Redner(in): Michael Naumann
Datum: 21.03.1999

Anrede: Anrede,
Quelle (evtl. nicht mehr verfügbar): http://archiv.bundesregierung.de/bpaexport/rede/68/11768/multi.htm


Die Sammlung "Felix Nussbaum" ist weit mehr als das Werk eines großen Künstlers. In der Betrachtung seiner Bilder verbeugen wir uns vor einem Maler, dessen Schicksal für millionenfach erlebtes Leid steht. Aber er hat in anderer Absicht gemalt. Er hat für sich gemalt. Und es wird darauf ankommen, in der Intimität dieser Räume die Seele des Betrachters, also unsere eigene, persönlich zu öffnen für die Werke.

Die Nussbaum-Ausstellung ist - der Maler hat es nicht so gewollt - auch ein Denkmal, das uns an unsere eigene Geschichte und auch an die Verbrechensgeschichte Deutschlands erinnert. Aber Denkmäler haben oft die Eigenschaft, gegen alle Absicht ihrer Erbauer im Laufe der Jahre unsichtbar zu werden. Das wird hier nicht geschehen, weil hier nicht eines großvolumigen Geschichtsereignisses, sondern des Schicksals eines einzelnen Menschen in seinem Werk gedacht wird.

Es ist in den letzten Monaten und Jahren unendlich viel diskutiert worden über das Holocaust-Denkmal oder -Mahnmal in Berlin, und ich war Teil dieser Diskussion. An diesem Wochenende gab es schon wieder neue Vorschläge. Diesmal lautet der Vorschlag des Berliner Theologen Richard Schröder: Man möge eine Stele vor dem Reichstag - oder, wie es neuerdings heißt, dem Plenargelände im Reichstag - aufstellen. Den Reichstag gab es übrigens auch vor dem Dritten Reich, er ist ein Ort großer sozialdemokratischer Reden gewesen, ein Ort, an dem sich die Sozialdemokratie, wenn ich das als Angehöriger dieser Regierung und Partei sagen darf, mit nur wenigen anderen dem Nationalsozialismus und dem Ermächtigungsgesetz widersetzt hat. Auch wir haben also unsere Geschichte im Reichstag, und die wollen wir nicht vergessen.

Der Vorschlag also war, vor dem Reichstagsgelände ein Denkmal aufzustellen mit den Worten "Du sollst nicht töten", oder "Du sollst nicht morden", aus dem Dekalog. Auch darüber wird es Diskussionen geben. Ich persönlich bin der Meinung: Wir alle wissen das, und auch die Mörder wußten es. Aber warum haben sie es getan? Dies zu erforschen steht uns an. Und wenn es schon vor dem Reichstag ein Mahnmal aus dem Dekalog sein soll, so müßte es doch eigentlich heißen: Ich bin der Herr, Dein Gott, Du sollst keine anderen Götter haben neben mir. Denn das 20. Jahrhundert ist durch die Erfindung neuer Götter geprägt, durch die Erfindung der politischen Religionen, die Abkehr von der Quelle des Gebots "Du sollst nicht töten".

Auch an die jüngsten Vorschläge wird sich sofort eine neue Kette von Argumenten anknüpfen. Sie alle kreisen um die grundlegenden Fragen: Wie können wir uns an den Holocaust erinnern? Ist der Holocaust überhaupt zu verstehen? Bedeutet dieses Verstehen dann möglicherweise eine Form von Verzeihen, des sich selbst Verzeihens? Lassen Sie mich dazu ein wenig ausholen:

Als ich aus Amerika zurückkam und in diese Debatte eintauchte, fiel mir ein Begriff auf, der inzwischen zur Scheidemünze geworden ist. Deutschland, so heißt es, sei das Land der Täter. Das stimmt nicht. Hier in diesem Raum sitzen keine Täter. In Deutschland leben über zwei Millionen türkische Mitbürger, von denen nicht wenige irgendwann im Laufe dieses Jahres die Möglichkeit bekommen, Deutsche zu werden. Das sind keine Täter. Hier leben an die 100.000 deutsche Juden: Das sind auch keine Täter. Das heißt, die Formel vom "Land der Täter" überdeckt - keineswegs in böser Absicht - ein Problem, einen Sachverhalt. Wir sind alle als Deutsche Mitglieder einer Nation, in der dieses geschehen ist. Es wurde von Deutschen, nicht im Namen der Deutschen, sondern von deutschen Tätern vollbracht. Doch die Täter leben nicht mehr, und sie drohen, hinter dem Schleier der Geschichte zu verschwinden. Hier liegt ein großes Problem.

