Redner(in): Gerhard Schröder
Datum: 06.12.2000
Anrede: Sehr geehrter Herr Präsident, sehr geehrter Herr Sejm-Marschall, sehr geehrte Frau Senatsmarschallin, sehr geehrter Herr Ministerpräsident, sehr geehrte Damen und Herren,
Quelle (evtl. nicht mehr verfügbar): http://archiv.bundesregierung.de/bpaexport/rede/20/25620/multi.htm
Abgeordnete und Senatoren, meine Damen und Herren!
Ich bitte Sie, mir zu glauben, dass dies ein bewegender Moment für die deutsch-polnischen Beziehungen, aber eben auch für mich ganz persönlich ist. Ich bin mir der großen Ehre bewusst, hier im Sejm, vor den freigewählten Vertretern des großen polnischen Volkes, das Wort zu bekommen. Ich danke Ihnen dafür ganz herzlich.
Unser heutiges Zusammentreffen markiert ein Datum der Erinnerung, aber auch ein Datum des Aufbruchs in eine gemeinsame Zukunft. Wir gedenken heute des historischen Besuchs von Willy Brandt in Warschau vor dreißig Jahren. Wir erinnern uns an die Unterzeichnung des deutsch-polnischen Vertrags vom 7. Dezember 1970. Der Vertrag von Warschau, so sagte es damals Willy Brandt in einer Fernsehansprache, sollte "einen Schlussstrich setzen unter Leiden und Opfer einer bösen Vergangenheit." Er sollte, so sagte er weiter,"eine Brücke schlagen zwischen den beiden Staaten und Völkern." Wir stehen heute vor der Vollendung eines wichtigen Teilstücks für eine solche Brücke.
Von Warschau aus werde ich zum Europäischen Rat nach Nizza aufbrechen. Dieses Gipfeltreffen soll die Voraussetzungen dafür schaffen, dass die Europäische Union ab Anfang 2003 bereit ist zur Aufnahme der ersten Beitrittskandidaten. Das Europa der 15 muss und, ich denke, wird diese Aufgabe bewältigen. Sie können sich darauf verlassen: Die Bundesrepublik wird dabei als Anwalt der Beitrittskandidaten verhandeln.
Wir wollen, dass Polen und andere mittel- und osteuropäische Reformstaaten so rasch wie möglich Mitglied der Europäischen Union werden. Nehmen Sie es bitte als politische Festlegung Deutschlands: Nach Auffassung des deutschen Bundeskanzlers wird Polen unter den Ersten sein, die der Europäischen Union beitreten. Eine andere Entscheidung kann ich mir nicht vorstellen.
Der Besuch des ersten sozialdemokratischen Kanzlers der Bundesrepublik im Dezember 1970 leitete einen grundlegenden Neubeginn in den Beziehungen zwischen Polen und Deutschen ein. Willy Brandt, der unbeugsame Demokrat, der aufrechte Patriot und große Europäer, hat damals mit seinem Kniefall vor dem Denkmal für die Helden des Warschauer Gettos stellvertretend die Verantwortung für die von Deutschen begangenen Verbrechen bekannt.
Einer der mitgereisten Reporter notierte seinerzeit: "Dann kniet er, der das nicht nötig hat, für alle die, die es nötig haben, aber nicht knien - weil sie es nicht wagen oder nicht können oder nicht wagen können." Dieses Bild des knieenden Willy Brandt ist zum Symbol geworden. Zum Symbol dafür, die Vergangenheit anzunehmen - und sie als Verpflichtung zur Versöhnung zu begreifen. Es war eine Geste der Demut, die aus der inneren Stärke eines Menschen erwuchs, der gegen die Nazi-Barbarei gekämpft hatte. Wie so viele in Deutschland, aber auch in Polen, werde ich dieses Bild mein Leben lang nicht vergessen. Es ist uns zur Mahnung und zum politischen Auftrag geworden.
