Redner(in): Gerhard Schröder
Datum: 17.01.2001

Anrede: Verehrter Herr Landesbischof, sehr geehrter Herr Dr. Greiner, meine sehr verehrten Damen und Herren!
Quelle (evtl. nicht mehr verfügbar): http://archiv.bundesregierung.de/bpaexport/rede/83/29083/multi.htm


Dass Bayern etwas Besonderes ist, hätte man mir gar nicht erst zu erklären brauchen. Ich weiß das. Ich bin schließlich - ich habe die kleine Geschichte gelegentlich schon erzählt - bayerischer Staatsbürger. Das wird man nach Artikel sechs der Bayerischen Verfassung nämlich entweder durch Geburt - diesen Vorzug, oder wie immer man das nennt, hatte ich nicht - , man wird es durch Verleihung durch die Bayerische Staatsregierung - diese Chance habe ich niemals - , man wird es aber auch durch Heirat und das habe ich gemacht. Was immer die da in München machen - da haben sie es nun. Man könnte es gleichsam "Unterwanderung" nennen.

Ich bin gerne hergekommen, nicht nur des beinahe schon legendären Rufes wegen, den diese Akademie hat, sondern weil - ich finde, der Landesbischof hat das wunderbar zum Ausdruck gebracht - dies hier ein Ort ist, wo man, um es in meinen Worten zu sagen, relativ herrschaftsfrei diskutieren kann. So viele Stätten gibt es dafür nicht. Deswegen bin ich immer gerne zu den Evangelischen Akademien gegangen. Dass mir Loccum auch ganz nah ist, werden Sie verstehen; das hat mit landsmannschaftlichen Beziehungen zu tun. Aber diese Möglichkeit, relativ herrschaftsfrei zu diskutieren, ohne dass man gleich - wie soll ich sagen? - denunziatorisch auf einen noch nicht fertiggedachten Gedanken festgelegt wird, ist schon etwas Besonderes. Das findet sich in der politischen Diskussion nicht oft, und das ist ein Vorzug dieser Akademien.

Im Übrigen, Herr Landesbischof, was Sie - wenn ich das einmal so sagen darf, als Mitenkel, natürlich anderen Opas gegenüber - über das Verhältnis von Staat und Kirche gesagt haben, über dieses, in meinen Worten, dialektische Verhältnis, kann ich nur unterschreiben. Wir dürfen nicht alleingelassen werden, aber Sie auch nicht. Wenn wir das Miteinander berücksichtigen, dann kann das ganz gut funktionieren. Das ist sicher auch einer der Gründe dafür, warum noch jeder Bundeskanzler - also auch ich - , der nach Tutzing eingeladen wurde, dann auch gekommen ist. Deswegen bedurfte es der Ängste nicht, auch wenn ich nachmittags das eine oder andere Zeitproblem hatte.

Es wäre übrigens interessant, über den Gegenstand der nachmittäglichen Debatte im Deutschen Bundestag - weniger über deren Niveau; dazu kann ich nicht raten - eine Tagung in Tutzing zu machen. Dabei ging es nämlich wirklich um die Frage, wie man mit der jüngeren Zeitgeschichte umgeht. Was ist bei der 68er Generation falsch und was ist richtig gemacht worden? Zu glauben, es sei alles falsch gemacht worden, ist nun ganz falsch.

Es geht im Übrigen auch um die Frage, wie wir mit politischen Irrtümern in unserer Gesellschaft umgehen. Das ist ein ganz wichtiger Punkt. Lassen wir zu, dass eine Gesellschaft so offen ist, dass sie jedenfalls nicht erbarmungslos wird, um nicht zu sagen erbärmlich? Ich kann nur zuraten, sich damit zu befassen. Ich glaube, auch der eine oder andere aus der Bundesregierung würde sich gerne an dieser Debatte beteiligen und das mit guten Gründen. Aber das ist nicht das Thema des heutigen Abends.

Ich will noch ein Kompliment anschließen. Diese Evangelische Akademie ist wirklich eine Besonderheit. Sie ist gewiss geistiges Zentrum der Landeskirche, zugleich aber eben auch - das ist in Ihrem Beitrag, Herr Dr. Greiner, sehr deutlich geworden - mehr und mehr Forum für einen Dialog zwischen den Kulturen, den Religionen, die ein Teil der unterschiedlichen Kulturen sind, aber auch zwischen gesellschaftlichen Gruppen und deren unterschiedlichen politischen Positionen. Es gibt ihn, den "Geist von Tutzing". Ich denke, er ist oft genug beschrieben worden. Offenbar gelingt der politische, gesellschaftliche und, wie ich sagte, herrschaftsfreie Diskurs - übrigens mache ich dabei gerne eine Anleihe an Jürgen Habermas, der hier am See ja kein Unbekannter ist - in dieser Gegend offenbar besser als an vielen anderen Stellen.

