Redner(in): Angela Merkel
Datum: 15. April 2013
Untertitel: in Berlin
Anrede: Lieber Karl-Josef Laumann,lieber Peter Weiß, liebe Kolleginnen und Kollegen aus dem Deutschen Bundestag,liebe Gäste,
Quelle (evtl. nicht mehr verfügbar): http://www.bundesregierung.de/Content/DE/Rede/2013/04/2013-04-15-merkel-kongress-bt-cdu-csu.html
Ich freue mich darüber, dass ich heute auf diesem Kongress "Fit für die Zukunft durch gute betriebliche Qualifikationen" dabei sein und ein paar Worte zu Ihnen sagen darf. Hierbei handelt es sich um ein Megathema der Zukunft. Ich glaube, dass es richtig ist, dass dieses Thema von der CDU / CSU-Bundestagsfraktion aufgegriffen und in einer so guten Art und Weise besprochen wird mit Experten sowie mit fach- beziehungsweise sachkundigen Menschen, die aus eigener Betroffenheit etwas darüber berichten können.
Ich möchte das, was Sie alle wissen, an den Beginn stellen: Wir sind in Deutschland im Vergleich zu anderen eigentlich recht gut aus der schweren internationalen Wirtschafts- und Finanzkrise herausgekommen. Dennoch darf man nicht vergessen denn wir gehen manchmal darüber hinweg, weil man bei uns auf dem Arbeitsmarkt nicht viel gemerkt hat, dass wir letztes Jahr wieder das Wirtschaftsniveau der Zeit vor der Krise erreicht haben. Dieses Jahr haben wir nur ein sehr schwaches Wachstum. Das heißt, wir hatten im Grunde genommen zwischen 2007/2008 und 2013 kaum eine Erhöhung unserer Wirtschaftsleistung und damit gehören wir schon zu den Besseren in Europa.
Wenn man sich einmal überlegt, dass wir doch immer 1 bis 1,5 Prozent Wachstum brauchen, um zum Beispiel die Beschäftigtenzahlen zu halten, dann sieht man, dass durch die Wirtschafts- und Finanzkrise, durch die große Bankenkrise doch erhebliche Einbußen entstanden sind. Nur durch sehr klug designte Konjunkturprogramme mit einer in der Folge erhöhten Staatsverschuldung denn Kurzarbeit, Bankenrettung und vieles andere waren natürlich nicht zum Nulltarif zu haben können wir heute sagen, dass wir die Krise recht gut überwunden haben. Ich hoffe, eine solche Krise wiederholt sich nie wieder.
In solchen Krisen das sollte man sich merken gibt es immer viele, die ganz genau wissen, wie welche Maßnahme wirkt. Was habe ich nicht alles über die Abwrackprämie gehört. Ich will es einmal so sagen: Die Abwrackprämie war in der Tat eine teuere Angelegenheit. Wir haben nämlich fünf Milliarden Euro dafür eingesetzt. Damals wurde gesagt: Es ist hundertprozentig sicher, dass die Automobilbranche danach in ein tiefes Loch fällt, weil dann der gesamte Binnenmarkt gesättigt ist. Ja, der Binnenmarkt war gesättigt; das ist richtig. Auch heute haben wir noch eine relativ schwache Nachfrage. Aber just in dem Moment, in dem unsere Abwrackprämie auslief, sprang der Export wieder an und hat das Ganze kompensiert, während in der Zeit, als wir die Abwrackprämie hatten, der Export noch nicht richtig funktioniert hat.
Ich war neulich bei einem Logistikunternehmen in Baden-Württemberg zu Besuch, das Schrauben und verschiedene Sachen für Kompressoren in Deutschland verteilt. Der Firmeninhaber hat mir zum Abschied gesagt: Danke für das Instrument der Kurzarbeit; ich hätte sonst alle meine Mitarbeiter verloren. Ich habe 80 Leute; ich arbeite im Wettbewerb mit Bosch, mit Daimler und mit sonst wem. Mein Mittelständler hätte alle Fachkräfte abgegeben; und ich hätte alles von Neuem aufbauen müssen.