Aber auch ihre Opfer drohen in diesem Sammelbegriff "Holocaust", der eigentlich "Brandopfer" bedeutet und dieses furchtbare Ereignis abhebt in etwas Numinoses, unerklärlich Religiöses, vergessen zu werden. In Wirklichkeit war es ein Ereignis von krimineller Monumentalität, das es aufzuklären gilt. Aufklären heißt, buchstäblich nachzuforschen: Wie konnte das geschehen? Wie war es möglich? Die alte Frage, die die meisten von uns praktisch seit unserem 16. , 17. Lebensjahr, als wir anfingen, uns mit diesem Thema zu beschäftigen, bewegte: Warum?

Ich glaube, eine einzelne Stele mit dem Thema "Du sollst nicht töten" gibt darauf keine Antwort. Wir müssen wissen, wir müssen erfahren, wie es geschehen konnte. Der Zugang zur Geschichte verläuft nicht primär über Denkmäler; vielmehr schreibt sich eine Nation ihre Geschichte selbst in einem kontinuierlichen Selbstgespräch, das schriftliche, bildliche, filmische, neuerdings audiovisuelle, rhetorische, akademische Formen hat. Menschen studieren, reden mit anderen über die Geschichte ihres Landes, schreiben Bücher, forschen in Archiven, lassen sich bewegen durch Bilder, durch Dokumente, durch Erfahrungen, die andere vermittelt haben.

Das Holocaust-Mahnmal, ob es nun als Museum zusammen mit einer Ausstellungsstätte gebaut werden soll oder als reines Mahnmal, wird niemals in der Lage sein, die Erfahrungen der Opfer zu reproduzieren. Noch wird es jemals in der Lage sein, einen wie auch immer gearteten moralischen Schlußstrich unter die Geschichte ziehen zu können. Selbst wenn wir das Gefühl haben, es sei genug geredet worden über dieses Thema: Es wird uns immer wieder einholen. Das ist schrecklich und nicht schön. Andere Länder haben nicht diese Geschichte, wir haben sie. Und auf eine merkwürdige Weise ist sie zu einer Art negativer Legitimation unseres Landes geworden.

Wir sind in der Nachkriegszeit eine der erfolgreichsten demokratischen Neugründungen eines Staates in der Geschichte geworden. Die Bundesrepublik ist rechtsstaatlich; sie ist toleranter, als sie selbst es meistens glaubt. Sie ist liberal; der Begriff von Freiheit wird ernst genommen; das Militär hat eine - wenn man so will - angemessene, aber nicht mehr überragende Bedeutung. Die Bürokratie ist durch eine funktionierende und liberale Verwaltungsgerichtsbarkeit in Schranken gesetzt. Soziale Gerechtigkeit belastet zur Zeit unsere Kommunalkassen etwas mehr, als diese das eigentlich verkraften. Mit einem Wort: Deutschland ist das, was es heute ist, gerade weil unsere eigene Geschichte uns nicht verlassen hat und im Grunde genommen auch die unbedeutendste Gesetzgebung begleitet hat. Es gibt in der Bundesrepublik einen Kammerton, der uns über alle Parteien hinweg vereint, mit Ausnahme der Neonazis, ein gemeinsames Demokratie- und Geschichtsverständnis, das lautet: nie wieder. Doch kann auch dieses Bewußtsein ein Problem nicht automatisch lösen: Wie ist der Opfer zu gedenken? Und welche Gefühle hat man, wenn man an Bildern wie denen von Nussbaum vorbeigeht? Wie kann ich diese Gefühle gewissermaßen ordnen, wie kann ich sie anderen mitteilen, ohne in die Gefahr zu geraten, mich emphatisch, hermeneutisch und kitschig in die Rolle der Opfer zu begeben?

Diese Art Annäherung ist bei strenger Betrachtung nicht möglich. Gleichwohl haben wir alle etwas, das uns mit den Opfern des Holocaust eint: Wir sind Menschen. Wir sind sehr wohl in der Lage, uns über das Schreckliche klar zu werden, das geschehen ist, als diese Bürger Osnabrücks, Kölns, Berlins, Münchens, Nürnbergs, vor allem auch aus den kleineren Orten des Landes - abgesehen von den Juden Osteuropas - in die Todesmühlen der Nazis gerieten. Wenn auch unsere Vorstellungskraft nicht ausreicht, das Geschehene wirklich nachzuvollziehen, so können wir uns doch bemühen, es nachzuempfinden. Dies rechtfertigt uns, dem Begriff vom "Land der Täter" entgegenzutreten, und veranlaßt uns außerdem, darüber zu diskutieren, wie wir Deutsche der Opfer gedenken können. Ganz einfach aus diesem, wenn Sie so wollen, anthropologischen Grund.

