Redner(in): Gerhard Schröder
Datum: 12.12.2000
Anrede: Anrede,
Quelle (evtl. nicht mehr verfügbar): http://archiv.bundesregierung.de/bpaexport/rede/11/26411/multi.htm
Lieber Robert, lieber Volker Obenauer, liebe Kolleginnen, liebe Kollegenund natürlich lieber Kurt Beck! Ich freue mich, hier zu sein, und will gerne die Gelegenheit nutzen, um zu einigen Themen ein paar Bemerkungen zu machen.
Es hat beim EU-Gipfel in Nizza nicht nur viel Arbeit bis tief in die Nacht gegeben, sondern an einigen Punkten ist sogar etwas herausgekommen - nicht zuletzt für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer.
Wir hatten zum Beispiel über die Frage zu entscheiden: "Wie soll in der europäischen Perspektive das Schicksal der deutschen Mitbestimmung aussehen?" Es ist ja nicht ganz einfach, den Europäern zu vermitteln, dass es hier in Deutschland - übrigens nicht nur aus ökonomisch guten Gründen - starke Betriebsräte gibt, sondern aus guten Gründen auch eine Mitbestimmung auf der Unternehmensebene. Das ist etwas, was in den anderen europäischen Ländern völlig unbekannt ist. Das ist eine deutsche Eigenheit, die sich meiner Meinung nach wirklich bewährt hat.
Wohl weil nur wir dies haben, gab es Versuche der Kommission - auch der Präsidentschaft - , die Frage dieser Mitbestimmung der Mehrheitsentscheidung zuzuordnen. Es gab auch eine Vorlage, die beschlossen werden sollte. Wie nicht anders zu erwarten, gab es gegen diese Vorlage Proteste aus den Gewerkschaften. Diese Proteste haben dazu geführt, dass ich aus guten Gründen gesagt habe: "An der Mitbestimmung kann man aus deutscher Sicht nicht rütteln", und zwar deshalb, weil wir auch innerhalb eines größer gewordenen Europas nicht auf diese in Deutschland sehr erfolgreiche Form der Beteiligung der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer an den Entscheidungen in ihren Unternehmen verzichten können. Wir können nicht darauf verzichten, darüber letztlich auch in einem größer werdenden Europa mitentscheiden zu können. Also musste es bei der Einstimmigkeit bleiben.
Das war einer der wesentlichen Punkte, die mich dazu bewegt haben zu sagen: Um Europa führbar zu halten, muss man zwar verstärkt - und wir waren zu viel Bewegung bereit - mit Mehrheit entscheiden, weil sonst jedes kleine Land blockieren kann, auch die, die neu hinzukommen. Es gibt aber ein paar Themen, die so sensibel sind, dass man bitte verstehen muss, wenn wir gewachsene Strukturen nicht einfach preisgeben können.
Dies ist eine Entscheidung von erheblicher Tragweite, weil sie die nächsten zehn, fünfzehn, zwanzig Jahre unveränderbar sein wird. Ich halte diese Entwicklung für richtig, weil ich wirklich glaube - da bin ich bei dem Punkt, um den es mir zunächst geht - , dass wir bei aller Notwendigkeit, immer besser, immer effizienter, immer wettbewerbsfähiger zu werden, weil das die globalisierte Wirtschaft von uns erwartet, aufpassen müssen, dass wir nicht alle Bereiche unseres Lebens unter den Zwang ökonomischen Denkens stellen.
Auch und gerade in der Arbeitswelt hat die Würde des Menschen, die in Artikel 1 des Grundgesetzes beschrieben ist, ihren Stellenwert. Vertrauensleute und Betriebsräte, die Mitbestimmung auf Unternehmensebene, das sind Konstruktionen, die dazu führen, dass die Beschäftigten selbst für diese Würde auch am Arbeitsplatz eintreten können.
Ich bin in der letzten Zeit gelegentlich gescholten worden, dies zu verteidigen sei ganz unmodern, liege nicht im Trend der Zeit und passe eigentlich gar nicht zu einem Bundeskanzler, der sich auch Wirtschaftsthemen verschrieben hat. Genau umgekehrt wird ein Schuh daraus - das sage ich übrigens auch auf jeder Arbeitgeberveranstaltung: Die Produkte der Zukunft - wer wüsste das besser als die Menschen in der Chemiebranche, die in der Pharmazie tätig sind - werden Produkte sein, die auf Wissen gegründet sind, auf Kenntnisse von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern. Jede wirtschaftlich vernünftig handelnde Unternehmensführung wird in Zukunft noch mehr als in der Vergangenheit darauf angewiesen sein, alle Kräfte im Unternehmen zu mobilisieren, alle Kreativität, alle Fantasie, alles Können der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer zu nutzen, um wirtschaftlich Erfolg zu haben.