Das heißt, wir haben damals klug gehandelt. Aber es ist nicht so, dass wir nicht irgendwo auch spüren, dass wir gehandelt haben. Das drückt sich in einer höheren Staatsverschuldung, aber auch in einem höheren Bruttoinlandsprodukt aus. Bei der Beschäftigungslage hat uns auch die einsetzende demografische Veränderung geholfen. Auch mit dieser beschäftigen Sie sich implizit, wenn es um "Fit für die Zukunft" geht. Denn wir haben im Augenblick jedes Jahr rund 500.000 Menschen mehr, die in Rente gehen, als wir junge Menschen haben, die in den Arbeitsmarkt kommen jedes Jahr eine halbe Million Menschen; und das über die nächsten 10 bis 15 Jahre hinweg. So werden wir dann Ende der 2020er Jahre, also 2028 und 2029, sechs Millionen weniger zur Verfügung stehende Erwerbstätige haben. So lange ist es gar nicht mehr hin; 15 Jahre sind schnell vorbei. Das heißt, wir müssen uns heute darauf vorbereiten, damit wirklich jeder, der einen Beitrag leisten kann, fit für die Zukunft ist.
Die Ausgangspositionen sind gut. Der Kern ist ein ausgewogener Mix aus dualer Berufsausbildung und Hochschulausbildung. Was wir aber im Augenblick bei der Jugendarbeitslosigkeit in Europa sehen, ist, dass auf der einen Seite sehr viele Hochschulabsolventen arbeitslos sind und dass sich auf der anderen Seite das Ausbildungssystem in vielen europäischen Ländern überhaupt nicht gut entwickelt hat.
Wir brauchen vielleicht auch in Deutschland etwas mehr Studenten. Aber genauso brauchen wir auch viele Menschen, die eine duale Berufsausbildung absolvieren. Das ist für die industrielle Fertigung der Zukunft der Schlüssel. Wir müssen Industrieland bleiben, wenn wir unseren Wohlstand erhalten wollen. Das wird durch Dienstleister ergänzt werden. Das wird ergänzt werden durch Einbettung in das, was wir "Industrie 4.0" nennen, also die Interneteinbettung, durch das Internet der Dinge, wie es so schön heißt, oder durch Maschinen, die in Zukunft miteinander kommunizieren können. Wer weiß, was da noch alles auf uns zukommt. Wer auf der letzten Hannover Messe gewesen ist, der weiß, wovon die Rede ist.
Vor diesem Hintergrund ist es jetzt sehr wichtig, dass wir die Situation in Europa nutzen, um unsere Erfahrungen aus der dualen Ausbildung weiterzugeben. Das betrifft zum einen den Ausbildungspakt, der sich bewährt hat, und zum anderen die Frage der Standards der dualen Ausbildung. Wir haben gerade eine größere Schlacht in Europa geschlagen, um sicherzustellen, dass man Krankenschwester auch dann werden darf, wenn man die Realschule abgeschlossen hat, und dass man dafür nicht gleich das Abitur machen muss. Mit diesem einen Thema haben wir wieder viele Stunden verbracht. Aber die Schlacht ist wenigstens erfolgreich geschlagen. Daran können Sie sehen, welche Diskussionen wir führen. Deshalb ist es sehr wichtig, dass wir überall für die duale Ausbildung werben.
Ich möchte ausdrücklich einen Dank an die Arbeitgeber und an die Gewerkschaften richten. Ich war mit dem DGB in Spanien. Ich weiß, dass der DGB auch in anderen Ländern war. Ich habe viele Gewerkschaftsfunktionäre aus Griechenland, aus Portugal und aus anderen Ländern empfangen. Der DGB hat überall gesagt: Ihr als Gewerkschaften dürft nicht einfach nur passiv sein und dürft nicht warten, bis der Staat irgendein Angebot macht, sondern duale Ausbildung heißt auch, dass die betrieblich Verantwortlichen mitmachen. Deshalb sind die Betriebsräte eine sehr wichtige Institution.
Wir haben im Augenblick in Deutschland eine sehr geringe Jugendarbeitslosigkeit. Dennoch kann uns das nicht zufriedenstellen. Auf dem letzten EU-Rat der Staats- und Regierungschefs haben wir über die Jugendarbeitslosigkeit in Europa gesprochen. Wir haben jetzt in der neuen mittelfristigen Finanziellen Vorausschau sechs Milliarden Euro zur Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit vorgesehen und zwar nicht auf Jahresscheiben verteilt, sondern so schnell wie möglich einsetzbar. Ich kann nur hoffen, dass diese mittelfristige Finanzielle Vorausschau schnell verabschiedet wird.