Herr Beckstein, das muss nicht mit der Staatsregierung zu tun haben. Aber sie behindert es jedenfalls nicht. Vielleicht hat es auch schlicht mit dieser urbayerischen Liberalität zu tun, von der ich gehört habe, dass es sie auch noch geben soll.

Ich möchte am heutigen Abend Ihre Aufmerksamkeit gerne auf drei Themen lenken, die ein wenig mit dem zu tun haben - Herr Landesbischof, wir haben es nicht abge-sprochen - , was Sie mir gleichsam nicht als Gebet mit auf den Weg gegeben, aber schon ins Gebetbuch geschrieben haben. Themen, die ganz aktuell das Spannungsfeld aufzeigen, in dem wir politische und auch gesellschaftliche Verantwortung im Dialog, im Diskurs miteinander zu definieren haben. Politisches Handeln muss sich dieser Tage weniger, als manche denken, an Personalien - wo auch immer - orientieren. Es muss sich mehr an der Frage orientieren, wie wir die Menschen in den Mittelpunkt unseres Denkens, unseres Handelns zurückholen und Glaubwürdigkeit zurückgewinnen wollen. Die Stichworte "BSE" und "Gentechnik" benennen ziemlich genau die Risiken und die Grenzen, die uns aufgezeigt worden sind. Andererseits gilt auch: Die Lehren, die wir aus dieser Grenzerfahrung ziehen können, könnten uns Möglichkeiten auf Chancen, auf eine höhere, besser durchdachte Lebensqualität eröffnen. Ich bin sehr dafür, dass man es so sieht und diese Chancen nutzt.

Mit dem Aufkommen der ersten Fälle von so genanntem "Rinderwahn" in Deutschland haben Hunderttausende Frauen und Männer - zugegebenermaßen erschrocken - festgestellt, dass sie keineswegs nur Verbraucher sind, die irgend etwas nutzen, sondern dass sie Menschen sind, deren Gesundheit und gesunde Ernährung bislang offenbar nicht überall im Vordergrund von Handeln und Wirtschaften gestanden hat. Diese Menschen hatten bis dahin keinen Grund gesehen, die Politik oder die mit ihrer Gesundheit befassten Behörden für das zuständig zu finden, was sie beim Schlachter oder im Supermarkt einkauften. Und die Behörden - ich mache keine Schuldzuweisung - , ob im Bund, in den Ländern oder bei der Europäischen Union, hatten nicht viel Grund darin gesehen, die Bürgerinnen und Bürger über all die Feinheiten und Verästelungen aufzuklären, die sich im europäischen Nahrungsmittelrecht inzwischen eingefunden hatten. Zur Ehrenrettung der Verantwortlichen muss man sicherlich sagen, dass sie die Gefahren, die da lauerten, selbst nicht besser begriffen hatten, als es die so genannten Verbraucher getan haben.

Ich frage einfach nur einmal: Hand aufs Herz - wer von uns wusste vor ein paar Wochen schon, was "Separatorenfleisch" ist? Ich räume ein: Ich wusste es nicht. Vielleicht wird es mir einmal vorgeworfen werden, dass ich das sage, aber ich wusste es wirklich nicht."Risikomaterial" kannte ich als einen allgemeinen Begriff, aber so spezifisch ist erst seit kurzem bei uns davon die Rede. Und plötzlich - das ist nicht unproblematisch - ist fast alles mit einem Risiko behaftet, was zu Hause bei uns, übrigens, auch bei uns persönlich, auf den Teller kommt. Wir alle, ob Produzenten, Politiker oder Konsumenten waren viel zu lange viel zu gutgläubig. Erst die BSE-Fälle in Deutschland haben das Bewusstsein dafür geschärft, dass die oft beschworene Risikogesellschaft bereits an der Ladentheke anfängt.

Wir haben dann als Bundesregierung versucht - ich meine, alles in allem nicht ohne Erfolg - , kurzfristig die notwendigen Maßnahmen zu ergreifen. Wir haben versucht, kurz- , mittel- und langfristig Lehren zu ziehen. Dazu nur so viel: Die Umbesetzung und der Neuzuschnitt des Agrarministeriums sind keine Personen- oder Namenskosmetik. Wenn es nur um den Austausch von Personen gegangen wäre, hätte das Ganze nicht gelohnt. Was wir dort vorhaben, ist wirklich eine fundamentale Veränderung der Art und Weise, wie wir unsere Ernährung sicherstellen, eine Veränderung, von der ich glaube, dass sie nur so organisierbar ist, wie wir es getan haben.

