Redner(in): Julian Nida-Rümelin
Datum: 18.01.2001
Anrede: Anrede,
Quelle (evtl. nicht mehr verfügbar): http://archiv.bundesregierung.de/bpaexport/rede/27/31227/multi.htm
Anrede Wenn ich mich nicht irre, wurde heute vor 130 Jahren der preußische König Wilhelm in Versailles zum deutschen Kaiser ausgerufen. Das war erst möglich, nachdem der bayerische König ihm die Kaiserwürde angetragen hat. Ich halte das für eine gute Verbindung, aber - verstehen Sie die Tendenz nicht falsch - dass sich Bayern zunehmend Berliner oder, wenn Sie so wollen, preußischen Dienstherren unterstellen: Bayern und Preußen sind dennoch gleichberechtigt. Das wird auch - so habe ich es verstanden - durch die Anwesenheit des in Bayern für Kunst und Wissenschaft zuständigen Staatsministers auf der Bundesratsbank unterstrichen. In den 70er-Jahren hat es einen großen Aufbruch gegeben. Es ist vielleicht nur ein Gebot der Fairness, daran zu erinnern, dass dieser Aufbruch - ein Aufbruch zu neuen Ufern der Kulturpolitik, ein Paradigmenwechsel - politisch sehr umstritten war. Es ging im Kern darum, von einem - ich sage das ganz bewusst, auch wenn ich vielleicht familiär aus einer ähnlichen Tradition komme - bildungsbürgerlich verengten Kulturbegriff wegzukommen und die Partizipation, die Teilhabe oder - so könnte man in einem nächsten Schritt sagen - die kulturelle Verfasstheit dieser Gesellschaft ernst zu nehmen. In meinen Augen ist dieser Aufbruch in einem Maße erfolgreich gewesen, wie es wohl die Protagonisten dieser Zeit selbst kaum erwartet haben. Da will ich vielleicht noch etwas deutlicher werden, als in der Ihnen schriftlich vorliegenden Antwort der Bundesregierung. Alle statistischen Daten zeigen, dass die kulturelle Partizipation der Bevölkerung in Deutschland in einem Maße angestiegen ist, und dass das letztlich eine Folge dieser Jahre des Aufbruchs ist, wie wir alle es im Grunde - oder die, die damals aktiv waren - nicht haben erhoffen können. Das ist erst mal ein toller Erfolg, ein Erfolg der Kulturpolitik insgesamt in Deutschland. Drei Dinge sind wesentlich für mich und ich habe - auch aus zweieinhalb Jahren Erfahrung mit Kulturpolitik in der Kommune München - den Eindruck, dass das unterdessen eine Art politischer Konsens ist: - zum Ersten: Erweiterter Kulturbegriff, also nicht die besagte Engführung; zum Zweiten als ein zentrales Ziel - und das hängt mit dem ersten zusammen: Partizipation, die Einbeziehung auch derjenigen, die von ihrer Sozialisation, von ihrem sozialen Hintergrund her Zugangsbarrieren vor den kulturellen Angeboten überwinden müssen; und schließlich - und das wird in den nächsten Jahren und Jahrzehnten immer wichtiger werden - der Aspekt der kulturellen Integration. In einem Land, das so stark wie das unsere von Einwanderung geprägt war - das ist unterdessen auch weithin anerkannt - und in Zukunft von mehr Einwanderung geprägt sein wird, ist das eine Herausforderung an die Kulturpolitik insgesamt. Mein Eindruck ist, dass die Soziokultur die Grundlage für ein solches Verständnis kultureller Integration gelegt hat. Jetzt bringe ich noch ein Aber. Dieses Aber nehme ich sehr wichtig, es darf aber auch nicht missverstanden werden. Wenn Sie zurückblicken, stellen Sie fest: Seit den 70er-Jahren hat es mehrere Versuche gegeben, die Kulturpolitik zu instrumentalisieren. Ich halte keinen dieser Versuche für die Kultur, für die Rolle der Kunst, auch dem Stellenwert, den Kultur in der Lebensform jedes Bürgers und jeder Bürgerin einnimmt, für angemessen. Weder die ökonomische Instrumentalisierung, die wir vor allem aus den 80er- und den frühen 90er-Jahren sehr stark in Erinnerung haben - der Standortfaktor Kultur kann nicht alles sein; es kann ein Randaspekt sein, ist aber nicht das zentrale Moment - , noch die soziale Instrumentalisierung. Kultur legitimiert sich nicht lediglich dadurch, ein soziales Bindemittel zu sein und die Beteiligung an kulturellen Einrichtungen zu erleichtern. Meine Vorredner haben die wesentlichen Daten schon genannt. Es kann keine Rede davon sein, dass die Soziokultur ihren Höhepunkt etwa überschritten habe und ihre Bedeutung nun wieder zurückgehe - die Daten sind in der Antwort enthalten - : Es gibt ein Plus von 30 Prozent zwischen 1994 und 1998 auf 22 Millionen Besucher und eine Gesamtförderung in Höhe von 160 Millionen DM. Eine Zahl aber ist nicht genannt worden und die finde ich faszinierend: Bei dem Gesamt der kulturellen Angebote in den Kommunen, in den Ländern und auch im Bund sind die Adressaten in der Tendenz älter als der Bevölkerungsdurchschnitt. Daneben gibt es eine spezifische Förderung der Jugend- und Kinderkultur, also der Phase der kulturellen Entwicklung, die noch sehr stark von der Familie geprägt ist. Die Jahre dazwischen - also von etwa 15 bis 30 Jahren - sind für die Kulturpolitik nicht so stark prägend. Typischerweise entfernen sich diese Jahrgänge stärker von den kulturellen Angeboten der Kommunen und der Gemeinden. Auch dazu gibt es Daten, allerdings nicht in dieser Antwort. Das