Redner(in): Gerhard Schröder
Datum: 18.12.2000
Anrede: Lieber Ludwig Stiegler, verehrte Abgeordnete des Bundestages,
Quelle (evtl. nicht mehr verfügbar): http://archiv.bundesregierung.de/bpaexport/rede/31/26831/multi.htm
des Landtages, Oberbürgermeister, Landräte, verehrte Anwesende!
Herzlichen Dank dafür, dass so viele gekommen sind. Ich sehe das als Ausdruck der Betroffenheit, aber auch der Verbundenheit mit der Region. Wenn ich das sage, gilt das ganz unabhängig von der Frage, wo man sich parteipolitisch gerade verortet. Ich denke, wir haben ein gemeinsames Interesse daran, festzustellen, was die Funktion, die Bedeutung dieser so schönen und wichtigen Region in einem zusammenwachsenden Europa sein soll.
Wenn wir darüber hinaus in der Diskussion noch auf die eine oder andere Frage kommen, soll mir das recht sein. Ich will Ihnen Rede und Antwort stehen, so gut ich das kann.
Heute vor einer Woche - Sie wissen es - haben wir nach langen und wirklich zähen Verhandlungen, die wir in Südfrankreich, in Nizza, geführt haben, den Europäischen Gipfel abgeschlossen. Er dauerte länger als jeder zuvor, aber nicht, weil es uns da unten so gut gefallen hat, sondern weil es eine schwierige Verhandlungsrunde war, jedenfalls die schwierigste, die ich erlebt habe. Wir haben mit den Beschlüssen von Nizza das Tor für die Osterweiterung Europas aufgestoßen. Ich kann also noch unter dem Eindruck der Verhandlungen dort mit Ihnen hier in der Oberpfalz über die Bedeutung der Beschlüsse und über das, was sie zur Folge haben werden, reden und diskutieren. Ich denke, dass das hier besonders angemessen ist, weil diese Region, nicht zuletzt die Oberpfalz, die Teilung Europas, allemal auch die Teilung Deutschlands, so schmerzhaft erfahren hat und auch jetzt wieder besonders berührt ist, wenn nicht nur in Deutschland, sondern in ganz Europa zusammenwächst, was zusammengehört, wie Willy Brandt einmal gesagt hat. Ich bin auch sicher, dass diese Region von der neuen Einigung Europas weit mehr, als man vielleicht jetzt noch annimmt, und weit mehr als andere profitieren kann, wenn wir das zusammen richtig anfangen.
Ich habe heute mit Vertretern des Handwerks reden können. Da habe ich - ich sage das mit großem Interesse, aber auch mit Bewunderung - spüren können, wie sehr man bereit ist, im Handwerk, aber - ich bin dessen sicher - auch in den kleinen und mittleren Betrieben die Chancen, die sich damit verbinden, zu nutzen und die Belastungen, die es natürlich auch geben wird, zu minimieren. Genau darum geht es. Wie können wir, nicht nur in dieser Region, wie können wir Deutsche überhaupt die Überwindung der Teilung Europas nicht nur politisch, sondern auch wirtschaftlich für die Menschen optimal nutzen? Das ist der entscheidende Punkt. Der Erweiterungsprozess - das ist klar - geht nun in seine entscheidende Phase. Das betrifft Sie hier in der Oberpfalz. Das ist der Grund, warum ich auch gerne diskutiere. Denn mich interessiert Ihre Sicht der Dinge für meine Entscheidung - und für die Entscheidungen, die noch kommen werden, erst recht.
Eines will ich auch sagen: Wenn man hier ist, wenn man mit Abgeordneten redet, dann merkt man auch, dass sich viele Sorgen wegen der Erweiterung machen, Handwerksmeister ebenso wie Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer - Sorgen, auf die die Bundesregierung reagieren wird. Ich werde auch klarmachen, in welcher Weise wir das zu tun gedenken.