Worum ging es? Es hätte viele Möglichkeiten gegeben, das, was man "Verbraucherschutz" nennt, organisatorisch und auch bürokratisch neu zu definieren. Man hätte zum Beispiel all das in einem Ministerium für Gesundheit organisieren können. Man hätte auch ein Verbraucherschutzministerium schaffen können, vielleicht publizistisch mit durchaus beachtlichem Erfolg. Aber wir wollten das nicht. Besser: Ich wollte das nicht. Das hatte einen Grund. Ich glaube, dass Landwirtschaft in Deutschland zu Recht nicht nur ein Wirtschaftsfaktor, sondern auch ein wichtiger Teil dessen ist, wie wir leben und uns ernähren wollen. Deshalb kam es mir darauf an, dass wir - und das wird eine langwierige Aufgabe sein - miteinander dafür sorgen, dass Landwirtschaftspolitik, die in einem Ministerium konzipiert und durchgesetzt wird, nicht als isolierte Frage betrachtet wird, sondern dass man die in den Ministerien Zuständigen zwingt, es von einem bestimmten Standpunkt aus zu betrachten, einem, von dem aus das bisher nicht gesehen worden ist.

Deshalb habe ich gesagt: Es ist besser, ich zwinge durch organisatorische Maßnah-men - ich weiß, das ist kein Allheilmittel, und das habe ich auch nicht angenommen; ich bin nicht naiv - und durch Konzentration von Zuständigkeiten diejenigen, die für die Definition von Landwirtschaftspolitik verantwortlich sind, dazu, das, was sie tun, unter dem Aspekt des Verbraucherschutzes und der Lebensmittelsicherheit zu tun und das mit anderen zusammen zu tun.

Deswegen habe ich nicht etwas daneben gesetzt, sondern diese beiden Fragen in das frühere Landwirtschaftsministerium integriert, und zwar mit der Absicht, dass diejenigen, die in einem sehr umfassenden Sinne für den Verbraucherschutz und für Lebensmittelsicherheit zuständig sind, in der Mehrzahl gegenüber denjenigen sind, die nur klassische, bisher gekannte Landwirtschaftspolitik programmatisch vertreten, so dass sich diejenigen, die Landwirtschaftspolitik konzipieren und umsetzen, rechtfertigen müssen. Sie müssen sich rechtfertigen, ob sie die anderen Aspekte, die mir, die uns wichtig sind, bei der Formulierung von Landwirtschaftspolitik mitbedacht haben oder nicht. Das war der organisatorische Hintergrund, den ich für wichtig halte und der im Übrigen - ich sage es noch einmal - zu Veränderungen in einem nur schrittweise möglichen Prozess führen wird.

Es ist gar nicht denkbar, die Landwirtschaftspolitik in Deutschland und die Art und Weise, wie wir unsere Nahrungsmittel produzieren, gleichsam über Nacht zu verändern. Das ist völlig unmöglich. Ich will nur einmal zwei Zahlen dazu nennen, die das erklären. Wir haben den Tatbestand, dass kaum mehr als zwei Prozent der landwirtschaftlich genutzten Fläche in Deutschland ökologisch, biologisch-dynamisch bewirtschaftet werden. Die Produkte, die auf diesen zwei Prozent hergestellt werden, machen etwa vier Prozent der landwirtschaftlich hergestellten Produkte aus. Wenn wir es schaffen würden, diesen Prozentsatz in zwei Legislaturperioden auf zehn Prozent zu steigern, hätten wir einen Riesenerfolg. Das zeigt, dass das, was uns unterstellt wird - wir wollten nun die gesamte landwirtschaftliche Produktion über Nacht auf biologisch-dynamische Produktionsweise umstellen - , nicht geht. Dass es nicht geht, ist uns doch wohl klar.

Was wir aber leisten müssen: Wir müssen die restlichen 90 Prozent dessen, was man "herkömmliche Form" von Landwirtschaft nennt, und deren Politik entlang dessen, was ich auszudrücken versucht habe, umorganisieren, um einen Prozess, und zwar was Europa insgesamt betrifft, hinzubekommen. Das ist übrigens ein Prozess mit unglaublich vielen Risiken und Widerständen der Betroffenen, wobei die Widerstände am wenigsten von den Bauern zum Beispiel im Allgäu, die Sie erwähnt haben, Herr Beckstein, zu erwarten sind. Wir müssen uns um die Frage kümmern, wie es eigentlich mit dem vor- und nachgelagerten Sektor ist, der viel vermachteter und deshalb auch viel schwieriger erreichbar ist.