Keine Nation hat in der Geschichte so schrecklich unter deutschem Hegemonialstreben und deutscher Gewaltherrschaft leiden müssen wie Polen. Mehr als sechs Millionen polnische Bürgerinnen und Bürger, darunter drei Millionen Juden, sind dem nationalsozialistischen Angriffskrieg und dem Terror der Besatzungszeit zum Opfer gefallen. Diese Verbrechen können, wollen und werden wir nicht verdrängen. Denn nur derjenige, der sich auch den grausamen Kapiteln der eigenen Vergangenheit stellt, kann Zukunft gewinnen.
In diesem Sinne hat die Bundesregierung gemeinsam mit der deutschen Wirtschaft die Stiftung "Erinnerung, Verantwortung, Zukunft" zur Entschädigung ehemaliger Zwangsarbeiter des NS-Regimes gegründet - übrigens wohl wissend, dass menschliches Leid durch finanzielle Leistungen niemals wieder gut zu machen ist. Das entbindet uns aber nicht von unserer historischen und auch moralischen Verantwortung. Wir werden mit Nachdruck darauf dringen, dass die Leistungen der Stiftung die ehemaligen Zwangsarbeiter schnellstmöglich erreichen, nicht zuletzt weil, wie wir alle wissen, sie hoch betagt sind.
Auch zahlreiche Deutsche haben - oft ohne persönliche Schuld auf sich geladen zu haben - Hitlers Aggressionskrieg mit dem Leben, mit Vertreibung und Verlust der Heimat bezahlen müssen. Das hat es ihnen und ihren Nachkommen lange Zeit nicht leicht gemacht, den Weg der Aussöhnung und der Vernunft zu gehen. Jenen Weg, den die polnischen Bischöfe mit ihrem mutigen Wort schon 1965 vorgezeichnet hatten, als sie sagten: "Wir vergeben und bitten um Vergebung".
Inzwischen können wir mit Stolz sagen: Die Politik der Aussöhnung und der deutsch-polnischen Interessengemeinschaft wird heute von allen relevanten politischen Kräften in Deutschland sowie von der überwältigenden Mehrheit der Bevölkerung in meinem Land getragen und von Herzen unterstützt.
Die beiden Grenz- und Nachbarschaftsverträge haben eine solide Grundlage für die Beziehungen unserer Staaten und ihrer Bürgerinnen und Bürger geschaffen. Unsere beiden Länder sind durchdrungen von einem dichten Netzwerk institutionalisierter Zusammenarbeit. Die Entwicklung von Städtepartnerschaften und Euroregionen bringt die Menschen buchstäblich einander näher. Neue Brücken, Straßen und Grenzübergänge haben neue Verbindungen eröffnet. Unsere gemeinsame Grenze ist in beiden Richtungen so durchlässig wie nie zuvor in der Geschichte.
Wir verfügen in Gestalt der Stiftung für deutsch-polnische Zusammenarbeit über ein hervorragendes Instrument zur Förderung des Austauschs. Ich freue mich ganz besonders darüber, dass sich in den letzten Jahren der deutsch-polnische Jugendaustausch so gut entwickelt hat. Allein im vergangenen Jahr haben mehr als 100.000 junge Deutsche und Polen an Veranstaltungen teilgenommen, die vom deutsch-polnischen Jugendwerk gefördert wurden. Einige von ihnen begleiten mich auf dieser Reise und sind hier in Ihrem Parlament anwesend. Ich denke, wir sind es besonders der jungen Generation schuldig, uns auch in Zukunft finanziell zu engagieren, um noch mehr Jugendlichen Gelegenheit zum gegenseitigen Kennenlernen zu geben. Die Einrichtung der Europa-Universität "Viadrina" in Frankfurt / Oder war ein großer Erfolg.
Ich möchte an dieser Stelle die Einrichtung eines "Willy-Brandt-Zentrums für Deutschlandstudien" hier bei Ihnen in Polen vorschlagen - ein Forschungszentrum, das sich in erster Linie an Geistes- und Sozialwissenschaftler, aber auch an Wirtschaftswissenschaftler und Juristen wendet. Angebunden an eine Gast-Universität in Ihrem Land wird es zur Vertiefung unserer Wissenschafts- und Kulturbeziehungen beitragen, und ich möchte mich persönlich dafür einsetzen, an diesem Forschungszentrum auch noch einen Willy-Brandt-Lehrstuhl einzurichten.
