Redner(in): Gerhard Schröder
Datum: 15.01.2001

Anrede: Sehr geehrter Herr Geyer, meine Damen und Herren!
Quelle (evtl. nicht mehr verfügbar): http://archiv.bundesregierung.de/bpaexport/rede/34/28834/multi.htm


Die soziale Marktwirtschaft in der globalisierten Welt - Ein überholtes Modell?

Ihnen und allen Mitgliedern des Deutschen Beamtenbundes wünsche ich ein gutes und erfolgreiches Jahr 2001. Was unser Land und unsere Wirtschaft betrifft, haben wir allen Grund, mit Optimismus und Selbstvertrauen ins neue Jahr zu blicken.

Das wirtschaftliche Wachstum ist robust und steht auf soliden Fundamenten. Der begonnene Aufschwung setzt sich fort. Die Preise bleiben stabil. Die deutsche Wirtschaft und ihre Produkte sind auf den internationalen Märkten konkurrenzfähig wie lange nicht mehr. In Deutschland wird wieder mehr investiert als in vielen Jahren zuvor.

Am meisten aber freue ich mich über die deutlichen Fortschritte bei der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit.

Diese positive Entwicklung ist sicher nicht allein das Verdienst der Bundesregierung, aber dazu beigetragen haben wir mit unserer Politik schon. Auch 2001 werden wir unseren Kurs fortsetzen und weiter daran arbeiten, unser Land zu erneuern und für die Herausforderungen der Globalisierung und der Wissensökonomie fit zu machen. Unser Ziel bleibt eine Moderne Soziale Marktwirtschaft. Sie allein kann Produktivität und Teilhabe in der globalisierten Wirtschaft gewährleisten.

Meine Damen und Herren,

die Soziale Marktwirtschaft ist keineswegs überholt. Die Grundsätze der sozialen Gerechtigkeit, der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Teilhabe bestimmen weiterhin die Leitlinien unserer Politik. Und dieses Primat der Politik gilt erst recht für die Gestaltung einer nur noch international zu denkenden Zukunft. Gerade die europäischen Teilhabe-Gesellschaften haben sich dabei immer wieder als effizient und anpassungsfähig erwiesen.

Aber die Soziale Marktwirtschaft war in Deutschland - nach vielen Jahren ökonomischer Stagnation und einer Reihe wirtschaftspolitischer Fehlentscheidungen in den 90er Jahren - ramponiert und stark überholungsbedürftig.

Deshalb haben wir die Soziale Marktwirtschaft mit einem Bündel von Reformen erneuert und den Konjunktur-Motor auf Touren gebracht. Inzwischen trägt sich der wirtschaftliche Aufschwung zusehends aus eigener Kraft:

Das Wachstum hat sich im Jahr 2000 mit drei Prozent gegenüber dem Vorjahr glatt verdoppelt.

Die Binnenkonjunktur gewinnt gegenüber dem Export mehr und mehr an Dynamik und Gewicht.

Die Perspektiven für einen langanhaltenden Aufschwung sind, allen weltwirtschaftlichen Risiken zum Trotz, ganz ausgezeichnet.

Meine Damen und Herren,

natürlich ist dieser Aufschwung vor allem das Verdienst der Menschen, der Arbeitnehmer und derjenigen, die in den Unternehmen Verantwortung tragen. Aber das zu betonen, heißt ja nicht, der Politik jeglichen Anteil an den positiven Entwicklungen, etwa auf dem Arbeitsmarkt, abzusprechen.

Die Rolle der Politik in der globalisierten Welt ist weder mit "Ohnmacht" noch mit "Allmacht" zutreffend beschrieben.

Globalisierung heißt nicht das Ende der Politik. Aber sie verurteilt eine Politik, die vor Strukturreformen zurückscheut, ganz schnell zum Scheitern.