Das ist die Aufgabe, von der ich glaube, dass sie dieses Jahrzehnt zu nicht geringen Teilen die politische Arbeit beherrschen wird. Wenn wir am Ende dieses Jahrzehnts feststellen können, dass wir in den Sektoren, um die es geht, Veränderungen in die richtige Richtung hinbekommen haben, dann können wir schon sehr froh sein, glaube ich. Aber niemand sollte sich der Illusion hingeben, diese Regierung jedenfalls würde nicht alle ihre materiellen, kommunikativen sowie administrativen Möglichkeiten einsetzen, um das, was wirklich nötig ist, hinzubekommen.

Ich glaube, man kann es bei Hesse lesen, dass in jedem Ende auch die Chance für den Zauber eines neuen Anfangs enthalten ist. Ich würde bei diesem Thema nicht so weit gehen, vom "Zauber" zu sprechen. Aber ein neuer Anfang ist schon in jeder Krise möglich und den werden wir jetzt ganz entschieden anpacken. Die Widerstände, die es dort gibt, werden wir politisch überwinden und auch um Mehrheiten kämpfen.

Die Entschlüsselung des menschlichen Genoms - damit bin ich bei dem, was Sie sich sicherlich schon gedacht haben - und die Legalisierung des so genannten therapeutischen Klonens in Großbritannien haben uns drastisch vor Augen geführt, dass Gentechnik nun wirklich keine Zukunftsutopie mehr ist, sondern schlicht Teil unserer Gegenwart. So zu tun, als wäre das anders, wäre ganz falsch. Unsere Gesellschaft hat sich bislang jedenfalls - wie ich finde, nachvollziehbar - einer redlichen Diskussion der Chancen und Risiken gentechnischer Verfahren zumindest nicht in dem Umfang gestellt, wie ich es für nötig halte. Daran sind wir alle schuld. Das ist ein großes Thema, auch für Institutionen wie diese.

Die damit zusammenhängenden Fragen - der Bischof hat es deutlich gemacht - rühren an das Innerste unseres Selbstverständnisses und, damit einhergehend, auch an das Innerste unserer Kultur, unseres Denkens und auch unseres Handelns. Wir haben über Dinge zu entscheiden - das betrifft insbesondere die Politik - , die sich im Kraftfeld zwischen Denkbarkeit und Machbarkeit, zwischen Verantwortbarkeit, aber auch Verantwortlichkeit nicht zuletzt gegenüber kommenden Generationen, bewegen.

Es ist nicht das erste Mal - ich weiß es - , dass wir vor derartigen tief greifenden und lange nachwirkenden Entscheidungen stehen. Ich erinnere nur an die Diskussion über die Atomkraft, über deren militärische, aber auch deren friedliche Nutzung. Ich weiß noch genau, wie begeistert wir von den Göttinger Professoren waren, die sich in den 50er Jahren über die militärische Nutzung der Atomkraft geäußert haben. Sicherlich gibt es hier viele, die diese Diskussion kennen. Viele von uns sind damals sehr davon beeinflusst worden. Es ist also nicht das erste Mal, aber noch nie waren Menschen mit der Möglichkeit konfrontiert, gewissermaßen ihre eigene Substanz nachbauen und damit gleichsam sich selbst planen zu können.

Mit den gentechnischen Verfahren verbinden sich - das wissen Sie so gut wie ich - großartige Hoffnungen, manchmal welche, die geschürt werden, die noch gar keine reale Basis haben, weil es bei Hoffnungen übrigens immer so ist, aber eben auch ganz schreckliche Ängste. Auch die und deren Entstehen sind nachvollziehbar. Damit verbinden sich Hoffnungen auf Heilungschancen bei bislang als unheilbar geltenden Krankheiten, auf die Überwindung von Abstoßungsreaktionen, die noch immer ein großes Hindernis in der Transplantationsmedizin sind, aber auch Hoffnungen - und das soll man nicht einfach in den Bereich des "Na ja, das ist ja nicht so wichtig", jedenfalls für einen redlichen Intellektuellen nicht, abdrängen - auf wirtschaftliches Wachstum, das durch die konsequente Nutzung einer Schlüsseltechnologie in Gang gesetzt und gefördert werden kann.