Ich habe mich in Nizza für europäische Sondermaßnahmen in den Grenzregionen eingesetzt, also auch in dieser Region. Zusammen mit meinem österreichischen Kollegen haben wir deutlich gemacht, dass eine sich erweiternde Europäische Union besondere, auch materielle Verantwortung für die Grenzregionen übernehmen muss. Sie brauchen eine entsprechende Förderung. Ich bin froh darüber, dass die anderen Kollegen, die diese Probleme nicht so unmittelbar haben, das verstanden und entsprechend mit beschlossen haben.
Die Bundesregierung wird also dafür sorgen, dass europäische, aber auch - das ist wichtig - nationale Maßnahmen der Wirtschafts- , Arbeitsmarkt- und Strukturpolitik eng ineinander greifen. Das ist unsere Aufgabe. Die wollen wir mit Ihnen zusammen lösen. Wenn das Handwerk hier zum Beispiel 28 grenznahe Regionen zusammenbringt und einen gemeinsamen Forderungskatalog erarbeitet, dann ist das gut und richtig so. Wir werden vielleicht nicht alle Forderungen erfüllen können. Aber wir haben vereinbart: Lasst uns über die Chancen, die das bietet, was wir gemeinsam vor uns haben, reden. Lasst uns gemeinsam Aufklärung betreiben. Ich bin froh darüber, dass dem zugestimmt worden ist. Der Europäische Rat in Nizza hat wirklich Weichen gestellt, auch wenn ich mir in manchen Punkten noch weitergehende Beschlüsse gewünscht hätte.
Nizza - das muss man sehen - ebnet den Weg für die endgültige Überwindung der Teilung Europas. Wir haben sichergestellt, dass die neue Europäische Union mit 20 und mehr Mitgliedern handlungsfähig bleibt, aber dass auch ihre demokratische Legitimation gestärkt wird. Wir haben in Nizza die Voraussetzungen dafür geschaffen, dass die Union ab dem 1. Januar 2003 aufnahmefähig ist. Aber wir haben auch klar gesagt, dass es jetzt an den Beitrittskandidaten selbst liegt, wann sie Mitglied der Europäischen Union werden können.
Die politische Frage ist entschieden. Künftig geht es mehr und mehr um wirtschaftliche Fragen. Voraussetzung für den Beitritt ist nämlich, dass ein Beitrittsland die "Spielregeln" der Europäischen Union beherrscht, das heißt, ihren gemeinschaftlichen Besitzstand übernommen und zu Hause auch umgesetzt hat, wie wir das auch haben tun müssen. Hierzu gehören vor allen Dingen: eine stabile Demokratie, die volle Wahrung der Menschenrechte, die Fähigkeit zur Anwendung des europäischen Rechtes und, ganz wesentlich, eine wirklich konkurrenzfähige Marktwirtschaft. Das alles sind Voraussetzungen, wenn man der Europäischen Union beitreten will. An diesen Kriterien als Voraussetzung wird auch nicht gerüttelt werden. Ich bin überzeugt: Je früher wir die mittel- und osteuropäischen Reformstaaten in die Europäische Union aufnehmen können, weil sie mit ihrem Reformprozess weit genug sind, desto besser für uns, einmal politisch, aber wenn wir es richtig anfangen - und wir werden es richtig anfangen - auch wirtschaftlich. Dass Europa an der deutsch-tschechischen und an der deutsch-polnischen Grenze nicht aufhört, das muss man hier nicht erklären, nicht den Bürgerinnen und Bürgern der Oberpfalz. Die Gemeinsamkeiten sind auch nicht auf die Regionen diesseits und jenseits der Grenzen beschränkt. Auch das, denke ich, muss man sagen. Prag und Preßburg, Budapest und Warschau oder auch Laibach sind immer europäische Städte gewesen. Von alters her haben wir gemeinsame Wurzeln und engste kulturelle Beziehungen.
