Redner(in): Gerhard Schröder
Datum: 19.12.2000
Anrede: Anrede,
Quelle (evtl. nicht mehr verfügbar): http://archiv.bundesregierung.de/bpaexport/rede/17/26917/multi.htm
das ist einer der wirklich schönen Termine für mich, die ich im Jahr habe. In der Tat: Hier kommen viele hin, auch nette Menschen - die meisten sogar. Aber so viele gekrönte Häupter sehe ich nie und schon gar nicht so liebe, sondern das sind dann harte Arbeitstage, während das, was Ihr mir und meinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern bereitet, einfach schön ist. Aber wir verstehen das auch ein bisschen als Mahnung von euch an uns, die wir politische Entscheidungen treffen müssen und wollen. - Wie verstehen wir Eure Mahnungen?
Ich finde das Lied, das Ihr gemacht hat, sehr schön. Das Lied handelt vom Lernen. Das ist ganz wichtig für euch, die Ihr es - das ist richtig, was einige gesagt haben - verhältnismäßig einfach habt. Die Bedingungen in unserem Land kann man auch noch besser machen. Daran wollen wir auch arbeiten. Aber verglichen mit allen anderen Ländern in der Welt sind sie sehr gut, was das Lernen angeht, aber auch die Möglichkeit, frei von Hunger zu leben.
Dann ist es besonders schön, wenn man sich, in einer solchen Welt lebend, auch Gedanken über andere macht - Gedanken über Kinder in anderen Ländern, die es längst nicht so gut haben wie die Kinder bei uns, und wie man ihnen helfen kann.
Dabei bin ich bei dem, was Ihr, die Sternsinger, macht. Es sind eine halbe Million Kinder, die bis Januar sammeln, indem sie singen. Sie sammeln Geld, indem sie singen, übrigens nicht für sich selber - das gibt es ja auch - , sondern sie sammeln Geld für andere Kinder, für lebenswichtige Projekte von und für Kinder in anderen Ländern. Das ist schon etwas. Ich finde, dass Ihr, die Sternsinger, darauf stolz sein könnt.
Dieses Jahr sagt Ihr: Leben und Überleben ist ganz wichtig. Das braucht man erst einmal. Aber mindestens so wichtig ist Lernen. - Damit bin ich bei einem Punkt, der uns in der Politik auch sehr beschäftigt. Wir haben in der Welt eine Gruppe, die sich G 7 oder auch G 8 nennt, wenn man Russland dazu rechnet."G" steht für Gruppe und "8" steht dafür, dass das acht große wichtige Länder sind, die sich zusammengetan haben. Das letzte Mal haben wir uns in Japan auf einer Insel getroffen. Dort haben wir über das gleiche Thema geredet und auch Entscheidungen getroffen, über die Ihr auch geredet habt. Ihr habt also schon etwas bewirkt.
Das nächste Mal - man trifft sich immer in einem Land, das gerade Gastgeber ist - werden wir uns in Italien treffen, in Genua. Dort werden wir im Schwerpunkt über Bildung reden und darüber, wie man die Kluft geringer machen kann, die es zwischen den Kindern in unserer Welt und den Kindern in der Welt gibt, die man "die dritte" nennt. Denn die Kinder in der Dritten Welt haben nur dann eine Chance - die Dritte Welt ist Afrika, Südamerika; das sind aber auch Staaten in Asien - , wirklich in Würde zu überleben, wenn sie nicht nur satt gemacht sind - das ist auch unsere Aufgabe - , sondern sie auch etwas lernen können.
Wir haben uns vorgenommen, die Kluft zwischen den Kindern in der industrialisierten Welt - in Deutschland zum Beispiel, auch in Belgien, in Lüttich - und denen in der Dritten Welt, die es gibt, kleiner zu machen. Vor allen Dingen wollen wir den Kindern in der Dritten Welt auch ermöglichen, mit modernen Mitteln lernen zu können, also an Computern und was es so alles gibt. Denn wenn wir das nicht schaffen, dass sie die gleichen Chancen bekommen wie Ihr, dann müssen eure Kinder und deren Kinder immer wieder los. Dann wird es so sein, dass eure Anstrengungen die Menschen nicht näher zusammengebracht haben, sondern sie sich noch ein bisschen weiter voneinander entfernen. Das wollen wir alle nicht. Das wollt Ihr nicht. Das wollen wir nicht.
Insofern finde ich: Das, was Ihr heute mitgebracht habt, nämlich die Aufforderung an uns alle, nicht nur an die Politikerinnen und Politiker, sondern an alle, die bei uns leben, mitzuhelfen, dass diese Kluft überwunden wird, ist ganz wichtig. Das wollen wir gemeinsam machen. Ihr müsst dann immer sagen, ob wir vernünftig gearbeitet haben oder nicht. Auf das Urteil freue ich mich schon.