Nachdem ich mich dazu etwas grundsätzlicher geäußert habe, ist mir gelegentlich entgegengehalten geworden, dass ich gleichsam für die wirtschaftliche Nutzbarkeit gestritten hätte, was, vom moralischen Standpunkt aus gesehen, nicht so ganz ernst zu nehmen sei, während die anderen, die für die ethische Verantwortbarkeit stünden, die richtig guten Menschen seien. Ich finde, in dieser Gegenüberstellung kann man das nicht denken. Denn wenn es so ist - und ich denke, es wird so sein - , dass neben den Kommunikations- und Informationstechnologien die Biotechnologien eine der großen wirtschaftlichen Möglichkeiten im angefangenen Jahrhundert sein werden, dann ist es auch moralisch vertretbar, über die Nutzbarkeit auch für Deutschland nachzudenken. Ich meine, es ist nicht unmoralisch, diesen Aspekt in die Diskussion einzubeziehen und zu bedenken.

Auf der anderen Seite gibt es, wie ich weiß, Ängste. Ängste vor beliebiger Reproduktion und - das muss gerade uns Deutsche angehen - vor Selektion von Menschen. Geschichtslos sollten wir auch in dieser Frage nicht sein und nie werden wollen. Es gibt aber auch Befürchtungen, dass wir den Anschluss an die wissenschaftliche Weltspitze verlieren, dass unser Land seine besten Forscher verliert und wir die anderswo entwickelten Verfahren später einmal importieren müssen.

Ich habe versucht - und ich werde mich weiter dafür anstrengen - , zu diesem Thema eine wirklich breite gesellschaftliche Debatte in Gang zu setzen. Orte wie diese sind unglaublich gut geeignet, diese Debatte führen zu helfen.

Ich habe schon im letzten Jahr vorgeschlagen, dass das Parlament als Ganzes agiert. Ich sehe hier, was ich mit großem Respekt sage, eine der großen deutschen Parlamentarierinnen der letzten Jahrzehnte, nämlich Frau Hamm-Brücher.. Ich habe vorgeschlagen, dass das Parlament schlicht sagt: Wir streiten uns jetzt einmal nicht entlang der üblichen Verdächtigen - Regierungskoalition auf der einen und Opposition auf der anderen Seite - , sondern das Parlament, der Deutsche Bundestag, konstituiert sich wirklich als ein Gremium, in dem diese Frage völlig frei von Fraktionszwängen und unter Hinzuziehung von Menschen, die nicht Mitglieder eines Parlaments sind, aber etwas zu dieser Diskussion beizutragen haben, zum Beispiel aus den Bereichen von Religion, Kultur oder Wissenschaft, behandelt wird. Wir können uns das übrigens leisten. Wir haben einen gesetzlichen Rahmen, der das, was gegenwärtig möglich und verantwortbar ist, erlaubt. Wir müssen ihn nicht unbedingt im - wie man etwas leger sagt - "Schweinsgalopp" verändern, sondern wir können uns die Zeit nehmen, diese Fragen in einer breiten gesellschaftlichen Diskussion anzugehen und aus dieser Diskussion heraus Konsequenzen für politisches Handeln zu ziehen.

Eine solche Debatte habe ich gemeint, als ich von einer Diskussion ohne ideologische Scheuklappen und Denkverbote gesprochen habe. Nichts anderes habe ich gemeint. Dafür habe ich auch Prügel von Bischöfen bezogen, natürlich nur verbale. Dass man sie in Respekt und in Demut hinnehmen muss, das weiß ich seit meinem Konfirmandenunterricht. Eine solche Diskussion müsste nach meiner Ansicht zweierlei leisten. Sie müsste von Respekt und Redlichkeit getragen sein, aber auch vom Prinzip der Solidarität und der Teilhabe. Also: unbedingten Respekt vor der religiösen oder moralethischen Position, die dem Klonen von Embryonen skeptisch gegenübersteht.

Ich bin auch der Meinung: Wir dürfen nicht zulassen, dass etwa gentechnisch veränderte Nahrungsmittel mit unkalkulierbaren Risiken produziert und vertrieben werden. Ganz gewiss müssen wir verhindern, dass Menschen gezüchtet und genetisch selektiert werden. Aber: Eine Selbstbescheidung Deutschlands auf Lizenzfertigung und Anwenderlösungen würde im Zeitalter von Binnenmarkt und Internet nur dazu führen, dass wir das importieren, was bei uns verboten, aber in unseren Nachbarländern erlaubt ist; folglich wäre das auch keine wirklich moralische Position. Wenn man sich auf einen Standpunkt zurückzieht, der im Jargon der Politik heißt,"Man stimmt zu, wenn die Ablehnung gesichert ist" - oder auch umgekehrt - , dann ist auch das keine Haltung, die hier ernsthaft erwogen werden sollte.