Wenn das so ist, dann müssen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer immer besser ausgebildet sein und immer mehr Durchblick in Bezug auf das haben, was von ihnen erwartet wird. Sie müssen immer besser über die Bedingungen informiert sein, unter denen das Unternehmen Erfolg haben kann, damit sie ihre Höchstleistungen nicht nur erbringen können, sondern auch wollen. Damit das der Fall ist, müssen sie auch informiert werden. Dann müssen Zusammenhänge klar gemacht werden.
Menschen, die so gut ausgebildet sind, die so Verantwortung im Unternehmen übernehmen müssen, um wirtschaftlichen Erfolg zu erzielen, denen kann man auch Mitbestimmung nicht verwehren. Denn sonst tun sie es nicht. Es ist ganz einfach. Die Zeiten, in denen hierarchische Anordnungen das Führungsprinzip in den Unternehmen waren, sind längst vorbei. Ich würde nur eine Grenze ziehen, und die ist da, wo die Richtlinienkompetenz des Bundeskanzlers in die unternehmerische Mitbestimmung fallen soll. Aber das ist ja auch nicht beabsichtigt.
Ich meine das ganz ernst. Darum haben wir gesagt: Schaut es euch einmal an. Vernünftig gehandhabt, ist das deutsche System der Mitbestimmung im Betrieb und im Unternehmen eine wirkliche Erfolgsstory gewesen. Wo wird das so vernünftig gehandhabt - das muss man wirklich sagen - in Zusammenarbeit mit Vertrauensleuten, mit Betriebsräten und der BCE, wie sie ja seit einiger Zeit heißt, wie in der Chemieindustrie?
Ich habe jüngst mit den Vorstandsvorsitzenden dieser Industrie gesprochen. Klagen über das, was wir an Mitbestimmung haben, und über die Richtung, in die es gehen soll, habe ich nur pflichtgemäß gehört.
Was werden wir machen? Wir müssen das Betriebsverfassungsgesetz modernisieren, gar keine Frage. Es ist 25 Jahre alt. Die Dinge haben sich geändert. Also muss man auch Gesetze anpassen.
Wir wollen zum Beispiel, dass sich der Betriebsrat verstärkt um die Qualifizierung von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern kümmern kann. Wer hat denn etwas dagegen, wenn die Betriebsräte dabei mehr zu sagen haben? Wenn sie dabei mehr zu sagen haben und das auch in ihre Verantwortung kommt, dann wird ein größeres Interesse an der Qualifizierung von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in Zusammenarbeit mit dem Personalchef entwickelt. Das kann dem Unternehmen doch nur helfen. Ich frage mich, wer etwas dagegen haben sollte.
Wir haben gesagt: Wir wollen, dass die Betriebsräte besser über die Investitionen informiert sind und werden, die zum Beispiel im Umweltschutz im Unternehmen gemacht werden. Ich bin nicht ganz sicher, ob diejenigen, die das guten Glaubens aufschreiben - was ich durchaus befürworte - , immer die Konsequenzen bedacht haben. Ich bin nämlich nicht sicher, ob die Betriebsräte gegenüber der Geschäftsleitung nicht sagen werden: "Leute, macht da mal nicht so viel, reserviert den größeren Teil dieser Investition für die Lohntüte."
Aber gut, der Kampf darum kann auch kein schlechter sein. Den Betriebsräten verbesserte Informationsrechte über notwendige Dinge im Umweltschutz zu geben, der eng mit dem Arbeitsschutz zusammenhängt, dagegen kann doch im Ernst keiner etwas haben; es sei denn, er ist wirklich ideologisch in dieser Frage.
Wir wollen tatsächlich das Wahlverfahren vereinfachen, so dass Wahlen auch in kleinen und mittleren Betrieben und schneller möglich sind. All diejenigen, die sonst immer für die Entbürokratisierung sind, sagen auf einmal: "Lasst das Wahlverfahren doch so bürokratisch, wie es ist." Merkwürdig: Dahinter muss sich etwas anderes als das Preisen der Vorzüge der Bürokratie verbergen. Vielleicht verbirgt sich dahinter, dass man insbesondere bei den kleinen und mittleren Betrieben nicht mehr, sondern weniger Betriebsräte haben will. Das könnte ja sein.
Das wäre aber falsch. Denn auch da sind sie nützlich. Auch da ist Beteiligung am Haben und am Sagen ein gutes Prinzip der Unternehmensführung. Ich frage mich, warum es dort so eine Aufregung gibt, weniger aus der Wirtschaft selbst, mehr aus den Verbänden heraus.
