelnde Banden, die Ausländer durch die Straßen treiben, verstoßen gegen diese Würde des Menschen, und zwar eindeutig.

Zweitens: Demokratisch zustande gekommene Gesetze sind einzuhalten. Das gilt für alle, für Deutsche wie Ausländer, aber natürlich auch für Ausländer, die hier leben und arbeiten wollen.

Drittens: Ich gehöre zu denjenigen, die sagen - das mag umstritten sein - , die deutsche Sprache sollte gelernt werden. Das sage ich nicht, weil ich jemandem etwas aufdrängen möchte, weil ich ihm irgendwelche kulturellen Verpflichtungen auferlegen möchte. Das ist nicht mein Argument. Nein, es ist schlicht ein Erfordernis einer geglückten Integration, dass man die Sprache des Landes, in dem man lebt, auch beherrscht.

Wir sollten uns, was das Zusammenleben zwischen Deutschen und Nichtdeutschen angeht, ganz nüchtern auf diese drei Begrifflichkeiten und das, was daraus folgt, beschränken. Dann brauchen wir keine Überhöhung dessen, was ich eben auszudrücken versucht habe; denn jede Überhöhung ist missverständlich und ist ja auch missverstanden worden.

Ich glaube, jüngst mitbekommen zu haben, dass wir hier eine neue Debatte bekommen sollen - die Vorsitzende der Union hat das gelegentlich von sich gegeben - über die Frage, wer nun ein vaterlandsloser Geselle oder eine vaterlandslose Gesellin ist und wer nicht. Ich kann Ihnen Folgendes sagen: Ich warne vor dieser Diskus-sion, vor dieser denunziatorischen Debatte, denn das wird auf Sie zurückfallen, Frau Merkel.

Ich will Ihnen dazu einmal etwas sagen: Zu einem Zeitpunkt, als der deutsche Konservativismus zuallererst den Verführungen der Nationalisten erlegen ist, haben Sozialdemokraten gelitten, gekämpft und sind im Kampf gegen die Faschisten gestorben. Eines muss ich Ihnen in aller Deutlichkeit sagen: Eine Partei - meine Partei - mit diesen Traditionen verbittet es sich ein für alle Mal, Belehrungen dieser Art speziell von den deutschen Konservativen zur Kenntnis zu nehmen. Was hier betrieben werden soll - , entweder aus historischer Unkenntnis oder aus politischer Dreistigkeit - ist die Spaltung unserer Gesellschaft. Dies wird mit Sozialdemokraten nicht zu machen sein. Oder haben Sie noch nicht einmal ein schlechtes Gewissen? Es wäre noch schlimmer, wenn Sie noch nicht einmal das hätten. Denken Sie noch einmal in Ruhe darüber nach!

Ich sage Ihnen ohne alle Aufregung: Was dieses Land braucht, sind doch nicht Ihre verquasten Vorstellungen von Leitkultur oder Ähnlichem. Was dieses Land braucht, ist ein Mehr an Internationalität und Modernität. Dafür steht diese Koalition - heute, morgen und mit ganz großer Sicherheit weit über das Jahr 2000 hinaus.