Vor einem halben Jahrhundert war das zentrale Motiv für die Gründung der Europäischen Gemeinschaft die Sicherung des Friedens zwischen den westeuropäischen Nationalstaaten. Das ist mir wichtig: Die Osterweiterung, vor der wir jetzt stehen, ist der Weg, um Frieden, Stabilität, aber auch Wohlstand im 21. Jahrhundert für ganz Europa - nicht mehr nur für Westeuropa - zu sichern. Eines ist doch klar: Die Konflikte in Jugoslawien haben allen vor Augen geführt, wie instabil Frieden und Wohlstand sind, wenn nur ein Teil Europas in Frieden und Wohlstand leben kann und der andere Teil nicht. Das schafft politische und damit auch wirtschaftliche Instabilitäten, die wir wirklich nicht brauchen können. Deshalb ist es geboten, in Europa zusammenzubringen, was immer schon zusammengehört hat.
Die Erweiterung ist eine große wirtschaftliche Chance für alle Staaten in Europa, aber für die Deutschen zumal. Sie schafft einen einheitlichen Binnenmarkt von nahezu einer halben Milliarde Menschen. Damit schafft diese Vereinigung Europas Wohlstandsgewinne für uns alle. Die Übernahme des Regelwerks der Union schafft europaweit gleiche Spielregeln, gleiche Investitionsschutzbedingungen, gleiche Wettbewerbsregeln und ein öffentliches Auftragswesen zu gleichen Bedingungen. Politische Stabilität und verbesserte Rahmenbedingungen schaffen die Voraussetzungen für Wachstum und damit für Arbeitsplätze. Alle Prognosen gehen allein für Deutschland von einem zusätzlichen Wachstum des Bruttoinlandsprodukts, also der Waren und der Dienstleistungen, die wir hier herstellen, von bis zu einem Prozent aus. Das können wir verdammt gut brauchen, weil das unmittelbare Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt haben wird.
Hinzu kommt, dass bereits in den letzten Jahren der Handel Deutschlands mit seinen mittel- und osteuropäischen Partnern um jährlich sage und schreibe 17 Prozent gestiegen ist. 1999 war der deutsche Osthandel mit einem Anteil von fast zehn Prozent am gesamten Warenaustausch sogar ein bisschen höher als unser gesamter Austausch mit den USA. Man muss sich das klarmachen: Die ost- und mitteleuropäischen Länder haben, was unseren so wichtigen Exportanteil angeht, mehr zu unserem Exportvolumen beigetragen als der Handel mit den USA. Wem das nicht klar ist, der macht sich auch nicht klar, welche Chancen darin liegen und welche Verluste es für unsere gesamte Volkswirtschaft bedeuten würde, wenn wir dort Einbrüche erlebten. Wir haben ein eigenes nationales Interesse an der Erweiterung - wirtschaftlich und politisch allemal. Europa und Deutschland - daran kann kein Zweifel bestehen - werden durch die Osterweiterung wirtschaftlich gewinnen, politisch wie ökonomisch.
Natürlich weiß ich, dass es gerade hier in der Oberpfalz - übrigens in anderen Grenzgebieten ganz genauso - auch Sorgen und Unsicherheiten aufgrund der bevorstehenden Erweiterung gibt: Sorgen vor zunehmender Billigkonkurrenz zum Beispiel, Sorgen vor einem Zustrom an Arbeitskräften, auch von Pendlern, Sorgen vor Lohn- , Sozial- und Umweltdumping. Wir sollten uns da gar nichts vormachen. Auf die Grenzregionen kommen Anpassungsprozesse zu. Das ist unausweichlich. Zwischen den bisherigen und den zukünftigen EU-Mitgliedern besteht - Sie wissen es - ein großes Wohlstands- und damit auch Lohngefälle. Dieses Gefälle wird Migrations- und Anpassungsdruck erzeugen. Es wird zu mehr Wettbewerb und zu mehr Konkurrenz führen. Trotz der insgesamt zu erwartenden Wohlstandsgewinne werden einzelne Branchen und strukturschwache Regionen vor neuen Herausforderungen stehen.