Ich habe mit Ursula von der Leyen darüber gesprochen, dass wir unser Wissen insbesondere aus der Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit in den neuen Bundesländern Anfang der 90er Jahre in die europäische Diskussion einbringen und fragen müssen: Was hat gewirkt, was hat nicht gewirkt? Deshalb überlege ich gerade mit Ursula von der Leyen, ob wir für Europa noch einmal etwas machen können, bei dem wir unseren Erfahrungsschatz weitergeben. Wir wissen zum Beispiel: Lohnkostenzuschüsse sind gut. Wir wissen: Andere Instrumente sind nicht so gut, schon gar nicht für junge Leute. Dieses Wissen sollten wir tatsächlich weitergeben. Denn mit dem jetzigen Stand dürfen wir uns in Europa nicht abfinden.
EZB-Präsident Mario Draghi hat gesagt: Es ist sehr wichtig, dass man ein einheitliches Arbeitsrecht hat kein gespaltenes Arbeitsrecht, das den Älteren sehr viel mehr Rechte gibt und die Flexibilität des Arbeitsrechts nur bei den Jüngeren ansiedelt. Das führt nämlich dazu, dass immer dann, wenn eine wirtschaftliche Flaute ist, erst einmal die Jungen entlassen werden und die Älteren im Job bleiben. Nun sage ich nicht, dass erst die Älteren entlassen werden sollen. Am liebsten soll überhaupt niemand entlassen werden nicht dass nachher wieder berichtet wird, was Frau Merkel hier alles gesagt habe.
Wenn aber die Jugendarbeitslosigkeit etwa doppelt so hoch ist wie die Gesamtarbeitslosigkeit, wenn man über 50 Prozent junge Arbeitslose und vielleicht 22 Prozent Gesamtarbeitslosigkeit hat, dann ist doch etwas nicht in Ordnung. Dann, so muss ich ganz ehrlich sagen, muss man sich doch überlegen auch wenn ich damit nicht nur auf Zuspruch stoße, ob es nicht besser ist, für ein paar Jahre eine Vorruhestandsregelung für die Älteren zu schaffen, so wie wir es ja auch in Deutschland hatten, und im Gegenzug eine Verpflichtung der Unternehmen zu erwirken, junge Leute einzustellen, anstatt Geld auszugeben, um für die Jungen Arbeitsplätze staatlich zu finanzieren, aber keinen Kontakt zu Betrieben herzustellen. Das sind Fragen, über die wir jetzt in Europa sprechen müssen. Wir sollten weniger darüber sprechen, wie viel Geld wir haben, sondern wir müssen vor allem darüber sprechen, wie wir sechs Milliarden Euro so ausgeben, dass wirklich etwas dabei herauskommt.
Das A und O des "Fit für die Zukunft" ist die Durchlässigkeit zwischen beruflicher und akademischer Ausbildung. Ich war neulich beim besagten Unternehmen zu Besuch und habe mir angeschaut, was es eigentlich heute schon an praktischen Möglichkeiten gibt. Das ist schon erstaunlich. Sie können heute Berufe lernen und betriebsnahe Studiengänge belegen, wobei Sie zur Hälfte studieren und die andere Hälfte der Zeit im Betrieb sind. Sie können heute Fernstudien absolvieren, Abendstudien usw. Wir müssen uns in den nächsten Jahren mit dem Problem auseinandersetzen das wird in den nächsten Jahren zunehmen: Wie unterstützen wir Unternehmen, die in diese Art und Weise der Fortbildung investieren?
Das Unternehmen, das ich besucht hatte, hat allen die Studiengänge bezahlt. Egal, ob sie halb im Unternehmen, nach der Ausbildung oder abends studiert haben das Unternehmen hat das übernommen. Denn dort wird gesagt: Wir haben uns um unsere Fachkräfte zu kümmern; wir glauben, wenn wir in unsere jungen Leute investieren, dann werden wir sie auch lange behalten und sie werden uns nicht einfach zum Nächsten weglaufen.