Wenn man sich diese Frage stellt, kann man sie sogleich beantworten: Dort haben Menschen nicht genügend darüber nachgedacht, dass Politik in einer demokratischen Gesellschaft - jedenfalls, wenn sie von uns gemacht wird - immer heißt, eine faire Balance zwischen den wirtschaftlichen Notwendigkeiten und den Rechten der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer zu schaffen. Ich erinnere an die Würde der Menschen auch am Arbeitsplatz, aber auch an die Rechte der arbeitenden Menschen, weil das für die Entwicklung unserer Gesellschaft nur positiv sein kann.
Damit bin ich beim nächsten Thema: Wir haben in einer endlos langen Debatte gesagt, wir müssen mehr Möglichkeiten zur Teilzeitbeschäftigung schaffen. Wenn man fragt und Reden hört - auch von denjenigen, die jetzt dagegen Sturm laufen - , werdet ihr immer wieder hören: "Mehr Teilzeitbeschäftigung muss sein, vor allem für Frauen." Das ist eine Forderung, die immer wieder in jeder Rede erhoben wird, übrigens zu Recht. Das ist auch wirtschaftlich richtig. Wer sich einmal die Arbeitskräftesituation in Deutschland anschaut, der wird feststellen, dass wir es uns wirtschaftlich überhaupt nicht leisten können, gut ausgebildete Frauen vom Arbeitsmarkt fern zu halten.
Die Zeiten der drei K's - bei allem Respekt vor den drei K's- sind vorbei. Sie sind nicht nur vorbei, was die Erwartungen von jungen und auch älteren Frauen angeht, sie sind auch aus wirtschaftlichen Notwendigkeiten vorbei. Jenes Maß an guter Ausbildung, an hoher Qualifikation, das wir bei Frauen haben - Gott sei Dank, weil es nicht mehr so ist wie vor fünfzig oder hundert Jahren - , müssen wir auch wirtschaftlich einsetzen. Hier liegt der Grund, warum man Familienphase und Möglichkeiten in der Arbeitswelt näher zusammenbringen muss. Das ist auch ein Appell an die Männer - das weiß ich wohl - , aber in jedem Fall auch an die Politik.
Wir haben das aufgenommen und haben gesagt: "Wir wollen ein zeitgemäßes Recht im Hinblick auf die Teilzeitbeschäftigung schaffen." Über die Einzelheiten gibt es auch wenig Streit, wohl aber über die Frage, ob Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer ein Recht darauf haben sollen, Teilzeitarbeit zu verlangen. Darüber haben wir gestritten, auch hier im und mit dem Unternehmen. Wir haben damals gesagt, wenn man wirklich mit dieser auch wirtschaftlichen Notwendigkeit weiterkommen will, dann darf man das nicht alleine in das Ermessen einer fortschrittlichen Unternehmensführung stellen. Ich glaube auch und will gerne aufnehmen, dass dies hier so ist, nicht zuletzt weil die Betriebsräte auch darauf schauen. Aber das ist ja nicht überall so.
Deswegen haben wir gesagt: Wir wollen einen Rechtsanspruch hineinschreiben, den aber natürlich nicht schrankenlos gewähren. - Das ginge ja nicht. Es gibt viele kleine Betriebe, die das gar nicht können. Wir haben also eine Kleinbetriebsklausel eingebaut. Betriebe mit unter 16 Beschäftigten müssen das nicht machen. Darüber hinaus haben wir gesagt: Wenn der Betrieb meint, aus betrieblichen Gründen könne der Anspruch nicht gewährt werden, dann muss er das auch nicht. Eine ausgewogene Balance zwischen betrieblicher Notwendigkeit und dem Recht der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer - wer will wirklich etwas dagegen haben; es sei denn, er hat andere Motive als er vorgibt?
Der dritte Punkt, den wir neben der Reform der Betriebsverfassung und neben Teilzeit machen müssen und werden, ist das, was wir jetzt mit der Rente vorhaben. Man muss sich einfach einmal fragen: Warum machen wir das eigentlich? Warum ziehen wir uns den ganzen Ärger an den Hals, auch den Ärger mit unseren Freunden in den Gewerkschaften, vor allen Dingen mit einer Freundin in den Gewerkschaften? Das ist eine Höllenarbeit. Quer durch die ganze Gesellschaft gibt es keinen Beifall dafür. Den kann es auch nicht geben. Denn irgendwo ist jeder ein Stück weit auch negativ betroffen. Man muss deshalb erklären, warum man so etwas überhaupt anpackt.