Das muss Politik leisten: Wir müssen miteinander alles daransetzen, die Chancen zu erweitern und die möglichen Risiken zu verringern. Aber wir tun dies vor dem Hintergrund, dass wir die Chancen der Osterweiterung nicht zuletzt für die Grenzregionen in vollem Umfang gemeinsam nutzen wollen. Bisher hatten die Grenzregionen Nachteile in der Verkehrsinfrastruktur, bei der Industrieansiedlung, auch beim Bildungsangebot. Das hatte mit ihrer geographischen Lage an einer instabilen Grenze allemal auch zu tun. Das ist mir wichtig: Jetzt rücken diese Grenzregionen, die Oberpfalz eingeschlossen, vom Rand des europäischen Binnenmarktes in seine Mitte. Jetzt wird auf beiden Seiten der Grenze natürlich auch Nachholbedarf deutlich. Je schneller sich die Märkte in den angrenzenden Gebieten Polens und der Tschechischen Republik entwickeln, umso mehr Nachfrage gibt es dort für Produkte auch aus deutschen Grenzregionen. Und je besser in den deutschen Grenzregionen verdient wird, umso mehr Nachfrage und Wachstumsimpulse gibt es für die Anbieter in den angrenzenden Regionen der Beitrittsstaaten. Ich denke, wir können eine Wohlstandsspirale in Gang setzen, von der wirklich alle nur profitieren können.
Um diese Entwicklungen zu fördern und zu nutzen, brauchen wir eine nachhaltige Regionalpolitik. Ich will hier sagen, dass ich glaube, dass die Oberpfalz auf einem gutem Wege ist, was das angeht. Neben der traditionellen Glas- und Porzellanindustrie haben sich mehr und mehr auch andere, sehr innovative Unternehmen angesiedelt, etwa aus der Elektrobranche oder im Maschinenbau - Betriebe, die sehr gut am Markt positioniert sind und deren Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter und deren Unternehmensleitungen man zu ihrer Arbeit nur beglückwünschen kann. Die Oberpfalz - das ist nicht nur beim Handwerk deutlich geworden, auch bei den Kammern - ist durch einen dynamischen Mittelstand geprägt. Sie ist damit ein gutes Beispiel für einen geglückten Strukturwandel.
Im Übrigen gibt es auch in den neuen Bereichen einiges. Wenn ich hier über die aufstrebende Biotech-Szene in und um Regensburg rede, dann merke ich, dass man hier die neuen Chancen erkannt hat, etwas daraus machen will und machen wird. Weiden nutzt seine neue "Mittellage", davon bin ich überzeugt. Übrigens tut sie das in alter Tradition, denn diese Stadt ist seit ihrer Gründung vor mehr als 750 Jahren immer wieder ein Drehkreuz für Wirtschaft und Handel gewesen. Ich glaube, das kann sie wieder werden, noch sehr viel mehr als je zuvor in den letzten 50 Jahren. Als eines der wichtigen Zentren in Ostbayern kann es an diese historische Rolle anknüpfen und eine Schlüsselfunktion bei der Erschließung der osteuropäischen Märkte mit wahrnehmen.
Aber bei allem Optimismus ist mir klar, dass gerade die Regionen, die früher zum so genannten Zonenrandgebiet zählten, den unausweichlichen Anpassungsprozess nicht aus eigener Kraft - jedenfalls nicht immer aus eigener Kraft - schaffen können. Deswegen muss man die Sorgen ernst nehmen, die es hier gibt. Wo erforderlich, werden wir also im Strukturwandel gegenzusteuern haben, auch soziale Abfederung leisten müssen. Zusammen mit den Ländern steht dem Bund ein breites Spektrum strukturpolitischer Förderinstrumente zur Verfügung. Die wollen wir nutzen. Es gibt dies auch auf EU-Ebene. Ich habe darauf hingewiesen, dass wir das nutzen und verstärken wollen. Das war einer der Gründe, warum wir mit dem österreichischen Kollegen diese neue Aktion gestartet haben.