Mit der Erforschung unserer historischen, gesellschaftlichen und kulturellen Beziehungen, aber auch unserer gemeinsamen zukünftigen Möglichkeiten, leisten wir einen guten Beitrag zur Fortführung des Lebenswerks von Willy Brandt und zur Würdigung seiner großen Verdienste um die polnisch-deutsche Aussöhnung.
Ich bin stolz darauf, als sozialdemokratischer deutscher Bundeskanzler in der Amtsnachfolge Willy Brandts heute zu Ihnen sprechen zu können. Ohne ihn - und ich füge hinzu: ohne Walter Scheel - , ohne seine Vision von einem friedlichen und freiheitlichen Europa, stünde ich heute nicht hier. Seine Politik der Entspannung und der guten Nachbarschaft, die Anerkennung der Unverletzlichkeit der polnischen Westgrenze und der Verzicht auf jeglichen deutschen Gebietsanspruch - all' das entriss den kommunistischen Diktaturen des früheren Ostblocks jeden Vorwand, weiterhin mit dem Schreckensbild eines "deutschen Revanchismus" oder "Geschichts-Revisionismus" die Unterdrückung ihrer eigenen Völker zu rechtfertigen.
Diese Politik Willy Brandts war mutig und notwendig. Sie war aber in Deutschland heftig umstritten. Man hat Willy Brandt - ausgerechnet ihn, den großen Patrioten - und damit auch die Sozialdemokraten als "vaterlandslose Gesellen" beleidigt und versucht, seine Regierung zu stürzen. Seitdem weiß ich, dass Politik gegen innerstaatliches Feinddenken durchgesetzt werden und Bestand haben muss, wenn sie vor der Geschichte bestehen will. Mir, dem damals jungen Sozialdemokraten, hat Willy Brandt mit seiner Standfestigkeit in dieser und in anderen Fragen eine bis heute nachwirkende Erfahrung vermittelt.
Die Geschichte hat Willy Brandt Recht gegeben. Er wollte den Frieden in Europa sicherer machen und dazu beitragen, dass die Menschenrechte in ganz Europa respektiert werden. Das war die historische Botschaft, die 1975 von der Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa ausging - der Konferenz von Helsinki. Diese Konferenz war wichtig für die Entwicklung in Europa und wäre ohne die Ostverträge nie zu Stande gekommen.
Wir können heute sagen: In kaum einem Land hat die Botschaft von Helsinki so nachhaltig gewirkt wie hier bei Ihnen in Polen. Hier wurde sie aufgenommen von einer Bevölkerung, die bereit war, mutig für ihre Menschen- und Bürgerrechte zu kämpfen. Außerhalb Polens gab es, insbesondere nach Gründung der unabhängigen Gewerkschaft "Solidarität", viel Beifall für den Mut der polnischen Arbeiter. Aber es gab auch Besorgnisse.
Denn es ist wahr, dass dieser Kampf zu Beginn der 80er Jahre in eine Situation verschärfter Spannungen zwischen den Blöcken fiel - mit Gefahren für Frieden und Stabilität in Europa, ja, mit dem damals existierenden Risiko einer nuklearen Bedrohung. Diese Gefahr betraf unmittelbar auch das geteilte Deutschland. Wir sollten uns bei der Beurteilung der damaligen Situation vergegenwärtigen, dass die seinerzeitige Führung der DDR offen einer Intervention von Truppen des Warschauer Pakts in Polen das Wort redete. Unter diesen Bedingungen wurde das Festhalten am Prozess von Helsinki zur Überlebensfrage der Europäer.
Ich habe aber auch einzuräumen, dass die Art und Weise, wie manche deutsche Politiker, auch manche Sozialdemokraten, in jener Zeit das Festhalten am Ziel der Stabilität betont haben, der geschichtlichen Bedeutung des polnischen Freiheitskampfes nicht immer gerecht geworden ist. Aber es gilt auch: Zu keiner Zeit hat die deutsche Sozialdemokratie das Ziel der Durchsetzung der Menschenrechte aus den Augen verloren oder zu relativieren versucht. Ich bin heute mehr denn je davon überzeugt, dass die von Willy Brandt begonnene Entspannungspolitik im Ergebnis das Leben der Diktatur hier und anderswo in Europa keineswegs verlängert hat. Im Gegenteil: Ich denke, diese Politik hat den Polen geholfen, das überfällige Ende der Diktatur herbeizuführen.
