Redner(in): Rolf Schwanitz
Datum: 07.12.2000
Anrede: Anrede,
Quelle (evtl. nicht mehr verfügbar): http://archiv.bundesregierung.de/bpaexport/rede/29/27629/multi.htm
Demokratie will trainiert sein
Zuerst möchte ich mich bedanken, dass ich am heutigen Abend bei Ihnen sein darf.
Was den Football-Laien wie mich natürlich zunächst an "Leipzig Lions" beeindruckt, ist die sportliche Leistung - eine in Deutschland ja nicht wirklich populäre Sportart wie American Football in vergleichsweise kurzer Zeit in der Region so attraktiv zu machen. Die Tatsache, dass die Spiele von durchschnittlich 400 Menschen besucht werden und mit der Mannschaft "Herren" in der Regionalliga erfolgreich ist, dokumentiert eine mehr als respektable sportliche und organisatorische Leistung, vor der ich den Hut ziehe.
Aber Sie werden es mir nachsehen, wenn den nachhaltigsten Eindruck auf mich Ihre Vereins- , insbesondere Ihre Kinder- und Jugendarbeit macht. Hierfür gebührt Ihnen besonderer Dank und Anerkennung.
Denn der Verein leistet in der Gesellschaft gleich zweierlei: Als Ort der Identifikation, der Bestätigung des Einzelnen in der Gruppe ist er wichtig für die Stabilität einer Gesellschaft. Einen Ort der Stabilität benötigen Menschen vor allem dann, wenn sich die wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Verhältnisse umfassend wandeln, wie es in den letzten zehn Jahren in Ostdeutschland der Fall war.
Zugleich ist er aber so etwas wie ein praktisches Übungsfeld der gelebten Demokratie, ein Lebensraum nämlich, in dem besonders junge Menschen das Wesen der freiheitlichen Demokratie gleichsam am eigenen Leibe erfahren: Im immer wieder neuen Bemühen um Konsens, im Ertragen einer Mehrheitsentscheidung als demokratischem Prinzip und in der Erfahrung, dass nur mit persönlichem Einsatz der Erfolg aller geschafft werden kann.
Weil man die Regeln des Spiels zu beachten lernt, zur Fairneß - dem "Grundgesetz des Sports" - angehalten wird, gibt es wenige gesellschaftliche Orte, in denen man demokratische Spielregeln besser erlernen und leben kann als im Verein.
Vereins- und Mannschaftssport ist daher auch in besonderer Weise geeignet, auf Jugendliche einzuwirken, die es nicht leicht haben, wo es wenig Orientierung und stabile Wertekoordinaten gibt. Diese Jugendlichen - oft wachsen sie unter sozial problematischen Umständen auf - sind besonders anfällig für rechtsextremes Gedankengut, seine einfachen und übersichtlichen Botschaften und seine klaren Feindbilder.
Wer diesen jungen Menschen, die zwar gefährdet, aber eben noch erreichbar sind, helfen will, der muss ihnen den Wert ihres eigenen Lebens zeigen. Er muß ihnen die Möglichkeiten, ihre Kraft positiv zu entfalten, erfahrbar machen. Sie müssen erleben, nicht erläutert bekommen, dass Gemeinschaft und Vielfalt bereichern, aber Abgrenzung und Ausgrenzung letztlich einsam machen.
Gerade der Mannschaftssport hat diese große integrative Kraft. Im Mannschaftssport erfahren die Jugendlichen Tugenden wie Fairness und Teamgeist. Sie lernen einander zu unterstützen, können sich im sportlichen Wettstreit miteinander messen und - ganz nebenbei - erfahren sie etwas von anderen Kulturen. Denn es geht hier um American-Football.
Integrieren statt ausgrenzen, verbinden statt entzweien, dazugehören statt danebenstehen - das scheint das "Leipzig Lions" -Konzept zu sein. Das ist ein Konzept, das Schule machen muss!
Diese wertebildende und integrative Funktion des Vereinssports haben Sie, Herr Seek, und all die anderen engagierten Mitstreiterinnen und Mitstreiter, nicht nur erkannt, sondern Sie haben die gesellschaftliche Verantwortung als Bürgerinnen und Bürger in Ihrer Stadt ernst genommen und danach gehandelt - dafür spreche ich Ihnen im Namen des Bundeskanzlers und auch ganz persönlich - meinen Dank und meine Anerkennung aus.