Am Donnerstag bin ich mit den Ministerpräsidenten - dem bayerischen eingeschlossen - zusammengetroffen. Wir sind uns einig: Die Mitgliedstaaten dürfen durch das europäische Beihilferecht nicht daran gehindert werden, mit eigenen Förderinstrumenten die Entwicklung ihrer Grenzregionen zu unterstützen. Das gehört zusammen: ein vernünftiges, auch materiell unterlegtes Programm der Förderung der Grenzregionen, aber auch die Chance, dass wir mit unseren regionalen und nationalen Förderinstrumenten, ohne dass dies als Beihilfe aus Brüssel begriffen wird, Strukturpolitik nicht nur bereden, sondern wirklich machen können. Dies beides gehört zusammen, und wir haben für beides zu sorgen.
Die Osterweiterung wird im nächsten Jahr Thema im Bündnis für Arbeit sein. Bundesregierung, Arbeitgeberverbände und Sozialpartner werden sich in engem Dialog mit ihren wirtschaftlichen und sozialen Auswirkungen befassen. Von ausschlaggebender Bedeutung für den Arbeitsmarkt und Strukturwandel ist aber, dass wir das Problem der Freizügigkeit von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern richtig anfassen und richtig lösen. Ich bin überzeugt davon, dass es hier die größten Sorgen gibt. Sorgen, die gerade ein sozialdemokratischer Bundeskanzler besonders ernst nimmt, weil er sich diesen Menschen auch persönlich verpflichtet fühlt.
Käme es im Zuge der Erweiterung zu sofortiger voller Arbeitnehmerfreizügigkeit, wären wir mit verstärktem Zuzug auch nach Deutschland konfrontiert. Das wäre für Teile unseres Arbeitsmarktes, insbesondere dort, wo die Arbeitslosigkeit hoch ist, nicht verkraftbar. Wir bekämpfen Arbeitslosigkeit entschieden und durchaus erfolgreich. Aber wir haben immer noch 3,8 Millionen Arbeitslose und haben deswegen bei allen politischen Entscheidungen an sie zu denken. Auf der anderen Seite gilt es genauso klar auszusprechen: Es werden in den nächsten Jahren immer mehr Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer aus dem Arbeitsmarkt ausscheiden. Nach dem Jahr 2010 wird diese demographisch bedingte Verringerung des Erwerbspersonenpotenzials bei uns wirklich spürbar werden. In einigen Branchen spürt man es übrigens jetzt schon, wie Sie wissen. Bei den jüngeren Jahrgängen wird das noch früher eintreten. Dann brauchen wir qualifizierte Menschen aus anderen Ländern. Was jetzt also Druck auf den Arbeitsmarkt ausübt und was der eine oder andere als Belastung empfindet, wird ab 2010 bittere Notwendigkeit für uns sein, wenn wir unseren Wohlstand beibehalten wollen. In diesen Zeiträumen müssen wir anfangen zu denken und dürfen nicht sagen: Es ist ja noch lange hin; vielleicht fällt uns bis dahin etwas ein. Nein, wir müssen jetzt über die Frage nachdenken, wie wir das Problem lösen werden.
Der Investitions- und Wachstumsschub, den Spanien und Portugal durch den Beitritt erhalten haben, führte dazu, dass die spanischen und portugiesischen Arbeitskräfte zu Hause dringender als im Ausland gebraucht wurden. Insoweit muss man sich zu große Ängste nicht machen. Gleichwohl: Die Probleme sind heute anders gelagert. Zum einen sind die Lohn- und Einkommensunterschiede gegenüber den ost- und mitteleuropäischen Beitrittsländern sehr viel höher als bei der Süderweiterung. Zum anderen ist die Situation auf den Arbeitsmärkten der osteuropäischen Kandidaten unterschiedlich. Man muss also hier differenzieren. Es liegt übrigens auch im Interesse der Beitrittskandidaten selbst zu differenzieren. Sie haben ein Interesse daran, dass es im Zuge der Erweiterung nicht zu einer massiven Abwanderung der qualifiziertesten Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer kommt. Auch das muss man im Kopf behalten.
Der Vergleich zwischen den Beitritten 1985 und heute zeigt: Wir brauchen Übergangsregeln mit mehr Flexibilität, und zwar einer Flexibilität zugunsten der alten Mitgliedstaaten, aber auch zugunsten der neuen Beitrittsstaaten. Damit kann auch der spezifischen Entwicklung, zum Beispiel der tschechischen Nachbarn, Rechnung getragen werden.