Polens Freiheit war immer auch ein Indikator für die Freiheit Deutschlands und Europas. Polens Bürgerrechtler, Gewerkschafter und freiheitsliebende Intellektuelle haben diesen Zusammenhang immer - manchmal sehr viel früher als andere - gesehen. Die polnische Freiheitsrevolution, die 1980 in Danzig und Stettin - um nur symbolische Städtenamen zu nennen - begann, hat nicht nur Polen, sie hat unseren gesamten Kontinent verändert, und sie hat die deutsche Einheit mit ermöglicht. Daran -seien Sie dessen sicher - werden wir uns immer dankbar erinnern.
Der beharrliche Kampf der Polen für Freiheit und Demokratie hat nicht nur den Auflösungsprozess der Sowjetherrschaft beschleunigt. Ohne Solidarnosc und den Einfluss des polnischen Freiheitsstrebens auf die friedliche Revolution in der DDR, ohne die praktische Solidarität der Polen mit den Menschen in Ostdeutschland wäre die Geschichte der deutschen Einheit ohne jeden Zweifel anders und allemal weniger glücklich verlaufen.
Diesem unbeugsamen Freiheitswillen gebührt deshalb unsere ganze Anerkennung. Er hat auch die großen Leistungen ermöglicht, die Polen nach dem Sturz der Diktatur auf dem Weg der politischen und ökonomischen Reform vollbracht hat. Die Deutsche Einheit kann nur als Teil eines gesamteuropäischen geschichtlichen Prozesses verstanden werden, der die Freiheit der Völker und eine neue Friedensordnung unseres gesamten Kontinentes zum Ziel hat. Dieser Friedensordnung sind wir ein gutes Stück näher gekommen.
Deutsche und Polen sind in ihrem Schicksal seit Jahrhunderten eng miteinander verbunden. Dabei war die gemeinsame Geschichte nicht immer so leidvoll wie in der blutigen ersten Hälfte des ersten 20. Jahrhunderts. Uns - auch das gehört ausgesprochen - verbindet eine weit längere Geschichte des Austausches und der Freundschaft. Erstmals in ihrer Geschichte sind unsere beiden Staaten heute Verbündete in einem auf Dauer angelegten Militärbündnis. Zum ersten Mal seit hundert Jahren haben Deutschland und Polen wieder gleichgerichtete Interessen und teilen eine gemeinsame Verantwortung für den Aufbau des ganzen, des geeinten Europas.
Die polnische Nation - wir wissen das sehr gut - ist tief in der europäischen Geschichte und Kultur verwurzelt. Keiner Fremdherrschaft, keiner Diktatur ist es gelungen, Polen aus dem Herzen Europas zu reißen und Polens Orientierung nach Europa zu unterdrücken. Deshalb wiederhole ich an dieser Stelle wirklich gern: Polen gehört nach Europa; Polen gehört zu Europa, und Polen gehört in die Europäische Union.
Meine Damen und Herren, Ihr Land hat sich bereits 1791 eine Verfassung gegeben, in der die Werte von Demokratie und Menschenrechten bekräftigt wurden. Wenn man so will, ist Polen nicht ein Kind, sondern eine der Mütter der europäischen Aufklärung. Immer wieder waren es die Künstler, die Brücken zwischen unseren Völkern geschlagen haben. Man kann es den Skeptikern einer Erweiterung gar nicht oft genug sagen. Was wäre die europäische Musik ohne Chopin und Penderecki, was die Literatur ohne Milosz, Sczcypiorski oder Frau Szymborska, was wären Theater und Film ohne Kantor, Wajda oder Kieslowski.