Genauso wird es auch mit dem Thema "Vereinbarkeit von Beruf und Familie" sein. Ich nenne hierzu das Stichwort "angepasste Arbeitszeiten". Das alles wird sicherlich gerade in kleinen Unternehmen eine Rolle spielen, die sich oft mehr strecken müssen, um ihren Fachkräftebedarf decken zu können. Ich sage Ihnen voraus: Wir werden, was wir ja eigentlich auch wollen, immer wenige starre Modelle haben, bei denen zum Beispiel die Frau halbtags und der Mann ganztags arbeitet. In der Familienphase wird es immer mehr Wünsche dahingehend geben, dass zum Beispiel beide 30 Stunden arbeiten wollen. Das alles können wir nicht gesetzlich mit Ansprüchen regeln. Aber ich bin jedem Mittelständler dankbar, der für solche Erwartungen offen ist.
Also: Eine gute Verzahnung von dualer Ausbildung mit Studiengängen ist ganz wichtig; und auch die Vielfalt der Arbeitszeitmodelle sollte man durchaus nutzen.
Wir werden auch immer mehr modulartige Fortbildungen bekommen, gerade mit Blick auf IT-Fähigkeiten, die gefordert werden. Denn uns steht ich will hier jetzt keine Superlative verwenden mit der "Industrie 4.0" noch ein wahnsinniger Wechsel in den Erwartungen an die Facharbeiter ins Haus. Irgendjemand hat in diesem Zusammenhang gesagt: Alles, was zu digitalisieren ist, wird digitalisiert werden. VW zum Beispiel digitalisiert im Augenblick die gesamte Fertigungsstätte in Wolfsburg. Das heißt, es wird alles erfasst, um anschließend die Fabrik, die real existiert, noch einmal virtuell auf die Leinwand zu bringen. In dieser virtuellen Fabrik geht es dann darum, Betriebsabläufe vorzuspielen, sie sozusagen vorzusimulieren, um nicht alles erst in der Realität ausprobieren zu müssen und die Fließbänder usw. umbauen zu müssen. Man möchte also vorab die ganze Erfahrung haben und von der virtuellen Fabrik wissen: Wie kann ich neue Vorhaben am vernünftigsten in die reale Fabrik übertragen?
Das heißt, der Bildungsgrad, der Flexibilitätsgrad, die Frage, was die Menschen in den Fabriken machen, wird sich noch einmal massiv ändern sehr viel mehr noch, als wir das vom Einsatz von Robotern kennen. Ich habe mir auf der Hannover Messe Roboter angesehen. Sie arbeiten nicht mehr so abgehackt, wie kein Mensch sich bewegen würde, sondern sie bewegen sich, wie Menschen sich bewegen. Vor allen Dingen wird man mit Hilfe der Bionik, also des Nachlernens aus der Natur, höchsteffiziente Arbeitsgänge erzielen.
Alles wird zunächst optimiert; und dann wird überhaupt erst die Maschine gebaut. Das alles wird dann natürlich auch dazu führen, dass die Menschen ganz andere Produkte bestellen werden. Denn die Massenfertigung wird immer mehr in eine individualisierte Fertigung übergehen. Wenn Sie dreimal bei einer Firma etwas bestellt haben, dann kennt sie schon Ihre Vorlieben. Wehe, Sie wechseln dann Ihren Geschmack. Dann bekommen Sie Komplikationen. In Zukunft werden sie Ihnen Ihr Auto fast schon fertigen können, ohne dass Sie es bestellt haben.
Das alles wird dauern. Das wird zehn, fünfzehn, zwanzig Jahre dauern. Nur, wir müssen wissen: Wir kommen aus dem Zeitalter der Massenfertigung hinaus in ein Zeitalter, in dem es mit allen Vor- und Nachteilen um stark individualisierte Fragen geht: Was muss ich überhaupt noch besitzen und was kann ich mir leihen? Was kann ich mir wo bestellen? Da wird sich vieles ändern. Deshalb sage ich auch: Wir müssen versuchen, jeden, so gut es geht, zu bilden und auszubilden.
Aber ich sage auch: Der Herrgott hat uns unterschiedlich geschaffen. Ich habe mich neulich mit Bischof Overbeck aus dem Ruhrgebiet unterhalten, der mir sagte das fand ich sehr interessant: Heute ist für viele, die Arbeit haben, der Arbeitsablauf noch das Geregeltste in ihrem Leben; vielmehr stellt sich die Frage, wie ich eigentlich meine Freizeit gestalte. Früher konnte man, wenn man zur katholischen Gemeinde gehörte, zwischen zwei oder drei Angeboten wählen; und ansonsten gab es oft feste Abläufe beispielsweise bei der Feriengestaltung von Vätern, Müttern und Kindern. Heute kann der Mensch aus viel mehr Alternativen wählen, in Zukunft auch in seinem Arbeitsleben. Dabei müssen wir aufpassen, dass wir manch einen nicht überfordern. Das heißt, wir müssen uns auch mit der Frage beschäftigen: Wie können denn Menschen, die gute Dienstleister sind, die anderen Menschen vielleicht gern helfen, in unserer Gesellschaft noch einen Platz haben? Sie dürfen nicht ausgegrenzt werden, weil sie keine solche IT-Spezialisten sind, wie anscheinend alle sein müssten. Da wird sich in Zukunft eine große Aufgabe auftun.