Das andere, für mich ebenso wichtige Prinzip heißt Partizipation. Man könnte auch sagen Mitgefühl und Teilhabe, und zwar Teilhabe am Sagen, aber auch am Haben und am Bestimmen. - Worum geht es dabei? Auch vorsichtigste Biologen und Mediziner sagen uns heute, dass die Therapie ganz allgemeiner Krankheiten und Leiden ohne Rückgriff auf gentechnische Verfahren in Zukunft kaum noch denkbar sein wird. Diejenigen, die es angeht, müssen schon gehört werden, und nicht nur die, die es nicht angeht. Man weiß ja nie. Es könnte ja auch heißen: "noch nicht angeht". Gleichzeitig teilen uns Wirtschaftsforscher mit, dass unsere Wissensgesellschaft ohne einen Führungsplatz in der Bio- und Medizintechnik keine Chance hat, jenen Wohlstand zu sichern, den alle bei uns lebenden Menschen genießen möchten und können - übrigens auch sollen. Auch das ist ein unerhörter Fortschritt in den letzten 50 Jahren, dass das mehr und mehr möglich ist, obwohl der Kampf um Gerechtigkeit keineswegs zu Ende ist.

Das eine Argument mag so wichtig sein wie das andere. Auch die zehn Gebote lassen sich nicht durchweg ökonomisch begründen. Nicht einmal ich habe das versucht. Manche haben das freilich schon. Aber darum geht es nicht wirklich. Teilhabe, das heißt zunächst einmal Selbstbestimmung und Mitbestimmen. Das setzt aber Mitwissen voraus; und das ist für mich das Entscheidende. Nur die Gesellschaft kann über so schwer wiegende Zukunftsfragen befinden, die möglichst weitgehend darüber Bescheid weiß. Unter allen Umständen gilt es zu verhindern, dass Menschheitsthemen von einer Wissens- oder auch einer Ethikoligarchie vorentschieden werden. Das klingt provozierend. Das soll es auch durchaus sein. Viele kluge Menschen in Deutschland schlagen vor, einen Ethikrat zu berufen, wie das andere europäische Staaten schon getan haben. Ich bin nicht dagegen. Ich denke, man muss ernsthaft darüber nachdenken. Ich bin allerdings dagegen, ethische Themen, also Themen, die uns alle angehen, sozusagen stellvertretend an ein Gremium von besonders klugen und / oder besonders moralischen Menschen - das kann aber auch zusammengehen - zu delegieren. Hier geht es um das Spannungsfeld zwischen dem Machbarem und dem, wenn Sie so wollen, Fühlbaren. Sicherlich kann ein Ethikrat dabei helfen, dieses Spannungsfeld auszuloten. Das wäre auch wirklich hilfreich. Voraussetzung für weise Entscheidungen der Gesellschaft, die dann auch von der Gesellschaft akzeptiert beziehungsweise getragen werden, ist jedoch umfassende Information. Daran mangelt es bislang. Genau das müssen wir ändern, und wir werden es ändern.

Ich komme auf das zurück, was ich im Zusammenhang mit der BSE-Krise gesagt habe. Wir alle müssen uns wieder darauf besinnen, dass Politik - das gilt nicht nur für die Landwirtschaftspolitik - von den Menschen her gedacht werden muss und nicht von den Institutionen und Apparaten. Genau so wie der Landwirt am Ende nur überleben wird, wenn der Kunde seinem Produkt Vertrauen schenkt, kann eine Gentechnik nur akzeptiert werden, wenn die Menschen dieser Wissenschaft vertrauen. Eben das geht nur, wenn sie einerseits um die wissenschaftlichen Erkenntnisse wissen, aber auch um ihr Aufgehobensein in einer guten, in einer solidarischen Gesellschaft, in der jede und jeder am Wissen und am Wohlstand teilhat, aber auch - so weit das irgendwie geht - an den Möglichkeiten der Kritik, und in der Mitgefühl nicht in Parteiprogrammen formuliert werden muss, sondern selbstverständlicher Alltag einer Gesellschaft ist, der auf möglichst umfassende Teilhabe beruht. Nichts ist so anfällig für politische Demagogie wie Unsicherheit. Jeder, der sich das schon einmal zu Nutze gemacht hat - wer ist frei davon - , weiß das.

Ich habe über zwei außerordentlich verunsichernde Themen gesprochen, und dabei noch nicht einmal erwähnt, was uns alle unsicher macht - die Globalisierung, die Auflösung der klassischen Arbeitsgesellschaft, die Zukunft der sozialen Sicherungssysteme. Aber wenn ich es nicht erwähnt habe, heißt das noch nicht, dass ich das heute Abend beiseite lassen will. Es ist vielmehr so, dass wir Sicherheit in Zeiten rasanter Veränderung nur garantieren können, wenn wir uns auf ein paar zentrale Prinzipien besinnen. Ich glaube, das sind die Prinzipien der Teilhabe und - so sperrig das Wort auch klingt; damit werden wir nicht so viele Probleme haben - der Subsidiarität.