Was folgt daraus? Daraus folgt, dass ich für die Erweiterungsverhandlungen folgendes Fünf-Punkte-Programm zur Freizügigkeit von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern vorschlage:
Erstens. Eine angemessene Übergangsfrist mit einer Beschränkung der Arbeitnehmerfreizügigkeit für sieben Jahre, also vom gedachten ersten Beitritt 2003 bis zu dem von mir genannten Punkt 2010. Zweitens. Ein flexibles Modell, das die Verkürzung der Übergangsfrist für einzelne Beitrittsländer zulässt. Hierzu sind Pflichtüberprüfungen, also eine Art "Besichtigungstermine", nach fünf Jahren erforderlich.
Drittens. Auf Antrag könnte bei geeigneten Kandidaten, wenn die Voraussetzungen vorliegen, bereits vorher eine Aufhebung der Beschränkungen erfolgen.
Viertens. Bei allgemeinem und fachlichem Arbeitskräftemangel in den alten Mitgliedstaaten können diese gemäß nationalem Recht, das wir übrigens verbessern werden, bereits während der Übergangszeit kontrollierte Zugangsmöglichkeiten schaffen.
Fünftens. Parallel brauchen wir für die Dauer der Übergangsfrist eine Einschränkung der Dienstleistungsfreiheit in Teilbereichen, insbesondere in der Bauwirtschaft und im Handwerk. Ich sage "eine Einschränkung der Dienstleistungsfreiheit in Teilbereichen" und unterstreiche das ausdrücklich. Hiermit würde eine Umgehung der Freizügigkeitsbeschränkungen durch so genannte Scheinselbstständigkeit verhindert.
Meine Regierung wird alles in ihren Kräften Stehende tun, gemeinsam mit den EU-Mitgliedstaaten, den Beitrittskandidaten und dem zuständigen Kommissar Verheugen ein solches Konzept zu vereinbaren, umzusetzen und damit zu einem Erfolg für alle Beteiligten zu machen. Vernünftige Übergangsregelungen liegen genauso im Interesse der Mitgliedstaaten wie der Beitrittskandidaten. Sie verhindern soziale Spannungen und gewährleisten, dass die Kandidatenländer ihre dringend benötigten qualifizierten Fachleute nicht über Nacht verlieren.
In einigen Jahren werden wir in Deutschland wie in anderen bisherigen Mitgliedstaaten Freizügigkeit und Zuzug neuer qualifizierter Arbeitskräfte brauchen. Die skandinavischen Länder und Holland haben aufgrund ihrer demographischen Entwicklung bereits Interesse am Zuzug neuer Arbeitskräfte aus Mittel- und Osteuropa signalisiert. Das wird auch für Deutschland gelten - zu dem Termin, den ich genannt habe. Wir haben jetzt schon in einigen Sektoren und Regionen Engpässe. Deshalb hat die Bundesregierung die Greencard-Regelung eingeführt, die wir, wo immer das vernünftig ist, auf der Basis der Entscheidungen der Kommission, die diese Fragen zu untersuchen hat, auch ausweiten. Wir wollen da hilfreich sein, und wir können das auch.
Nicht nur im IT-Bereich, sondern auch in anderen Sektoren klagt die deutsche Wirtschaft über Fachkräftemangel. In unseren östlichen Nachbarländern gibt es qualifizierte Leute. Wir würden uns also zuerst selbst schaden, wenn wir dort, wo wir drängenden, von deutschen Arbeitskräften allein nicht zu befriedigenden Fachkräftebedarf haben, nicht kontrollierte Zugangsmöglichkeiten schaffen würden. Das kann man über Kontingente lösen, was wir bereits in einigen Punkten tun.