Auch wir sind freie Menschen und in der Lage zu trauern. Niemals sollten wir indes glauben, daß wir uns durch die Trauer gewissermaßen als Nation selbst entlasten können. Das Bedürfnis, unter der Last dieser Geschichte hervorzukommen, frei und unbeschwert, ist stark. Es ist auch mein Bedürfnis, es ist im Grunde genommen jedermanns Bedürfnis. Eine solche Entlastung mag zwar individuell möglich sein, aber die Geschichte selbst bleibt uns erhalten. Es wird darauf ankommen, wie wir mit ihr umgehen, mit unserem Selbstverständnis als Deutsche. Eine der Möglichkeiten ist es in der Tat, im individuellen Gedenken, in der Offenheit jedes Einzelnen zu diesen Ereignissen, eigene Schlüsse zu ziehen, das eigene politische und menschliche Verhalten einzurichten, die Lehren der Toleranz, der Offenheit gegenüber fremden Religionen, aber auch die Offenheit gegenüber Religionen per se neu einzurichten. Und dann gibt es auch noch den Staat.

Es ist schon richtig, der Staat hat in dem Spannungsbogen von individuellem Erinnern, Geschichtsschreibung und offiziellem Gedenken einen legitimen Platz. Dieser Platz manifestiert sich eben gewöhnlich und historisch in Denkmälern. Die Diskussion über die Art und Form des Denkmals hat nun lange gedauert. Ich habe im Wahlkampf darauf gedrängt, daß der Bundestag, der Souverän, die eigentliche Entscheidung treffen solle. Das Argument, daß der Bundestag nicht in der Lage sei, ein ästhetisches Urteil zu fällen, habe ich immer deswegen für fragwürdig gehalten, weil diejenigen, die dieses Argument vortragen, meistens selber Politiker sind, die sehr wohl ästhetisch zu urteilen vermögen. Nur das versetzt sie ja logischerweise in die Situation, anderen die Fähigkeit dazu abzusprechen.

Mit anderen Worten: Der Bundestag wird eine Entscheidung fällen. Auch wenn er sich nicht auf die Zahl der Stelen festlegt oder auf die Größe des Gebäudes, die Entscheidung wird fallen. Und sie wird parteiübergreifend fallen.

Ich rede hier zur Eröffnung eines Museums eines Künstlers, der sein Thema nicht gefunden hat. Das Thema hat ihn gefunden und verhaftet und umgebracht. Ästhetisch gehört Nussbaum, wie Sie wissen, in die neue Sachlichkeit, in eben jene tastenden Jahre des Postexpressionismus der 20er Jahre. Seine eigene Biographie zeichnet ihn aus als einen Menschen, der, vermittelt durch seinen Vater, eine frühe Liebe zu van Gogh entwickelte; das war damals noch relativ ungewöhnlich. Ein Mensch, der bei seinen tastenden Versuchen zu sich selbst schließlich seine Identität fand - unter den Bedingungen der schlimmsten Verfolgung.

Das weltberühmte Selbstporträt mit dem Judenstern auf dem Revers, den er auf der Flucht übrigens niemals getragen hat, denn das hätte ihn ja in der Emigration verraten, und mit dem Pass, dieses emblematische Bild eines in die Ecke gestellten, ausweglosen, sensiblen, seines eigenen Todes gewissen Künstlers überschreitet im Grunde genommen normale kunstästhetische Interpretationsfähigkeiten. In diesem Bild fließt zusammen die Geschichte der deutschen Juden, fließt zusammen die Ausweglosigkeit ihrer Situation, in diesem Bild liegt Mord, aber es liegt auch noch etwas anderes darin, und mit dieser Interpretation möchte ich schließen: In diesem Bild liegt ein rätselhafter Sachverhalt, nämlich daß es gemalt worden ist. Dieser Mensch, der wußte, wohin die Reise geht, hat aus der dunkelsten Verlassenheit der Emigration, der wirtschaftlichen Not, hat in einer Zeit, in der Mord in der Luft lag, Schönheit gemalt. Dies ist kein häßliches Bild. Es transportiert in der Gewißheit des Untergangs Hoffnung.

Das Bild schließt gewissermaßen sein Werk ab. In ihm ist die Hoffnung des Malers beschlossen, daß einmal aus dem Entsetzen, dem er selbst zum Opfer gefallen ist, Schönheit, Leben und Erinnerung wachsen. Das Felix Nussbaum Museum verkörpert diese Hoffnung, und ich kann der Stadt Osnabrück und Ihnen allen, die mit dieser Arbeit so viel zu tun haben, nicht als Staatsminister, sondern als ein Bürger dieses Landes, dem dies alles, über viele Jahre nahegegangen ist, gar nicht genug danken.