Wir haben weiterhin mit dem Thema "Vereinbarkeit von Beruf und Familie" zu tun. Damit habe ich mich heute schon den ganzen Tag ein bisschen befasst, was zumindest die Frauenquote in Aufsichtsräten anbelangt. Aber das Thema ist ja viel umfassender. Der Grundsatz "gleicher Lohn für gleiche Arbeit" ist ganz wichtig. Wie aber schaffe ich gleichen Lohn zum Beispiel bei einem Altenpfleger und einem Facharbeiter in der Automobilindustrie beide mit gleichermaßen hochqualifizierten Tätigkeiten? Solche Fragen werden uns auch beschäftigen.
Und dann geht es darum: Wie kann ich die Vereinbarkeit von Beruf und Familie so gestalten, dass wie Erwin Teufel immer gesagt hat nicht nur eine Ökonomisierung des Familienlebens stattfindet? Es geht ja auch darum, dass wir vom Kind und der Familie aus denken. Es kann ja nicht immer nur darum gehen, wie ich möglichst eine 24-Stunden-Rundumbetreuung für die Kinder schaffe, ohne zu fragen, ob das eigentlich für die Familie so in Ordnung ist. Das heißt, je flexibler Unternehmen die Arbeitszeit regeln können, umso besser wird das sein.
Es gibt zum Beispiel Pflegezeiten. Es gibt anderes. Da wird dann immer nach einem halben Jahr oder nach einem Jahr gesagt: Na ja, es haben erst 60 oder 100 Leute davon Gebrauch gemacht. Viele Modelle werden sich aber erst einspielen müssen. Man muss darüber immer wieder informieren. Man muss den Menschen sagen, welche Möglichkeiten sie haben. Und dann werden sie diese auch langsam nutzen.
Wir wollen Folgendes erreichen: Es gibt viele Frauen, die Teilzeit arbeiten wollen, aber sie sollen sozusagen nicht in der Teilzeit gefangen sein. Wenn sich die Kinder entwickelt haben und älter geworden sind, dann muss es die Möglichkeit geben, die Tätigkeit auszuweiten.
Außerdem müssen wir davon bin ich zu 100 Prozent überzeugt unsere Karriereabläufe verändern. Wenn der Mensch im Durchschnitt älter wird, wenn der 60-Jährige von heute eher mit dem 50-Jährigen von gestern zu vergleichen ist, dann dürfen wir nicht sagen: Für den, der mit 40 Jahren noch nicht am Endpunkt seiner Karriere angelangt ist, oder für den, der vielleicht erst mit 38 Jahren nach seinen Erziehungsjahren wieder zurückkommt, ist die Karriere vorbei. Es zeigt sich auch, dass der knappe Schwung der Routine und die Improvisationsfähigkeit aus den Erziehungszeiten vielleicht ganz gute Begleiter sind, wenn man eine Führungsaufgabe und eine Aufgabe innehat, die mit Menschen zu tun hat. Das heißt, auch daran kann man sehr viel variabler und entspannter herangehen.
Ich glaube, wir Deutschen sind an solchen Stellen manchmal sehr präzise, wenn es darum geht, dass wir unser Leben in Schubladen einteilen: Hier ist die Arbeitswelt; und hier ist die Freizeitwelt. Manchmal könnte es menschlicher sein, wenn wir auch etwas mehr darauf achten, wie wir die Zeiteinteilungen an die Bedürfnisse der Menschen anpassen können. Ich glaube, die gute Nachricht des demografischen Wandels und des drohenden Mangels an Fachkräften ist, dass sich die Unternehmen mehr in die Situation der Familien hineinversetzen müssen und dies in Zukunft auch noch mehr tun werden.