Das von mir skizzierte Übergangskonzept zur Freizügigkeit wird auch den Grenzregionen hinreichend Zeit und Flexibilität lassen, um hier die notwendigen Anpassungen vorzunehmen. Ich denke, dass ein solches Konzept sowohl im Interesse der Europäischen Union der 15 als auch im richtig verstandenen Interesse der Beitrittskandidaten liegt, weil nach meiner festen Überzeugung nur bei Realisierung eines solchen Konzeptes der Beitritt wirklich zügig erfolgen kann und erfolgen wird.
Darüber hinaus gilt: Die wirtschaftliche Integration Europas kann überhaupt nur gelingen, wenn die erforderliche Verkehrsinfrastruktur ausgebaut wird. Das ist gerade in Grenzregionen wie dieser eine unabdingbare Voraussetzung. Hier in der Oberpfalz - ich bin darüber nicht überrascht - hat die Lückenschließung der A 6 Vorrang. Im Rahmen unseres Zukunftsinvestitionsprogramms - also jenes Programms, das wir aus den ersparten Zinsaufwendungen speisen, die entstanden sind, weil wir mit den erlösten UMTS-Milliarden Schulden getilgt haben, was dringend notwendig war - schaffen wir es nun, das Teilstück zwischen Pfreimd und Waidhaus erheblich früher als geplant fertig zu stellen. Dies wird bis 2005, spätestens 2006 geschehen. Ursprünglich war 2010 geplant.
Aber das ist, wie Sie wissen, nicht die einzige Lücke in der Oberpfalz. Das ist ja das Problem, das wir haben. Es gibt noch eine Lücke zwischen Pfreimd und Amberg-Ost, eine, die die Menschen dort sehr belastet. Das muss man einfach so sehen. Über die konkrete Finanzierung dieses Lückenschlusses müssen wir noch entscheiden. Sie wissen, dass die öffentlichen Kassen auch nicht prall gefüllt sind. Wir müssen mit der Haushaltskonsolidierung weitermachen. Das ist ein ganz wichtiger Punkt für unsere zukünftige Entwicklung. Aber ich habe mit dem Bundesverkehrsminister gesprochen. Wir haben uns darauf verständigt, dass wir gemeinsam, zusammen mit den Abgeordneten dieser Region, mit Ludwig Stiegler und seinen Mitstreitern, alles tun wollen, damit die A 6 bis 2008, spätestens 2009 wirklich durchgehend fertig gestellt sein wird.
Ich denke, auf diese Weise wird klar, dass wir nicht nur die Erweiterung wollen, sondern dass wir auch die Bedingungen, unter denen sie ein Erfolg werden kann und werden wird, wirklich herstellen wollen. Am Ende des vor uns liegenden Jahrzehnts werden wir in einem anderen Europa leben - Sie, ich, wir alle. Wir brauchen Europas Erweiterung, und wir brauchen die Vertiefung Europas. Nur so können wir die Herausforderungen in der Welt meistern, und zwar weit besser, als jeder Nationalstaat, der auf sich allein gestellt ist, sie meistern würde.
Es gibt keinen Weg zurück zu Kirchturmsdenken und nationaler Abschottung. Angesichts der Globalisierung in Wirtschaft und Politik müssen wir Europäer zusammenstehen, wenn wir wettbewerbsfähig und politisch konkurrenzfähig gegenüber anderen Zusammenschlüssen oder größeren Staaten, den USA oder den Zusammenschlüssen in Asien, bleiben wollen. Wir müssen mit einer Stimme sprechen - und noch wichtiger: Die Europäer müssen gemeinsam handeln, im Osten wie im Westen.
Die Fortentwicklung Europas wird deshalb für uns auch in den nächsten Jahren höchste Priorität genießen. Die Bundesregierung weiß, dass der Erweiterungsprozess auch für die Oberpfalz von ganz besonderer Bedeutung ist. Ich hoffe, es ist klar geworden, dass wir mit einer soliden Mischung aus Hilfe materieller und politischer Art und vernünftigen Übergangsregelungen, die im Interesse beider sind - der beitrittswilligen Staaten ebenso wie in unserem Interesse - , die Probleme, die in diesem Erweiterungsprozess auftauchen werden, der gleichwohl ohne jede Alternative ist, gemeinsam lösen können.