In diesen Dank schliesse ich ausdrücklich die Streetworker ein, die mit Ihnen zusammen arbeiten und einfühlsam versuchen, Kinder und Jugendliche in unserer Gesellschaft nicht zu Außenstehenden werden zu lassen.
Mein Dank gilt in diesem Zusammenhang auch der Stadtverwaltung Leipzig. Was hier im Bereich Jugend, Schule und Sport an Projekten läuft, ist lobenswert und ich freue mich, den Beigeordneten der Stadt, Herrn Burkhard Jung, hier in unserem Kreise zu sehen.
Ihrer aller Einsatz - ob ganz privat und ehrenamtlich, als hauptamtliche Trainer oder abgeleitet aus einer öffentlichen Funktion in der Kommune - ist Zeichen dafür, als Einzelner Verantwortung für das gesellschaftliche Ganze zu übernehmen.
Solidarität, Bürgersinn und Zivilcourage sind für eine Gesellschaft wie die unsere unverzichtbar. Wo Vieles von dem, was das soziale Dasein der Menschen bestimmt, in Bewegung geraten ist, wo Mobilität und Flexibilität immer heftiger eingefordert werden, kann eine starke, solidarische Zivilgesellschaft das Gefühl der Zusammengehörigkeit vermitteln und erhalten.
Aus Sicht der Politik besteht deshalb ein existenzielles Interesse am Engagement der Bürgerinnen und Bürger. Die Stärkung bürgerschaftlichen Engagements entspricht durchaus unserem modernen Staatsverständnis: Was die Gesellschaft besser lösen kann, das muss, das soll der Staat nicht machen.
Herr Jung wird mir deshalb zustimmen, wenn ich sage: Kein noch so vermögender und sozialer Staat kann gesellschaftlichen Ausgleich und faire Lebenschancen für alle Bürger sichern, wenn sich nicht die Stärkeren und vom Glück oder ihren Talenten Begünstigten unter ihnen ebenso in der Verantwortung fühlen. Das Ehrenamt ist Ausdruck der individuellen Verantwortung für das Ganze. Ohne das Ehrenamt könnten Initiativen wie diese nicht bestehen. Das wissen Sie als Mitglieder der Leipzig Lions nur zu gut. Wieviele Stunden Ihrer Freizeit opfern Sie, damit die sportlichen Wettbewerbe und das Training laufen? Wieviel Zeit bringen Sie ein, um Kinder und Jugendliche zum Verein zu führen?
Der Staat ist klug beraten, Ihre ehrenamtliche Arbeit materiell und immateriell zu unterstützen.
Die Bundesregierung stellt sich ihrer Verantwortung; ich nenne beispielhaft die Anhebung der Übungsleiterpauschale von 2.400 DM auf 3.600 DM und deren Ausweitung sowie die Neuregelung bei den Durchlaufspenden, die sich durch Praxisnähe auszeichnet.
Vor wenigen Tagen hat Bundeskanzler Gerhard Schröder anläßlich des Kongresses "Unternehmen und Bürgerschaftliches Engagement - Aufbruch zu neuer Verantwortung" zugesagt, trotz angespannter Kassenlage weitere Impulse zu geben.
So wird sich die Bundesregierung dafür einsetzen, dass Aufwandsentschädigungen aus öffentlichen Kassen für gemeinnützige Tätigkeiten bundeseinheitlich bis zu 300 DM steuerfrei gestellt werden. In einem weiteren Schritt sollen auch die ehrenamtlichen Tätigkeiten in diese Regelung einbezogen werden, die bisher nicht darunter fallen.
Wir haben dem Sport und einigen anderen, bisher nicht berechtigten gemeinnützigen Organisationen das Recht eingeräumt, Spendenbescheinigungen auszustellen, um wirksame Spenden-Akquisition zu ermöglichen.
Unterstützung des ehrenamtlichen Engagements im Sport ist natürlich nur ein Teil eines umfassenden Maßnahmenkataloges, mit dem Bund und Länder mit der Hilfe möglichst vieler gesellschaftlicher Gruppen gegen Rechtsextremismus und fremdenfeindliche Gewalt vorgehen und ein Klima der Toleranz schaffen müssen.