Wir haben nach wie vor knapp drei Millionen Arbeitslose. Deshalb sage ich: Ja, wir brauchen sicherlich in bestimmten Bereichen eine Fachkräftezuwanderung. Aber wir haben auch die Pflicht und Schuldigkeit, uns erst einmal um die Arbeitslosen im eigenen Land zu kümmern. Es darf auf gar keinen Fall sein, dass wir eine Art Lohndumping machen, indem wir billige Arbeitskräfte aus anderen Ländern zu uns holen, womit wir Berufseinsteigern bei uns das Leben schwer machen würden, nur um dann anschließend Klage darüber zu führen, dass unsere Ärzte irgendwo ins Ausland gehen.
Dennoch ist es wichtig, dass wir bezüglich der Akzeptanz von Fachkräften als Land auch freundlicher werden oder einen freundlicheren Ruf bekommen. Dabei hat die Blue Card schon geholfen. Wenn man zum Beispiel hier in Berlin zu Start-up-Unternehmen im IT-Bereich geht, dann bekommt man dort gesagt: Wir hätten sonst viele Leute gar nicht bekommen. Ich kann nur immer wieder wiederholen: Nicht jeder muss IT-fähig sein oder Ingenieur, Programmierer oder Ähnliches werden, aber die Berufschancen in dieser Branche sind zurzeit wahnsinnig gut. Ich kann nur jedem Mädchen an jedem Girls ' Day immer wieder sagen: Wer auch nur ein bisschen Lust verspürt, etwas in dieser Branche zu tun, dem bietet sich auf Jahre hinaus wirklich ein exzellentes Betätigungsfeld. Ich habe von den vielen jungen Arbeitslosen in Europa gesprochen; wenn es innerhalb der EU irgendwo einen Fachkräftebedarf gibt, dann ist das eigentlich in allen Ländern im gesamten IT-Bereich der Fall.
Wir müssen uns auch fragen: Wovon wollen wir denn in Zukunft leben? Klar, vom Automobilbau. Aber wir müssen damit rechnen, dass auch die Chinesen das Schritt für Schritt besser lernen werden. Ja, klar, von der Chemie, von BASF. Aber dann müssen wir auch immer innovativ und vorne mit dabei sein. Das heißt, Investitionen in Forschung und Entwicklung sind entscheidend dafür, dass wir bestimmte Tätigkeiten bei uns behalten können. Ich will an dieser Stelle nur sagen: Trotz aller Sparauflagen und trotz aller Schwierigkeiten, die wir hatten, haben wir in dieser Legislaturperiode mehr als 13 Milliarden Euro in Bildung und Forschung zusätzlich investiert. Das ist eine gute Investition, auch weil jetzt Wissenschaftler aus den USA und anderen Ländern zu uns kommen und sagen: Hier haben wir berechenbare Rahmenbedingungen. Ich kann in Richtung der SPD nur sagen: Anstatt Steuern zu erhöhen, sollte man lieber verlässliche Rahmenbedingungen für den Mittelstand und verlässliche Rahmenbedingungen für die Forschung schaffen. Das ist echte Zukunftsarbeit.
Wir haben im Übrigen, seitdem ich Bundeskanzlerin bin, also seit 2005, eine Erhöhung der Erwerbstätigkeit der Frauen von 61 Prozent auf über 70 Prozent zu verzeichnen. Das heißt, wir kommen hierbei voran. Man kann sagen, das hat noch mit viel Teilzeit zu tun, aber hier tut sich etwas.
Wir müssen vor allen Dingen darauf achten, dass wir bei Migrantinnen und Migranten das gleiche Bildungsniveau wie bei denen erreichen, die ihre Wurzeln schon seit vielen Generationen in Deutschland haben. Wir werden in Deutschland nicht nur weniger und im Durchschnitt nicht nur älter, sondern wir werden auch vielfältiger. In vielen Industriestädten haben heute 50 Prozent der eingeschulten Schüler einen Migrationshintergrund. Da hat sich schon etwas verändert. Wenn junge Migrantinnen und Migranten bei der Bildungsarbeit keinen Anschluss bekommen, dann hat das weitreichende Konsequenzen. Daher ist es gut, dass es die Union war, die in den Ländern darauf Wert gelegt hat, dass es Sprachprüfungen gibt, bevor man in die Schule kommt, dass diese Sprachstandsprüfungen heute überall verpflichtend sind und dass es in den Schulen auch viel Sprachförderung gibt. Wir können diesbezüglich auch in den Statistiken einen klaren Weg nach oben sehen.