Der Grund dieser Reform liegt in drei Punkten:
Erstens. Die Arbeitsbiografien haben sich verändert. Das wisst ihr im Betrieb selbst auch. Was heißt das? Die Renten speisen sich aus den Beiträgen von Arbeitgebern und Arbeitnehmern. Wenn sich aber die Arbeitsbiografien verändern, dann verändern sich auch die Beitragszahlungen. Das heißt, was wir in Deutschland bei Dienstleistungen und in der Industrie produzieren, wird mit immer weniger Vollerwerbsarbeitsverhältnissen und mit immer mehr gebrochenen Arbeitsbiografien produziert. Wenn nun aber die Renten vor allen Dingen an den Beiträgen aus Vollerwerbsarbeitsverhältnissen hängen und sich das ändert, dann gibt es aus diesem Grund Druck auf die Rentenkasse. Dem könnte man entgegentreten, indem man eine Forderung erfüllt, die aus dem Gewerkschaftslager erhoben wird. Sie heißt: "Dann gleicht doch die Kasse aus Steuermitteln aus."
Vorsicht! Lassen Sie mich sagen, was dort jetzt schon hineinfließt. Jährlich 137 Milliarden DM fließen in die Rentenkasse, aufgebracht aus Steuern, natürlich auch aus Steuern, die die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer bezahlen. Dies ist kein Ausweg.
Ich weiß nicht, ob hier jemand weiß, wie viel eine Milliarde ist. Dass das eine Eins mit neun Nullen ist, weiß ich auch. Aber mir hat Johannes Rau einmal erklärt, was das wirklich ist. Eine Milliarde ist: Wenn einer von euch sie hätte und seiner Frau jeden Tag 10.000 DM zum Ausgeben gäbe, dann würde er die Frau dreihundert Jahre nicht sehen. - Aus Steuermitteln gehen jedes Jahr 137 Milliarden DM in die Rentenkasse. Das lässt sich nicht mehr steigern.
Zweitens: Die Menschen werden Gott sei Dank älter. Wenn man einmal weit über fünfzig ist, freut man sich auch langsam darüber. Aber natürlich bedeutet Älterwerden längere Rentenbezugszeiten.
Dritter Punkt, weswegen wir handeln müssen: Die Beitragsentwicklung konnte auf beiden Seiten nicht so weitergehen, für die Betriebe nicht und für die Beschäftigten schon gar nicht. Wenn wir das so hätten weiterlaufen lassen, wäre der Beitragssatz für die Arbeitnehmer Mitte der Zwanziger Jahre dieses Jahrhunderts zwischen 26 und 30 Prozent gewesen. Das geht nicht. Jetzt ist er unter 20 Prozent. Da muss er auch bleiben, und zwar möglichst lange. Wir hatten ihn schon einmal zwischen 21 und 22 Prozent.
Wir haben dann der Mehrwertsteuererhöhung im Bundesrat zugestimmt, damit dies heruntergedrückt werden konnte. Erhöhte Beiträge, das heißt auch immer, zur Hälfte aus den Bruttolöhnen aufgebracht, die Sie bekommen. Darüber muss man sich im Klaren sein.
Die Änderung der Erwerbsbiografien, die wegen der gestiegenen Lebenserwartung erheblich längere Dauer der Rentenbezugszeiten und eine möglichst langfristige Stabilität der Beiträge, weil Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer vom Bruttoeinkommen, das sie bekommen, netto mehr in der Tasche haben sollen, das sind die drei Dinge, die zum Handeln zwingen.
Es gibt keine Ideallösung. Es gibt keine Politik nach dem Motto: "allen Wohl und niemand Weh". Also müssen wir aus diesen Gründen im Interesse der aktiv Beschäftigten handeln. Das heißt, wir müssen die Hauptsäule, die erste Säule des Rentensystems, die umlagefinanzierte Rente, bewahren. Das tun wir auch. Aber wir müssen eine daneben stellen, damit das Dach nicht kippt.
Diese eine Säule heißt: private Vorsorge."Kapitaldeckung" sagen die Fachleute. Daran arbeiten wir. Wir wissen doch, dass es eine ganze Menge Menschen gibt, die das nicht leisten können, weil sie nichts mehr übrig haben, aus dem sie es leisten könnten, weil es noch nicht so dicke ist, wie wir es uns damals vorgestellt haben. Diesen Leuten helfen wir.
Bis zum Jahr 2008 nehmen wir fast zwanzig Milliarden DM in die Hand, um für die Geringverdienenden Förderung zu geben, das heißt für diejenigen, die als Verheiratete weniger als 20.000 DM im Jahr bekommen. Für diejenigen, die zwischen 70.000 DM und der Beitragsbemessungsgrenze liegen - sie liegt zurzeit bei etwas über 100.000 DM - gewähren wir eine erhebliche steuerliche Förderung.