Die Bekämpfung von Rechtsextremismus und Ausländerhass - geboten einerseits wegen der Sicherung des Standortes Deutschland, andererseits zur Verteidigung der Werte unserer Gesellschaft - muss auf drei Säulen ruhen:
Erstens: Auf der harten und entschiedenen Reaktion von Polizei und Justiz gegen die Rädelsführer und Gewalttäter - also hoher Fahndungsdruck, zügige Verfahren und konsequente Anwendung der Gesetze und, wo nötig, mit dem Verbot von Parteien und Vereinen;
Zweitens: Auf einer Ausbildungs- , Arbeitsmarkt- , und Jugendpolitik, die den jungen Menschen persönliche und berufliche Perspektiven gibt, damit sie nicht in den Extremismus abgleiten. Hierher gehört beispielsweise das Bundesprogramm JUMP zur Sicherung eines Ausbildungsangebotes für jeden Jugendlichen, der es will, aber auch eine verantwortungsvolle Jugend- und Bildungspolitik des Bundes und der Länder.
Drittens gehört dazu konsequentes zivilgesellschaftliches Engagement, wovon heute Abend, an Ihrem hervorragenden Beispiel, die Rede ist.
Lassen Sie mich an dieser Stelle eine aktuelle Anmerkung einfügen: Die von der CDU losgetretene Debatte um die sogenannte "Leitkultur" muss gerade aus dem Blickwinkel der neuen Länder kritisiert werden. Hier wirkt diese Debatte verheerender als im Westen, und dies nicht nur, weil sie missverständlich ist. Herr Merz beklagt einen Zustand, den es aus dem Blick des Ostens faktisch nicht gibt. Ja, schlimmer noch: Der Anteil ausländischer Mitbürger ist im Osten verschwindend gering. Deshalb können hier die Merz'schen Thesen nur Ängste und dumpfe Vorurteile bedienen. Das Vorgehen der CDU ist vor allem in den neuen Ländern unverantwortlich und gefährlich. Ostdeutschland braucht das ganze Gegenteil: Wir brauchen in den Köpfen der Menschen, die hier leben, vor allem der Jugend, die hier lebt, Weltoffenheit und den den Abbau von Vorurteilen.
Die Bundesregierung hat gehandelt:
Das am 23. Mai 2000 von Bundesministerin Herta Däubler-Gmelin initiierte "Bündnis für Demokratie und Toleranz gegen Extremismus und Gewalt" hat sich mittlerweile zum Focus für eine Vielzahl von bürgerschaftlichen Initiativen sowie von Projekten, Informationsveranstaltungen und Aktionen entwickelt, die in diesem Jahr mit ca. 600.000. -DM, im folgenden Jahr mit 1,3 Mio DM unterstützt werden können. BMA und BMFSFJ haben gemeinsam das Programm XENOS mit einem Umfang von 75 Mio. DM über drei Jahre aus Mitteln des Europäischen Sozialfonds entwickelt. Es unterstützt konkrete Massnahmen und Projekte in Schule, Betrieb und auf kommunaler Ebene, die vor allem der Qualifikation, Information und der Stärkung zivilgesellschaftlicher Strukturen dienen. Schliesslich hat die Regierungskoalition in den Bundeshaushalt für 2001 zusätzlich insgesamt 40 Mio. DM zur Unterstützung der Jugendarbeit, von Initiativen gegen Rechtsextremismus und der Opferberatung sowie weitere 10 Mio. DM für Härteleistungen für Opfer rechtsextremistischer Übergriffe eingestellt. Aber auch mit diesen Maßnahmen wirkt der Staat immer nur als ideeller sowie materieller Katalysator von persönlichem Engagement, das sich aus der Gesellschaft heraus entfalten muss. Neben dem notwendigen Geld wird immer der Einsatz vieler Einzelner - wie den Sportlern, Trainern und Betreuern von Leipzig LIONS eben - gebraucht.
Für die Zukunft wünsche ich den Leipzig LIONS sportlichen Erfolg und uns allen die Fortsetzung Ihres Engagements zu Gunsten der Leipziger Kinder und Jugendlichen. Ihre Arbeit ist ein unverzichtbarer Baustein in unserem gemeinsamen Kampf gegen den Rechtsextremismus und für eine bürgerschaftlich engagierte Gesellschaft.