Bei der Bildung ist eines unserer ganz großen Probleme beziehungsweise kein Problem, sondern eine Gegebenheit, dass die Zuständigkeiten dauernd wechseln: Bei der Berufsordnung ist es manchmal der Bund, bei der Lehreranerkennung sind es wieder die Länder, bei der Bundesagentur für Arbeit ist es der Bund, bei der Facharbeiterausbildung ist es die IHK vor Ort, bei den Schulen sind es die Länder, bei den Kindergärten sind es oft die Kreise oder Kommunen, die zuständig sind. Die Menschen interessiert das natürlich null; nein, im Gegenteil: man kann sie damit richtig auf die Barrikaden bringen.
Das heißt, es gibt eine dienende Pflicht der verschiedenen Verantwortlichen in Deutschland, sich am Menschen auszurichten. Was können die Eltern dafür, wenn in vielen Fällen zwischen Kindergarten und Grundschule überhaupt kein Kontakt besteht? Warum ist da kein Kontakt? Weil die Erzieherinnen eine ganz andere Ausbildung haben als die Lehrerinnen. Das heißt, man hat naturgemäß keinen Kontakt, weil verschiedene Ämter zuständig sind.
Nun gibt es eine Vielzahl von Modellprojekten in Deutschland, in denen gesagt wird: Jetzt machen wir doch mal mit beiden Gruppen gemeinsam eine Qualifizierung dann lernen sie sich kennen und entwickeln mehr Interesse füreinander. Es ist natürlich schön für das Kind, wenn es nicht nur hört: Pass mal auf, mit dem ersten Schultag beginnt der Ernst des Lebens. Denn dann sagt das Kind: Oje, was ist denn jetzt passiert bis jetzt hat das Leben eigentlich Spaß gemacht. Insofern ist es besser, wenn es irgendwie eine Verbindung zwischen Kindergarten und Schule gibt. Das ist an vielen Stellen durch die Vorschule auch schon gegeben, insofern übertreibe ich jetzt ein bisschen.
Dann ist das Kind also in der Schule und hat sich daran gewöhnt, dass das Land zuständig ist. Und danach kommt es aus der Schule und kommt entweder in eine Berufsausbildung dann ist alles okay oder es kommt vielleicht zur Bundesagentur für Arbeit, die sich dann plötzlich zu kümmern hat. Diesbezüglich haben wir im Qualifizierungsgipfel mit den Ländern Einigkeit darin erreicht, dass Berufsberatung in den Schulen stattfinden darf und auch stattfinden muss. In den Mittelschulen, in den Realschulen und in den Hauptschulen, ist das doch ganz wichtig, weil die Kinder nur so die Vielfalt der Berufsbilder überhaupt besser kennenlernen. Ansonsten kennen sie ja nur das, was sie in ihrem eigenen Familienleben schon einmal gesehen haben. Und wenn dabei bestimmte Berufe nicht vorgekommen sind, bekommen sie von diesen Berufen natürlich auch gar nichts mit.
Insofern ist es extrem wichtig, dass wir lernen, vom Menschen aus zu denken; und jeder Mensch ist für unsere Gesellschaft ein Schatz erst recht angesichts des demografischen Wandels.
Im Übrigen habe ich auf meinem schönen Betriebsbesuch, von dem ich schon so viel erzählt habe, noch etwas anderes Interessantes gesehen: Die IHKs in Baden-Württemberg haben zum Teil Ausbildungsbotschafter, die in die Schule gehen das sind selber Auszubildende oder junge Leute, die kürzlich mit der Ausbildung fertig geworden sind. Diese können mit den jungen Leuten natürlich ganz anders diskutieren als jemand, der 20 Jahre älter ist, und können auch Fragen beantworten, die gestellt werden, weil die Hemmschwellen geringer sind. Ich finde, das ist eine sehr interessante Sache.
Was die Hochschulbildung anbelangt, so haben wir gerade wieder unseren Hochschulpakt und auch den Qualitätspakt Lehre erneuert: Bis 2015 sehr enge Kooperation mit den Ländern und 4,4 Milliarden Euro mehr. Das ist natürlich sehr, sehr gut.