Andererseits sehen wir in Deutschland, dass notwendige Strukturreformen sich auch auszahlen:

Denn dass der "turn-around" gelingen konnte, dass Optimismus und Aufschwung an die Stelle von Globalisierungsängsten und Wachstumsschwäche getreten sind, das hat sehr wohl etwas mit einer Politik zu tun, die sich getraut hat, die Dinge beim Namen zu nennen und den Reformstau aufzulösen. Mit einer Politik, die sich konsequent auf die Herausforderungen von Globalisierung, Digitalisierung und gesellschaftlicher Veränderung eingestellt hat. Steuerreform, Rentenreform, Neuregelung des Staatsbürgerschaftsrechts, Green Card und Reform des Arbeits- und Sozialrechts - das sind nur die herausragenden Beispiele unserer Politik, die sowohl den Bedürfnissen der Unternehmen nach mehr Flexibilität als auch den Erwartungen der Arbeitnehmer an soziale Sicherheit gerecht wird.

Unsere Politik basiert auf einer Grundüberzeugung:

Wer heute erfolgreich Politik - nicht nur Wirtschaftspolitik - gestalten will, wer das Wesen der Sozialen Marktwirtschaft durch Weiterentwicklung zu einer Modernen Sozialen Marktwirtschaft bewahren will, der muss Strategien entwickeln.

Strategien, die erstens im internationalen Wettbewerb ökonomisch trägfähig und effizient sind, die zweitens in unsere auf Ausgleich und Konsens bedachte gesellschaftliche Kultur passen, und die drittens politisch und administrativ umsetzbar sein müssen. Produktivität, Teilhabe und effizientes, bürgernahes Regieren sind unverändert die charakteristischen Merkmale einer Modernen Sozialen Marktwirtschaft.

Diesen Zielen ist die Politik der Bundesregierung verpflichtet.

Wir fördern die Produktivität, indem wir Bildung und Ausbildung stärken und die Infrastruktur modernisieren. Beispielhaft dafür stehen der Ausbildungskonsens und das Sonderprogramm JUMP, die BAföG-Reform zum 1. April, die Verbesserung des Meister-BAföG, die Reform des Dienstrechts an den Hochschulen, unser Programm "Internet für alle", die Aktivitäten und Maßnahmen der D 21-Initiative und nicht zuletzt unser Zukunftsinvestitionsprogramm ZIP, das wir mit den Zinsgewinnen aus den UMTS-Erlösen finanzieren.

Zusammen gesehen, ergibt das ein Investitionsprogramm neuen Stils zur Modernisierung der Volkswirtschaft. Es wirkt auf der Angebots- wie auf der Nachfrageseite. Es setzt Schwerpunkte in zentralen Zukunftsbereichen wie Mobilität, Ressourcenschonung, Energieproduktivität und Bildung. Das ganze erreicht bis zum Jahr 2002 ein Volumen von 12 Milliarden Mark.

Die Produktivität fördern wir aber auch, indem wir zu mehr Flexibilität ermutigen und Leistung stärker belohnen. Dazu haben wir die befristete Beschäftigung neu geregelt, einen Rechtsanspruch auf Teilzeit eingeführt und die bewährte, umlagefinanzierte gesetzliche Rente durch eine kapitalgedeckte Privatvorsorge, also durch individuellen Vermögensaufbau im Rahmen der Rentenreform ergänzt.

Meine Damen und Herren,

es kann keinen Zweifel geben, dass diese Bundesregierung bereits mit der Steuerreform und auch mit der Rentenreform mehr für den Vermögensaufbau breiter Schichten der Bevölkerung bewirkt haben dürfte als die meisten Programme zur Sparförderung zuvor. Das belegt - genau wie die anstehende Reform der Betriebsverfassung - , dass diese Bundesregierung es ernst meint mit der Teilhabe am Haben und Sagen in unserer Gesellschaft. Und gerade auf dem Hintergrund der sich verbessernden Lage am Arbeitsmarkt, der Zunahme bei der Beschäftigung um 570.000 Arbeitsplätze allein im vergangenen Jahr kann ich nur betonen:

Es gibt wohl keinen besseren Weg zur Teilhabe möglichst vieler Menschen am Haben und Sagen in unserer Gesellschaft als durch Beteiligung am Erwerbsleben, also durch neue Beschäftigung und Abbau der Arbeitslosigkeit.