In dem Zusammenhang müssen wir erreichen, dass eure betriebliche Altersvorsorge einbezogen wird. Das ist technisch unheimlich schwierig, weil es ein anderes System ist. Das ist mir wohl bekannt. Aber wir müssen es auch deswegen erreichen, weil wir eine Gewerkschaft, die relativ frühzeitig die Zeichen der Zeit erkannt hat - eure nämlich - , nun nicht im Regen stehen lassen können. Das wollen wir auch nicht. Die Fachleute sind im Gespräch miteinander. Wir werden das hinbekommen müssen. Denn wir wollen als dritte Säule betriebliche Alterssysteme haben. Das ist verdammt nicht einfach, weil das System so kompliziert ist. Aber wir sind mit gutem Willen dabei.
Schauen Sie sich das einmal an und all das, was bereits vergessen ist: Lohnfortzahlung, das war noch nie euer Problem, weil das gewerkschaftlich erkämpft wurde. Aber für Kollegen in den kleinen und mittleren Unternehmen war das schon ein Problem. Kündigungsschutz, Kindergeld, arbeitnehmerfreundliche Steuerreform - immer, wenn wir etwas gemacht haben, was wirklich in Ordnung ist und unserem Auftrag als Sozialdemokraten entspricht, haben die Kumpel gesagt: "Okay, das haben wir von euch erwartet. Was holt ihr als Nächstes aus der Pfanne?" Es ist nicht ganz einfach, so eine komplizierte Gesellschaft zu führen.
Wenn man einen Strich darunter macht, glaube ich jedenfalls sagen zu können, dass die gelegentlich geäußerte Kritik, dass das, was wir tun, eine bestimmte Schlagseite hätte, nicht stimmt.
Über eines muss man sich aber genauso im Klaren sein. Wir müssen auf der anderen Seite dafür sorgen, dass der Rahmen für die Wirtschaft in unserem Land auch stimmt, weil das ebenfalls im Interesse der Arbeitnehmer ist. Wo nichts produziert und nichts investiert wird, sind Arbeitsplätze in Gefahr. Wenn Arbeitsplätze in Gefahr sind, gehen die Steuermöglichkeiten zurück und damit auch die Politikmöglichkeiten, die wir haben. Dass sich diese Bundesregierung und ich persönlich auch entschieden um die Stärkung der Wirtschaftskraft in Deutschland kümmern, das halte ich nicht für einen Vorwurf, sondern für eine Auszeichnung. Das betrifft die Autos genauso wie die Chemie oder die Chemie genauso wie die Autos. Das muss sein. Denn das ist die Basis für unsere Verteilungsmöglichkeiten. Wo nichts produziert wird, kann auch nichts verteilt werden. Das muss man sich auch klar machen, verehrte Kolleginnen und Kollegen, wenn man über diese Fragen redet.
Ich glaube, wir haben eine sinnvolle Balance zwischen beidem erreicht oder sind auf dem Wege dahin. So lange sind wir ja noch nicht daran, erst zwei Jahre. Aber immerhin, dafür ist doch einiges Vernünftige auf den Weg gebracht worden.
Beim nächsten Thema, das hier sehr interessiert, geht es um die Frage: Wie geht es weiter mit der Ausbildung? Wie geht es weiter mit der Qualifizierung? Was habt ihr in dem Bereich vor?
Kurt Beck hat mit gutem Grund stolz darauf hingewiesen, was er und seine Leute in diesem Land auf dem Ausbildungssektor geleistet haben. Ich kann nur unterstreichen: Das ist beispielhaft. - Viele haben dazu beigetragen, Gewerkschaften ebenso wie vernünftige Unternehmer. Was er hier als Ausbildungskonsens erreicht hat, kann sich sehen lassen. So möchten wir es überall haben. Es ist in einigen Ländern auch schon so, aber leider nur im Westen. Wir müssen deshalb im Osten noch Geld des Staates in die Hand nehmen. Mit einem Schwerpunkt im Osten finanzieren wir Ausbildung in einer Größenordnung von zwei Milliarden DM jährlich.
Das hat arbeitsmarktpolitische, aber auch gesellschaftspolitische Gründe. Ich bin fest davon überzeugt, liebe Kolleginnen und Kollegen - deshalb tue ich das auch - , dass man das, was sich nicht nur im Osten, sondern insgesamt an Rechtsradikalismus entwickelt, nur mit einer Strategie mit drei Elementen bekämpfen kann.