In diesem Jahr war Polen Gastland der Frankfurter Buchmesse. Es ist interessant: Anders als sonst häufig standen nicht Vertragsabschlüsse und Vertriebsgeschäfte im Vordergrund, sondern ein ehrliches Interesse an den polnischen Autoren und ihrer Literatur. Viele Deutsche haben dabei erkannt, welch großen Beitrag Polen zur europäischen Kultur, Wissenschaft und Philosophie geliefert hat. Wir alle sind neugierig auf die Reichtümer der Kulturnation Polen. Wir sollten sie im europäischen Geist zum Besten der Völker friedlich miteinander nutzen und miteinander entwickeln. In diesem Zusammenhang möchte ich ein Wort zum Thema der im Zweiten Weltkrieg verbrachten Kulturgüter sagen: Diese Kulturgüter sind Bestandteil des Erbes unserer Völker. Ich denke, sie können als europäisches kulturelles Erbe von Deutschen und Polen gemeinsam wiedergewonnen werden.
Deutschland unterstützt den polnischen Wunsch auf schnellstmöglichen Beitritt zur Europäischen Union. Dieser Beitritt ist ein Gebot historischer Gerechtigkeit. Die EU-Erweiterung ist politisch und moralisch notwendig. Wirtschaftlich ist sie machbar, und wenn sie gemacht sein wird, wird sie ein Gewinn für uns alle sein. Die europäische Integration zielte von Beginn an auf das ganze Europa. Jetzt sind wir dabei, diese Vision des ganzen Europa Wirklichkeit werden zu lassen.
Aber auch das, denke ich, sollte man ruhig sagen: Unsere beiden Staaten haben auch handfeste politische und ökonomische Interessen an der polnischen EU-Mitgliedschaft. Deutschland - das kann man den Menschen bei uns gar nicht oft genug sagen - ist seit Jahren der mit Abstand wichtigste Handelspartner Polens. Die deutsche Wirtschaft ist der Spitzenreiter unter den ausländischen Direktinvestoren in Polen. Für uns ist Ihr Land unser wichtigster östlicher Handelspartner.
Polen - das gehört auch zum Thema - hat in sehr kurzer Zeit eine beachtliche Transformation seiner Wirtschaft und als Folge dessen auch seiner Gesellschaft vollzogen. Polen gehört inzwischen zu den attraktivsten Wachstumsregionen in Europa. Es ist deshalb Aufgabe der vor uns liegenden Regierungskonferenz in Nizza, die Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass die Europäische Union ab Anfang 2003 weitere Mitglieder aufnehmen kann. Das konkrete Beitrittsdatum wird dann nur noch vom individuellen Vorbereitungsstand jedes einzelnen Kandidaten abhängen.
Polen mit seinen engagierten, leistungsfähigen Menschen verfügt über gute Voraussetzungen, diese Prozesse zu meistern. Das ist der Grund, warum ich mir nicht vorstellen kann und nicht vorstellen will, dass Polen nicht unter den Ersten sein wird, die den Beitritt vollziehen. Deutschland - seien Sie sich dessen sicher - wird Sie auf diesem Weg weiterhin unterstützen. Die Erweiterung und Vertiefung ist sicherlich die größte Herausforderung in der Geschichte der Europäischen Union. Aber sie ist auch unsere größte Chance. Dabei müssen wir sicherstellen, dass die Europäische Union auch dann noch handlungsfähig ist, wenn ihr bis zu 25 und mehr, ja bis zu 30 Mitglieder angehören. Wir wollen mehr werden und miteinander mehr erreichen.
Polen hat lange um seine verlorene Souveränität gekämpft. Wenn Ihr Land jetzt freiwillig Teile davon in ein größeres Ganzes einbringt, muss das Resultat auch ein Gewinn an Gestaltungsfähigkeit sein. Europa kann nur attraktiv für die Bürger sein, kann nur dann etwas für die Bürger leisten, wenn es auch nahe an den Bürgerinnen und Bürgern und ihren Problemen ist.