Meine Damen und Herren,

marktwirtschaftliche und soziale Komponenten in unserer Wirtschaftsordnung in eine neue, auch international tragfähige Balance zu bringen - das ist eine Aufgabe, die mit den Instrumenten und Verfahren des aus dem Zeitalter der Industrialisierung überkommenen Staates allein nicht mehr zu lösen ist. Andererseits bedarf es gerade in der Ära der Globalisierung eines Staates, der glaubhaft und überzeugend Orientierung zu geben vermag.

Der, zugespitzt formuliert, die Menschen nicht von der Wiege bis zur Bahre mit Formularen traktiert, sondern den Dialog mit dem Bürger sucht und Eigeninitiative fördert.

Gefordert ist ein aktivierender Staat,

der sich auf seine Kernaufgaben beschränkt und privater Gestaltungskraft ihren Raum lässt; der Rahmenbedingungen setzt, um den notwendigen Strukturwandel zu beflügeln und die Innovationsdynamik der Wirtschaft zu stärken; der seine Bürger durch Bildung, Ausbildung und die Möglichkeit zu lebenslanger Qualifizierung in die Lage versetzt, eigenverantwortlich zu handeln; und der seinen Bürgern Sicherheit und Gerechtigkeit garantiert und sie teilhaben lässt an den Früchten des wirtschaftlichen Wachstums. Für die Politik lautet die Devise daher: Aktivieren statt Administrieren, partnerschaftlicher Umgang statt obrigkeitsstaatlicher Zuwendung.

Gemeinsam mit allen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Öffentlichen Dienstes wollen wir diesem neuen Leitbild zum Durchbruch verhelfen. Ein Berufsbeamtentum, das sich diesen Herausforderungen stellt und sie als Zukunftschance wahrnimmt, wird dabei auch weiterhin einen festen Platz in unserer Gesellschaft haben. Manchem landläufigen Vorurteil zum Trotz erweisen sich der Öffentliche Dienst und die Beamtenschaft in vielen Bereichen als Reformmotor. Das gilt für die Kommunen ebenso wie für die Länder- und Bundesebene.

Unser Programm "Moderner Staat - Moderne Verwaltung" gibt dabei auf Bundesebene wichtige Anstöße. Im Rahmen von Public-Private-Partnerships erproben wir neue Formen der Kooperation von öffentlicher und privater Dienstleistung. Um nur dieses Beispiel zu nennen: Die Bundeswehr hat eine Reihe wegweisender Projekte in Angriff genommen und bedient sich dabei modernster Managementmethoden.

Vor allem aber geht es uns darum, den Beamtinnen und Beamten ebenso wie allen übrigen Beschäftigten des Öffentlichen Dienstes mehr Spielräume zur Entfaltung ihres Leistungswillens und ihrer Kreativität zu eröffnen. Dem tragen wir zum Beispiel mit dem Gesetzentwurf zur Modernisierung der Besoldungsstruktur Rechnung. Dadurch schaffen wir mehr Flexibilität bei Bezahlung und Beförderung und eröffnen Möglichkeiten für eine besondere Vergütung von herausgehobenen Funktionen.

Meine Damen und Herren,

die europäische Integration verlangt auch dem Öffentlichen Dienst in Deutschland Anpassungsleistungen ab. In einer Zeit, in der die Rechtsetzung immer stärker im europäischen Kontext erfolgt, müssen wir in Politik, Wirtschaft und Verwaltung bei der Aus- und Weiterbildung neue Akzente setzen. Nur wenn deutsche Bewerber über die notwendigen Sprach- und Fachkenntnisse und über breite kulturelle Kompetenz verfügen, werden sie bei der Besetzung europäischer und internationaler Posten erfolgreich mit Kandidaten anderer Nationen konkurrieren können.