Die Welt, in der wir leben, honoriert den Individualismus. Man muss und darf sich davor nicht fürchten, sofern es um die Entfaltung individueller Fähigkeiten und Möglichkeiten geht. Aber Individualismus - das sage ich nicht nur als Sozialdemokrat - sollte nicht mit Vereinzelung verwechselt werden. Das wäre ganz falsch. Die Menschen in unserer Gesellschaft laufen Gefahr, an Individualität zu gewinnen, aber an Zusammenhalt zu verlieren. Wir sollten also den Blick schärfen. Obwohl es seit gut 100 Jahren in Mode ist, die Familie totzusagen, ist sie als Beziehungsgeflecht verwandter Personen aus verschiedenen Generationen von - ich räume das ein - auch mich beeindruckender Vitalität. Diese Vitalität hängt auch mit ihrer Wandlungsfähigkeit zusammen.

Diese Wandlungsfähigkeit zu stärken - auch in diesem Zusammenhang - und zu unterstützen ist auch eine Forderung an die Politik. Das meint - ich sage das hier wirklich in großer Freundlichkeit - nicht eine Bevölkerungspolitik neuer Art. Wir müssen uns dessen bewusst sein, dass staatliche Prämien - ganz gleich, in welcher Höhe - , keinen Kinderreichtum auslösen werden. Mich beunruhigt an dem Prämienmodell das darin zum Ausdruck kommende Leitbild. Es ist vormodern, weil es Frauen allein auf die Rolle als Mutter und Hausfrau beschränken will, eine Rolle, die ich keineswegs klein reden möchte, die aber die Wahlmöglichkeiten einschränkt.

Ich denke, die Menschen haben ein sehr intensives Bedürfnis nach Sicherheit. Deswegen wissen sie auch sehr genau, dass Familienpolitik Gesellschaftspolitik ist, dass es darum geht, im engsten Rahmen zugehörig zu sein und dabei vom Staat durchaus unterstützt zu werden. Deshalb ist es für einige so schwer zu begreifen, dass ausgerechnet eine rot-grüne Koalition die ökonomische Modernisierung und die kulturelle Vielfalt als Markenzeichen hat, mehr und bessere Familienpolitik macht.

Die Auflösung traditioneller sozialer Bindungen und Milieus, die den Menschen immer auch ein notwendiges Maß an Verlässlichkeit und Geborgenheit vermittelt haben, löst - das ist ganz unzweifelhaft - eine Suchbewegung aus. Das Bedürfnis nach Nähe und Sicherheit geht gerade in der individualisierten Gesellschaft nicht verloren. Und mehr denn je suchen die Menschen diese Nähe und Geborgenheit in ihrem unmittelbaren sozialen Umfeld. Dafür muss und soll Politik etwas tun, ob in der Nachbarschaft, im Freundeskreis, unter Kollegen oder aber eben vor allem in der Familie. Für mich gibt es keinen Zweifel: Es ist eine ganz vordringliche Aufgabe, diese sozialen Netzwerke, um sie einmal so zu nennen, in der unmittelbaren Lebenswelt der Menschen zu fördern und zu stabilisieren. Sonst werden sie mit Globalisierung im wahrsten Sinne des Wortes nicht fertig. Wir wollen schließlich miteinander eines: Eine Gesellschaft, die als human und lebenswert nicht nur objektiv analysiert, sondern von den Menschen subjektiv auch so empfunden wird. Sonst hilft nämlich jeder Hinweis auf objektive Gegebenheiten nicht.

Auch in 30 oder 40 Jahren wird es diese Art von Familien geben. Die sind dann so verschieden, dass es sich verbietet, von "der" Familie zu sprechen. Doch bei aller Vielfalt in ihren Formen wird Familie vor allem den einen Zweck behalten: Kindern ein sicheres, soziales Netz zu bieten, in dem sie weitgehend ohne Angst groß werden können. Trotz aller Klagen über den Verfall der Familie, erfüllt sie übrigens ihren Sinn ziemlich gut. 85 Prozent aller Kinder und Jugendlichen unter 16 Jahren wachsen heute bei beiden Elternteilen auf. Das klingt angesichts anderer Ziffern unwahrscheinlich, ist aber so.