Deshalb werde ich in Nizza vorschlagen, im Jahre 2004 eine weitere Regierungskonferenz einzuberufen, um insbesondere die Kompetenzen der verschiedenen Entscheidungsebenen innerhalb der Europäischen Union klarer und für die Bürgerinnen und Bürger überschaubarer gegeneinander abzugrenzen. Aber eines will ich gerade hier sagen: Diese neue Konferenz wird weder zusätzliche Hürden für die Beitrittskandidaten aufstellen noch eine Voraussetzung für die Beitritte sein. Im Gegenteil: Ich wünsche mir, dass sich Polen bereits aktiv an dieser notwendigen Debatte über die Zukunft ganz Europas beteiligt.
Aber es geht nicht nur um institutionelle Reformen. Darum geht es auch. Es geht aber um mehr. Die Menschen wollen - und sie müssen - wissen, was das für ein Europa sein soll und wird, dem sie sich anschließen. Nur so können wir auch die latenten Ängste und Vorurteile der Menschen in unseren Ländern im Verhältnis zueinander und im Hinblick auf Europa ausräumen. Es gibt diese Ängste. Man soll sie nicht verdrängen. Man muss sich mit ihnen auseinander setzen, und zwar in beiden Ländern.
Es geht nicht nur darum, dass wir einander besser kennen lernen - darum geht es auch - , sondern, dass wir die Bürger verstärkt aufklären und überzeugen, wie es bei der im Vorfeld der Mitgliedschaft in Ihrem Land geführten Europa-Debatte geschieht. Wir müssen den Menschen - jenen, die sich nicht Tag für Tag mit Politik beschäftigen können oder wollen - vor allem darlegen, welche handfesten Vorteile eine erweiterte Union, die sich größere Aufgaben setzt und enger zusammenarbeitet, für alle Bürgerinnen und Bürger, für die arbeitenden Menschen in unseren Ländern hat.
Wir müssen den Menschen erklären, dass unsere Länder im Zeitalter der Globalisierung eben nicht als isolierte Nationalstaaten bestehen können. Europa - das müssen wir immer wieder deutlich machen - kann seine Werte und Ideale, seinen Ideenreichtum, auch seine Wirtschaftskraft und sein außenpolitisches Gewicht, nur dann vollständig zum Tragen bringen, wenn dieses Europa geschlossen und einig handelt. Nur wenn wir uns gemeinsam den Herausforderungen stellen, werden wir zum Beispiel die noch immer viel zu hohe Arbeitslosigkeit in Europa dauerhaft eindämmen können.
Die Bürgerinnen und Bürger in unserem Europa haben ein berechtigtes Interesse an Sicherheit. Das betrifft die soziale Sicherheit ebenso wie den Schutz vor organisierter Kriminalität, vor Menschen- und Drogenhandel. Deshalb muss auch klar sein: Dieses Europa, unser Europa, muss ein Raum der Freiheit, aber auch der Sicherheit und des Rechts werden. Wir müssen die außenpolitische Handlungsfähigkeit der Europäischen Union weiter ausbauen. Gerade in der gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik wäre polnisches Engagement sehr wertvoll. Ich bin überzeugt, dass Polen auf Grund seiner Geografie, seiner Erfahrungen und Kenntnisse in besonderer Weise an der Ausgestaltung der Beziehungen zu unseren europäischen Nachbarn, insbesondere zu Russland und zur Ukraine, mitwirken wird.
Auch im Europa der Zukunft werden die Mitgliedsstaaten mit ihren jahrhundertealten kulturellen und demokratischen Traditionen unersetzlich bleiben. Ein ausgeprägtes kulturelles Selbstverständnis, der Toleranz und der Weltoffenheit verpflichtet, ist wesentlich für die nationale, aber auch für die persönliche Identität der Menschen in unseren Ländern. Der Beitrag der großen polnischen Kulturnation mit ihrem fruchtbaren Geistesleben wird bei der Herausbildung von Gestalt und Identität des neuen und größeren Europas eine wertvolle Rolle spielen.
Lassen Sie uns, meine Damen und Herren Abgeordnete, gemeinsam, Polen und Deutsche, auf dem Weg voranschreiten, den Willy Brandt durch sein entschlossenes vorausschauendes politisches Handeln eröffnet hat. So wollen und so werden wir gemeinsam Europa stärken und damit unserer Verantwortung für die Menschen in unseren Ländern gerecht werden.