Erstes Element: Gegen jeden, der andere durch die Straßen treibt, nur weil sie eine andere Hautfarbe haben oder anders aussehen oder eine andere Religion haben, gegen diese Form von Rechtsradikalismus werden wir Justiz und Polizei mit aller Härte einsetzen. Das kann gar keine Frage sein.
Zweitens: Das, was ich immer gefordert habe, kommt langsam in Gang: der Aufstand der Anständigen. Ich bin gerade den Gewerkschaften dankbar, dass sie dieses in ihren Gewerkschaftsveranstaltungen, aber auch als Vertrauensleute in den Betrieben, zum Thema machen. Diese Form von politischer Auseinandersetzung, die keine politische, sondern eine kriminelle ist, schadet uns.
Das schadet uns im Ausland ungemein, gerade den Deutschen. Und viele warten darauf, uns schaden zu können. Macht euch da nichts vor. Aber dabei geht es nicht nur um Image, liebe Kolleginnen und Kollegen. Kampf gegen rechts, gegen die Rattenfänger von rechts, hat etwas mit unserer Selbstachtung zu tun. Wir wollen doch mal sehen, wer in diesem Land das Sagen hat.
Drittens, und damit bin ich beim Thema: Man muss den Mitläufern - meistens sind es junge - eine Perspektive geben. Das muss genauso klar sein. Härte auf der einen und gesellschaftlicher Widerstand auf der anderen Seite müssen damit einhergehen, den Leuten eine Perspektive in Ausbildung und Arbeit zu bieten. Wenn wir das nicht schaffen, wird es immer Leute geben, die den ideologisierten Rattenfängern von rechts hinterherlaufen. Deswegen müssen wir das schaffen. Es ist gut so, wenn das auch als Aufgabe von Unternehmen, Betrieben und Betriebsräten begriffen wird. Ich bedanke mich jedenfalls dafür, dass dies hier so ist.
Darüber hinaus werden mehr Investitionen in Forschung und Entwicklung gefordert. Das tun wir. Wir haben viel Geld aus dem Verkauf der UMTS-Lizenzen eingenommen. Es sind hundert Milliarden DM, die wir sofort in den Abbau von Schulden gesteckt haben. Das ist auch nötig. Aber wir haben dadurch Leistungen für Zinsen "erspart", etwa fünf Milliarden. Davon gehen in den nächsten drei Jahren sechs Milliarden in den Ausbau der Bahn. Dort müssen sie endlich ihr Netz ertüchtigen. Sie müssen ein richtiges Unternehmen werden, wie ihr auch eines seid. Davon sind sie noch weit entfernt. Aber sie müssen diese sechs Milliarden investieren. Sie dürfen damit nicht ihre betriebswirtschaftlichen Probleme lösen. Das geht nicht. Weitere 1,8 Milliarden DM gehen in Forschung und Entwicklung - das ist kein Pappenstiel - und fast sechs Milliarden DM in den Bereich Straßenbau, was auch nötig ist.
Wir schaffen damit eine Situation, in der wir auf der einen Seite unsere Infrastruktur auch im Interesse der Wirtschaft verbessern - unter Wirtschaft verstehe ich vor allen Dingen auch die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer - und zum Zweiten massiv in Forschung und Entwicklung investieren. Hier gibt es insbesondere den Schwerpunkt - das wird dieses Unternehmen interessieren - , der mit der Genomforschung zusammenhängt.
Wenn ich nachher zurück in Berlin bin, besuche ich zusammen mit der Gesundheits- und der Bildungsministerin ein Genom-Forschungszentrum, weil wir glauben, dass wir jetzt einen verbindlichen Rahmen schaffen müssen, der zwei Fragestellungen löst. Das ist einmal die Notwendigkeit, dieses so wichtige Gebiet wirtschaftlich nutzen zu können. Das ist ganz wichtig. Wir müssen aufpassen, dass die Engländer, die Amerikaner und jetzt auch die Franzosen uns auf diesem Sektor nicht weglaufen und die die Arbeitsplätze haben und wir nicht. Aber es gibt einige ethische Fragen zu lösen, die auch ein wenig mit unserem Menschenbild zu tun haben. Das darf nicht einfach verdrängt werden. Wohin so etwas führt, wenn man das zu lange verdrängt oder zu lange den Fachleuten vertraut, das haben wir bei der BSE-Geschichte gemerkt. Das heißt, wir haben in Deutschland im Umwelt- und Gesundheitsbereich einen Rechtsrahmen, der sich sehen lassen kann. Aber gelegentlich muss man denen, die ihn ausfüllen sollen, helfen, das kritisch genug zu tun. Wir können es uns nicht erlauben, dass nachher die Verbraucher davonlaufen, die die Produkte kaufen sollen. Das wäre auch nicht gut für diejenigen, die die Produkte herstellen.