Wir sollten nicht vergessen: Die Vorstellung von dem, was Familie ausmacht, variiert mit den Zeiten. Rang und Bedeutung sind der Familie schon immer durch die vorherrschende politische Kultur zugewiesen worden. Männer und Frauen, die Sicherheit und Selbstbestimmung wollen, haben heute ganz konkrete Erwartungen: Die Frauen wollen auch erwerbstätig sein. Wir müssen die Möglichkeiten, dies zu realisieren, vervielfältigen - auch wenn die Frauen Mütter sind. Sie erwarten die Vereinbarkeit von Familie und Beruf und einen verlässlichen Rahmen dafür. Das setzt die Gleichheit der Beschäftigungsfähigkeit voraus und verlangt die Anpassungsfähigkeit von Familien und Betrieb.

Übrigens: Das ist auch eine ökonomische Forderung. Wir leisten uns im Moment eine Diskussion über die Frage, wie wir kreative, gut ausgebildete Menschen, die wir in den unterschiedlichsten Bereichen brauchen, nach Deutschland bekommen. Aber wir sollten einmal eine Diskussion darüber führen, dass wir sie längst haben und einen Rahmen schaffen müssen, damit glänzend ausgebildete Frauen, die eine bewusste Entscheidung für Familie und Kinder getroffen haben, ihren Beruf nicht, jedenfalls nicht auf Dauer und nicht immerzu, aufgeben müssen. Ich denke, da ist noch viel zu tun, auch für uns. Ich sage das durchaus selbstkritisch. Was die Gleichheit der Beschäftigungsfähigkeit angeht, haben wir Fortschritte erzielt. Mit gezielten Maßnahmen bei Bildung und Qualifizierung für Mädchen und junge Frauen haben wir die Berufsperspektiven und die Vermittlungschancen auf dem Arbeitsmarkt verbessert. Was die Anpassungsfähigkeit von Familie und Betrieb angeht, gibt es - so glaube ich - eine ganze Menge an sozialen Verbesserungen, im Übrigen erst jüngst beschlossen, nicht nur für Frauen, sondern auch für Männer.

Dennoch: Bei der Kinderbetreuung haben wir in Deutschland immer noch einen großen Nachholbedarf. Vom europäischen Standard sind wir, insbesondere in den alten Bundesländern, weit entfernt. Man sollte ernsthaft versuchen, es gemeinsam zu verändern. Es gibt Untersuchungen, die darauf hinweisen, dass die Kinder, die wir brauchen und wollen und gerne wollen, von jungen, modernen Frauen dann - und nur dann - geboren werden, wenn sie dafür nicht auf alles, was sie darüber hinaus noch interessiert, verzichten müssen. Das ist mit Geld nicht zu leisten, sondern nur mit einem Rahmen, der ihnen diese Möglichkeiten verschafft.

Damit es überhaupt keine Fragen oder Missverständnisse gibt, muss ich hier natürlich sagen, obwohl wir ja fast unter uns sind, dass wir das Kindergeld natürlich weiter erhöhen werden. Worum es mir hier geht, ist aber: Wir wollen den Menschen in den Mittelpunkt der Politik stellen und wollen, dass die Menschen in ihren Zusammenhängen gut leben und sich entfalten können. Dazu gehört eine Menge an Reformmaßnahmen, die wir auf den Weg gebracht haben und weiter auf den Weg bringen werden. Dazu gehören übrigens auch Themen wie das Staatsbürgerschaftsrecht, das wir verändert haben. Dazu wird es ein modernes Zuwanderungsrecht geben, das - ich sage es hier glasklar - im Übrigen nicht auf die Deutschland gut anstehende Großzügigkeit, ein vernünftiges Asylrecht zu besitzen, verzichten wird. Das wird es nicht geben, jedenfalls nicht mit meiner Zustimmung.

Ich glaube, dass Orte wie dieser gut geeignet sind, um einen Wunsch zu äußern. Hier ist eine Menge an Politik und Politikkonzepten formuliert worden. Hier hat man immer darauf bestanden, dass Politik von den Menschen her zu denken ist, nicht von Ideologien her, aber durchaus nicht frei von Utopien. Das soll man nicht verwechseln; denn das würde diejenigen, die über den Tag hinaus denken wollen und müssen und Freude daran haben, diskreditieren. Ausgehend von der Lebenswirklichkeit ist das Streben danach, die Lebenswirklichkeit zu verbessern, etwas, was viele von uns für die Politik gewonnen hat und das sie immer noch begeistert, selbst in diesen schwierigen Zeiten Politik zu machen. Und wir hoffen, dass es durch das Beispiel, das an Orten wie diesem gegeben wird, auch nach uns, Herr Landesbischof, noch "Enkel" geben wird. Ich beschäftige mich gerade damit, solche zu finden, weil ich selber einmal einer war. Ich bin ganz sicher, dass ich fündig werde.

Herzlichen Dank für die Möglichkeit, hier zu reden. Und hohen Respekt, Herr Direktor, für Ihre Arbeit, von der ich manches gelesen habe.