Der große Bereich, mit dem wir uns weiter beschäftigen werden ich habe es schon ein bisschen angedeutet und der in den nächsten Jahren noch an Bedeutung gewinnen wird, ist das lebenslange Lernen im Unternehmen. Hierzu haben wir zum Teil Tarifverträge, was sehr verdienstvoll ist. Ich glaube, die IG BCE war die erste Gewerkschaft, die das konsequent mit eingebaut hat. In vielen großen Unternehmen geschehen diesbezüglich zum Teil extrem gute Dinge. Das ist auch nachvollziehbar. Denn wer möchte, dass die Menschen länger arbeiten, der wird auch dafür Sorge tragen müssen, dass sie sich länger bilden können. Hierbei sind allerdings die Verantwortlichkeiten des Staates, die Frage der privaten Initiative und die Frage der betrieblichen Initiative aber noch nicht gut genug geklärt; vielmehr lebt das Gelingen im Allgemeinen vom Einzelfall. Darüber muss man sicherlich noch sprechen.
Am 14. Mai findet unser zweiter Demografiegipfel statt, auf dem wir viele Punkte, die Sie hier heute interessiert haben, auch mit Ländern und Kommunen besprechen wollen. Natürlich ist die Frage der Fachkräfteverfügbarkeit nur ein Thema unter vielen. Es geht dabei auch um die Stichworte "länger arbeiten","länger lernen" und "lebenslang lernen". Ein anderes Thema ist: Wie kann ich die Lebensqualität im ländlichen Bereich aufrechterhalten? Dass wir eine Antwort auf diese Frage finden, ist sehr wichtig, damit wir nicht eine völlige Entsiedlung des ländlichen Bereichs erleben. Ein anderes Thema ist: Wie bekommt der Staat seinen Arbeitskräftenachwuchs? Diese Frage stellt sich auch deshalb, weil staatliche Einrichtungen nicht zu den am besten zahlenden Institutionen gehören. Das heißt, auch da wird noch viel zu tun sein.
Deshalb: Danke dafür, dass Sie uns hier mit Ihrem Kongress Anregungen gegeben haben. Ich werde mir auch noch einmal zuarbeiten lassen, was hier als Ergebnis aufgetaucht ist. Danke für Ihre Teilnahme.
Ich glaube, wir müssen sehen: Den demografischen Wandel und auch den Wandel, der durch die Globalisierung und durch neue Technologien hervorgerufen wird, kann man ja kaum greifen. Er kommt ja nicht wie das Umschlagen von Regenwetter auf Sonnenwetter, sondern vollzieht sich in Prozessen. Langsam, aber beständig ändert sich jedes Jahr etwas. Unsere Diskussionen sind dagegen oft sehr punktuell heute geht es um IT-Ingenieurs-Mangel, morgen geht es um Vorruhestand und übermorgen geht es um Kleinkindbetreuung. Dabei müssen wir sehen: Wir sind eine Gesellschaft; und was wir heute für die Kleinen tun, wirkt sich erst in 20 Jahren für Facharbeiter und in 30 Jahren für Führungspersönlichkeiten aus. Was wir heute für den 30-Jährigen machen, das entscheidet vielleicht darüber, ob er mit 65 und 66 noch arbeitsfähig ist. Das heißt, wir müssen uns egal, wer wo welche Verantwortung hat als eine Gesellschaft verstehen, in der wir es immer mit Veränderungen zu tun haben. Immer, wenn wir glauben, dass wir gerade mit einem Thema fertig sind, geht es weiter. Aber das ist ja zu Hause in der Familie auch so: Immer, wenn Sie denken, Sie haben aufgeräumt und aufgewischt, geht die Arbeit ja gleich wieder von vorne los. Insofern geht es darum, dass wir Veränderungsprozesse nie aus den Augen verlieren, sondern uns immer wieder überlegen: Wie werden wir fit für die Zukunft?
Wir sind in Deutschland rund 80 Millionen Menschen Tendenz abnehmend. Neulich war aus Anlass der deutsch-indischen Regierungskonsultationen der indische Premierminister bei mir zu Besuch. Indien hat 1,2 Milliarden Menschen. Das Durchschnittsalter in Indien ist fast 20 Jahre niedriger als in Deutschland. Alle wollen mehr Wohlstand, alle arbeiten daran. Ich glaube, wir können es schaffen, mitzuhalten, aber wir dürfen nicht einfach hocken bleiben, sondern wir müssen neugierig in die Zukunft schauen.
Herzlichen Dank.