Aber Ihr habt uns in dem Lied noch etwas anderes erklärt. Ihr habt nämlich gesagt: Lernen ist zunächst einmal etwas, was man mit dem Kopf tut, mit dem Verstand. - Das ist auch richtig. Aber Ihr redet auch vom Lernen mit dem Herzen. Das ist mindestens so wichtig. Natürlich muss man sehen, dass man anständig ausgebildet ist. Aber wenn fehlt - so habe ich euer Lernen mit dem Herzen verstanden - , dass man sich denen, denen es schlechter geht, zuwendet, mit ihnen mitleidet und versucht, etwas dagegen zu tun, dass sie weiter leiden müssen, dann fehlt einem etwas als Mensch - als kleiner Mensch wie als erwachsener Mensch.
Deswegen sollten alle begreifen, dass das, was Ihr sagt, stimmt, dass man nicht nur mit dem Verstand lernen darf, sondern auch mit dem Herzen, mit dem Gefühl lernen muss. Wir beschreiben das im eigenen Land als Solidarität zwischen den Starken und den Schwachen, aber auch als internationale Solidarität zwischen den Ländern, denen es besser geht, und denen, denen es schlechter geht. Wenn das gemeint ist - ich glaube, das ist gemeint - , dann passt das gut zusammen, nämlich sich ausbilden und etwas für sich selber zu lernen, um in der Welt zurecht zu kommen, und zudem mit dem Herzen zu lernen, um Mitleiden und Mithelfen zu können. Ich finde, dass die Sternsinger das gut machen.
Mir ist noch etwas aufgefallen - vielleicht sehe ich das falsch: Hier sieht man bei euch Weiße, Schwarze, Gelbe und auch Rothäute. Ich habe mich immer gefragt: Warum laufen die Sternsinger so herum? Erstens sieht es schön aus. Ihr habt eure Verkleidung wirklich toll gemacht. Aber ich glaube, es steckt noch mehr dahinter. Vielleicht sollte man das denen, die immer aufschreiben oder senden, was Ihr tut, einmal sagen. Wenn man das denen nämlich nicht sagt, wissen sie das nicht. Das ist das Problem. Sie müssen immer alles genau erklärt bekommen, sonst schreiben sie etwas Falsches auf.
Ich glaube, mit dem, was man sehen kann - Ihr seid schwarz, braun und gelb im Gesicht - , wollt Ihr auch ausdrücken, dass es wirklich eine Welt gibt. Das heißt, dass man nicht schaut: Wie sieht einer aus? Welche Hautfarbe hat er? Was glaubt er? Glaubt er an Gott, glaubt er an Allah, glaubt er an... was weiß ich alles? Sondern man muss sehen: Braucht er mich? Braucht er meine Hilfe, oder braucht er sie nicht? - Wenn er sie braucht, dann ist es gleichgültig, wie er aussieht, was er denkt und was er glaubt. Dann ist richtig, dass geholfen wird.
Mir fällt bei diesen bemalten Gesichtern noch eins auf: Das macht viel Hoffnung, dass Ihr eine Generation seid, die im eigenen Land dafür sorgen wird, dass hier jeder Mensch gut leben kann, unabhängig von der Frage, wie er aussieht und woran er glaubt, und Ihr - wie wir auch nicht - wollt, dass Menschen in unserem Land, dem es so gut geht, wegen ihrer Hautfarbe von anderen verfolgt werden. Das macht uns Mut, dass Ihr das zum Ausdruck bringen wollt und zum Ausdruck bringt, weil das richtig verstandene Nächstenliebe ist. Diese Nächstenliebe ist nicht vordergründig, sondern will die Menschen - die kleinen wie die großen - erreichen.
Ihr habt eine große Leistung vollbracht, was das Sammeln angeht. Damit wird man viele gute Projekte machen. Das ergänzt das, was wir in der Politik tun. Wir nennen das Entwicklungshilfe. Es ist auch nötig, dass das ergänzt wird.
Ich bin euch jedenfalls sehr dankbar dafür und auch euren Eltern, ohne die Ihr ja nicht auf diesen Weg gekommen wäret. Ich bin den Kirchenleuten dankbar, die das ein bisschen anleiten und dabei behilflich sind. Es ist ein gutes Zeichen in unserer Gesellschaft - das gilt nicht nur für Weihnachten - , dass wir wissen, dass der Einzelne eine ganze Menge kann und auch können soll, wir aber als Menschen, die in einem Land leben, aufeinander angewiesen sind, und es jenseits der Grenzen unseres Landes Menschen in anderen Ländern gibt, die ganz besonders unsere Hilfe und Solidarität brauchen.
Ich bin euch dankbar dafür, dass Ihr hierher gekommen seid. Ich freue mich jetzt schon darauf, euch das nächste Jahr begrüßen zu können - dann übrigens nicht hier. Dieses Haus muss ich leider verlassen und in einen Neubau einziehen, der so groß ist, dass er wahrscheinlich für andere Dimensionen geplant ist, als ich sie aufzuweisen habe. Aber Ihr werdet ihn, weil er ganz schön ist, entdecken. Ich will euch dann dabei helfen, dass Ihr ihn entdeckt. Dann machen wir einmal einen Rundgang durch das neue Kanzleramt, das dann fertig sein wird. Ich bin ganz sicher, das wird spannend.
In diesem Sinne noch einmal: Herzlichen Dank an euch, eure Eltern und eure Betreuer. Kommt gut nach Hause. Ich wünsche euch ein gesegnetes Weihnachtsfest und ein ganz schönes neues Jahr.