Ich begrüße es deshalb, dass die Universitäten Berlin, Bonn, Hamburg und Saarbrücken einen gemeinsam mit der Bundesregierung erarbeiteten "Aufbaustudiengang Europawissenschaften" anbieten.

Auch auf anderen Gebieten werden wir verstärkt Anstrengungen unternehmen, um die deutsche Präsenz auf internationaler Ebene zu erhöhen.

Eine stärkere Internationalität und Weltoffenheit in unserem Denken und Handeln einerseits, eine aufgeklärte und zugleich selbstbewusste Präsenz auf internationaler "Bühne" andererseits - das sind für mich zwei Seiten ein und derselben Medaille: im Geiste guter Nachbarschaft und Zusammenarbeit nach innen und außen Verantwortung bei uns und in der Welt zu übernehmen.

Meine Damen und Herren,

durch das Modell der Sozialen Marktwirtschaft, wie es sich nach dem Zweiten Weltkrieg in Deutschland herausgebildet hat, ist es uns in der Bundesrepublik besser als in manchen anderen Ländern gelungen, marktwirtschaftliche Rationalität und soziale Gerechtigkeit zu einem erfolgreichen und produktiven Ergebnis zusammenzuführen.

Darin steckt eine große Chance:

Wir haben es heute in der Hand, die Erfolgsgeschichte der Sozialen Marktwirtschaft auf europäischer Ebene fortzuschreiben - wenn wir sie im Zeichen von Produktivität, Teilhabe und Eigenverantwortung konsequent zu einer Modernen Sozialen Marktwirtschaft weiterentwickeln.

Wir haben die Chance, das kommende Jahrzehnt in diesem Sinne zu einem "europäischen Jahrzehnt" zu machen und es maßgeblich mitzugestalten.

Der Europäische Rat in Lissabon hat deshalb im vergangenen Jahr ein Maßnahmenpaket beschlossen, mit dem sich Europa in den nächsten zehn Jahren zum wettbewerbsfähigsten Wirtschaftsraum entwickeln soll.

In Nizza haben wir dazu flankierend eine Sozial-Agenda verabschiedet und - zugegeben, nur in einem ersten Schritt - die Strukturen der Europäischen Union auf die neuen Herausforderungen ausgerichtet.

Die Moderne Soziale Marktwirtschaft, an der wir arbeiten, wird vor diesem Hintergrund keine rein deutsche Angelegenheit mehr sein. Deutsche und Holländer, Schweden und Dänen, Franzosen und Briten sind schon heute dabei, voneinander zu lernen und erfolgreiche Ansätze voneinander zu übernehmen.

So hat das hier zu Lande noch heftig umstrittene Teilzeitgesetz in den Niederlanden seine Bewährungsprobe schon lange bestanden.

Ich bin davon überzeugt: Wenn Europa sich gemeinsam auf die Prinzipien von Produktivität, Teilhabe und modernem Regieren verständigt, wird es auch in Zukunft einen Spitzenplatz unter den Wirtschaftsregionen behaupten.

Meine Damen und Herren,

die Soziale Marktwirtschaft hat viele Krisen überstanden und die Unkenrufe von ihrem angeblich "nahenden Untergang" immer wieder überzeugend widerlegt.

Nicht alles mag optimal sein, manches der Verbesserung bedürfen - wie das in einer dynamischen, beweglichen und auf die Bedürfnisse der Menschen abstellenden Gesellschaft nun einmal so ist. All jenen unter uns aber, denen an individueller Entfaltung und gesellschaftlicher Gerechtigkeit gelegen ist, wird es schwerfallen, eine bessere Wirtschaftsform zu benennen.

Deshalb lade ich Sie ein, meine Damen und Herren, auch in Zukunft konstruktiv an der Weiterentwicklung und Verbesserung dieser Sozialen Marktwirtschaft und damit auch der Sozialen Demokratie mitzuarbeiten.