Wir müssen daher in der nächsten Zeit eine Balance finden zwischen der Notwendigkeit, die gesamte Gentechnologie wirtschaftlich zu nutzen, und den damit verbundenen ethischen Vorstellungen - und zwar in Deutschland, damit das ganz klar ist. Das ist wieder so eine Sache, die nicht nur wir Sozialdemokraten können, aber die wir natürlich am besten können. Das werden wir machen. Wir werden dort massiv in die Grundlagenforschung investieren.
Ich bin ziemlich sicher, dass wir damit das verstärken, was wir schon gemacht haben. Wir haben nämlich nicht nur verglichen mit den Amerikanern in der Grunlagenforschung aufgeholt, sondern wir sind inzwischen in Europa die Besten bei der Umsetzung von Forschungsergebnissen in wirtschaftliche Praxis. Dort kommt eine ähnliche Dynamik herein wie bei den Informations- und Kommunikationstechnologien. So ist es auch richtig im Interesse der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer.
Ich hoffe, verehrte Kolleginnen und Kollegen, dass damit klar ist, dass wir auf dem Weg sind, das Land in vielen Bereichen zu modernisieren. Wo gehobelt wird, fallen auch Späne. Das kann gar nicht anders sein. Auf der anderen Seite wird sich aber niemand darüber beklagen oder davor Angst haben müssen, dass wir - ausgerechnet wir - nicht über die nötige Sensibilität verfügten, um die Würde der Menschen in der Arbeitswelt zu verteidigen. Das erfordert neue Einsichten. Das muss zusammengebracht werden. Das ist euch genauso klar wie mir. Aber wir können das schaffen, und wir sind dabei.
Die letzte Bemerkung, die ich machen will, betrifft Europa, die Richtlinie, die Robert angesprochen hat. Europa ist gewiss ein schwieriger Kontinent. Er ist deshalb schwierig, weil er so vielfältig ist und es auf Grund der unterschiedlichen Identitäten so unterschiedliche nationale und kulturelle Interessen gibt. Aber das ist nicht nur kompliziert. Es birgt auch riesige Chancen. Diese unterschiedliche kulturelle Vielfalt sieht man schon, wenn man einmal quer durch Europa reist. Das ist ein Vorteil, den wir haben. Unsere Aufgabe besteht darin, diesen Vorteil zu nutzen, die Vorteile zu maximieren und die Nachteile, die sich aus Vielfalt ergeben, zu minimieren. Das ist unsere politische Aufgabe.
Was bedeutet das für euren Bereich und für die Richtlinie? Es ist sehr interessant zu sehen, wie das läuft. Es gibt eine Umweltkommissarin, die aus Schweden kommt. Dann gibt es eine Generaldirektion der Wirtschaft mit Leuten, die noch etwas mit Produktion am Hut haben. Im Moment gibt es eine Auseinandersetzung zwischen diesen beiden.
Es ist gut, dass sich Leute Gedanken über Wirtschaftskraft, Finanzen und über die Folgen für die Industriepolitik machen und sagen: "Man kann nicht einen Problembereich allein unter Umweltgesichtspunkten beurteilen. Man muss auch darüber nachdenken, welche Folgen das hat." Ich habe das gelegentlich bei der Automobilindustrie verlacht gesehen, als es eine Altauto-Richtlinie geben sollte. Wäre sie wie damals vorgesehen in Kraft getreten, hätte sie dazu geführt, dass gerade die deutsche Automobilindustrie, die die langlebigsten Autos baut, in besondere Schwierigkeiten gekommen wäre. Ich habe damals gesagt: Hier muss ein Kompromiss zwischen den Entsorgungs- und den Produktionsnotwendigkeiten gefunden werden. Er ist auch gekommen. Es geht jetzt.
Exakt das Gleiche müssen wir bei der Richtlinie miteinander erreichen. Das wird nicht einfach sein, weil das Europa der Fünfzehn - wenn man es sich einmal anschaut - gelegentlich so gestrickt zu sein scheint, dass alle nur noch von Dienstleistungen leben wollen und entsprechend ihre Entscheidungen fällen.
Wir Deutschen aber haben aus gutem Grund - das wollen wir behalten - eine funktionierende Produktionsindustrie. Ich nenne den Maschinen- und den Werkzeugmaschinenbau. Ich rede aber nicht nur über Chemie und über Autos. Das sind alles Industrien, die in den Bereichen die Besten der Welt sind. Auch in der Chemie ist das so. Es sind auch die exportträchtigsten Industrien. Ich will, dass dies so bleibt und sich das, wo es geht, noch verbessert.
Deswegen sage ich: Ich brauche Verbündete in diesem Europa, Verbündete für den Produktionsstandort und nicht nur für den Dienstleistungsstandort Europa. Ich will das nicht verachten, aber vor allem benötigen wir sie für den Produktionsstandort. Diese Verbündeten sind manchmal schwer zu finden. Wo Automobilproduktion im internationalen Wettbewerb weggefegt worden ist, haben Politiker mit einem Ersatz für die Automobilindustrie Schwierigkeiten. Bei der Chemie ist das im Übrigen ganz genauso. Wo es nichts mehr gibt, weil es sich im internationalen Wettbewerb nicht gehalten hat, oder wo es vertrieben worden ist, findet man wenig Verständnis für objektive Notwendigkeit.
In dem Zusammenhang habe ich zwei Bitten. Den Unternehmensführungen habe ich gesagt: "Ihr habt auch Zusammenschlüsse auf europäischer Ebene. Warum passiert nicht mehr? Warum macht ihr euch nicht handelseinig mit euren Wettbewerbern in Frankreich, Italien, Spanien und Großbritannien?" Wenn wir alle mit Deutschland zusammenbringen, ist dagegen gar nichts abzustimmen. Das ist eine Sache der Unternehmensführungen. Sie sind auch daran, müssen das aber noch verstärken. Den Arbeitnehmerorganisationen muss man genauso klar sagen: "Ihr müsst auf europäischer Ebene dafür sorgen, eure Interessen zu organisieren." Volker Obenauer hat sich sozusagen auf die europäische Ebene begeben. Ich will nicht sagen, er hat sich abgeseilt - das wäre eine Stufe darunter - , er ist vielmehr aufgestiegen.
Wir müssen unsere Bündnispartner im staatlichen Bereich in geduldigen Gesprächen mit der Kommission finden. Unsere Linie wird sein, verehrte Kolleginnen und Kollegen: Wir wollen in Deutschland einen sehr guten und weltweit beachteten Chemiestandort erhalten. Wir wollen, dass die wichtigen Investitionen in Forschung und Entwicklung, aber auch in Produktion, nicht irgendwo stattfinden, sondern schwerpunktmäßig in diesem Land. Das will jedenfalls diese Bundesregierung. Das werden wir vielleicht auch zusammen erreichen, nicht nur vielleicht, sondern ganz sicher.
Das will ich noch sagen: Die EU, die sich erweitert, wird Länder hinzubekommen, die ganz ähnlich wie Deutschland an Produktion interessiert sind. Insofern ist die Erweiterung deutsches Interesse, nicht nur der Märkte wegen, sondern auch, weil damit in Europa eine Renaissance industrieller Produktion Einzug halten wird. Ich bin ganz fest davon überzeugt. Das ist der Grund, warum ich - nehmen Sie es mir nicht übel - relativ optimistisch ins nächste Jahr gehe. Die wirtschaftlichen Rahmendaten stimmen. Es hat in den letzten zehn Jahren noch nie so viel Wachstum und so wenig Arbeitslose wie jetzt gegeben. Wir sind wirklich gut bei der Versorgung unserer jungen Leute. Wir investieren kräftig in Forschung und Entwicklung. Wir haben wirkliche Fortschritte gemacht - das muss man dem Eisernen Hans lassen - beim Abbau von Schulden und die Möglichkeit, auch noch für nachwachsende Generationen Politik zu gestalten. Das mag dem einen oder anderen noch nicht reichen, mir auch nicht. Wenn man sich zurücklehnte, wäre auch Stillstand angesagt. Das kann sich keiner leisten, nicht in den Unternehmen und nicht in der Bundesregierung.
Trotzdem glaube ich, wenn man sich dieses Jahr anschaut - das letzte Jahr habe ich aus vielerlei Gründen schon vergessen - , ist alles ganz gut gelaufen. Wir haben eine Politik gemacht, die der Stärkung der Wirtschaftskraft in Deutschland gedient hat und damit den Interessen der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, der aktiv Beschäftigten, entspricht. Ich glaube aber auch, dass wir im sozialen Bereich eine Politik gemacht haben, die sich wirklich sehen lassen kann, die unsere Wirtschaftskraft nicht überfordert, aber auf Gerechtigkeit basiert. Wir wollen diese Politik weiter machen und wären sehr dankbar dafür, wenn uns die aktiven Gewerkschafter in diesem Land wie bisher unterstützten.
Ich bedanke mich sehr für die Möglichkeit hier zu sein, und wünsche Ihnen allen und Ihren Familien eine gesegnete Weihnacht und ein gutes neues Jahr.