Interessante ist, dass 50 Prozent der Besucher soziokultureller Einrichtungen zwischen 15 und 30 Jahre alt sind. Das ist ein weit überproportionaler Anteil an der Bevölkerung. Das ist ein großes Kompliment für diese kulturellen Einrichtungen. Es ist von den Gefahren gesprochen worden und es wurde zu Recht darauf hingewiesen, man solle beachten, dass gerade die Einrichtungen der Soziokultur unter den in den Kommunen gegebenen beengten finanziellen Bedingungen oft in Schwierigkeiten geraten. Darauf ist nur am Rande eingegangen worden, aber ich möchte das in Erinnerung rufen. Auch dieser Punkt ist in der Antwort enthalten. Es gibt zudem eine spezifische Herausforderung, die ich darin sehe, dass der Markt Angebote unterbreitet, die er früher nicht unterbreitet hat. Das kann man erst einmal begrüßen. Es ist gut, wenn der Markt kulturelle Angebote macht, die auch nachgefragt werden. Darin liegt aber auch eine Gefahr. Und zwar könnte das öffentliche Gut Kultur - öffentliches Gut heißt auch zugängliches Gut, ein Gut, das für alle gleichermaßen zugänglich ist - zu einem teilbaren, zu einem individuellem Gut werden, das je nach Geldbeutel konsumiert wird; bitte erlauben Sie diesen unpassenden Begriff aus der Ökonomie. Deswegen halte ich es für ganz wichtig, dass man die soziokulturellen Zentren angesichts dieser Konkurrenz stärkt. Ich möchte drei Stichworte zu den Perspektiven nennen: Erstens, viele soziokulturelle Einrichtungen bedürfen heute der professionellen Unterstützung in einem höheren Maße, als das in der Vergangenheit der Fall war - eine Erfahrung, die ich auch in München gemacht habe. Das hängt auch mit dem Verhalten der Bürgerinnen und Bürger zusammen, die langfristige Bindungen und Engagement in der Form, wie wir das aus der Vergangenheit kannten, so nicht mehr praktizieren. Als Stichwort ist also Teilprofessionalisierung zu nennen. Zunehmende Professionalisierung in diesen Einrichtungen widerspricht nicht dem zivilgesellschaftlichen Gedanken. Als zweites Stichwort ist die interkulturelle Verständigung zu nennen. Interkulturelle Verständigung ist eine ganz wichtige Aufgabe soziokultureller Zentren, und zwar nicht in dem kollektivistischen Verständnis, dass sich lediglich Gruppen begegnen. Es begegnen sich immer einzelne Bürgerinnen und Bürger. Keine Klischees, keine simplen, oft auf Folklore verkürzten Verständnisse der kulturellen Herkunft, sondern die Begegnung der Bürgerinnen und Bürger mit ihrer jeweiligen kulturellen Vielfalt stehen im Vordergrund. Zum Dritten möchte ich schließlich etwas ansprechen, das weit über den Bereich der Soziokultur hinausreicht. Durch die stärkere Integration gerade der zeitgenössischen, oft unbequemen Kunst müssen neue inhaltliche Impulse in die Lebenswelt der Bürgerschaft ausgesendet werden. Das kann nirgendwo besser als in soziokulturellen Zentren geleistet werden. Weil dies der Beginn einer Zusammenarbeit ist, erlauben Sie mir zum Schluss, dass ich drei Stichworte für die Kulturarbeit und die Kulturpolitik generell aufgreife, die auch für die Soziokultur eine wichtige Rolle spielen. Das eine ist - darum muss es uns gemeinsam gehen - , die Balance zwischen Repertoire und Innovation zu wahren oder, wo sie nicht besteht, herzustellen. Wir müssen aufpassen, dass die Fortentwicklung der Künste keinen Fadenriss bekommt. Es gibt Sparten, um die ich mir Sorgen mache, zum Beispiel E-Musik. Also: Innovation stärken. Das Repertoire ist stark, muss aber natürlich gefördert werden. Wir müssen aufpassen, dass wir die zeitgenössische Kunstentwicklung nicht aus dem Blick verlieren. Zweites Stichwort: Die eigentlichen Protagonisten der Kultur sind die Künstlerinnen und Künstler. Sie schaffen und arbeiten unter oft sehr schwierigen Bedingungen. Es besteht nach wie vor ein krasses Missverhältnis zwischen dem expandierenden Markt mit künstlerischen Produkten auf der einen Seite und den Existenzbedingungen der vielen, der großen Mehrzahl der Künstlerinnen und Künstler in diesem Land auf der anderen Seite. Ich glaube, die Förderung der eigentlichen Protagonisten der Kultur muss im Mittelpunkt jeder Kulturpolitik stehen. Letztes Stichwort: Zivilgesellschaft. Sie wurde heute schon angesprochen. In den soziokulturellen Zentren ist ein Ferment zivilgesellschaftlichen Engagements. Sie stehen an der Schnittstelle zwischen Staat und bürgerschaftlichem Engagement. Ohne staatliche Unterstützung würden viele soziokulturelle Zentren nicht existieren können. Das heißt, sie sind gewissermaßen ein Angebot in der demokratischen Gesellschaft an die Bürgerschaft und an den Staat, zusammenzuwirken, um diese Form von Kooperationen aufrechtzuerhalten. Die Zivilgesellschaft ist etwas, das gerade unter den erschwerten Bedingungen von Desintegration und sozialer Marginalisierung besonders auch in den Städten bedroht ist. Die Zivilgesellschaft muss das aushalten und Gegenkräfte entwickeln. Die Kulturpolitik - auch die Kulturpolitik des Bundes - wird, so hoffe ich, dazu beitragen. Ich jedenfalls freue mich sehr auf die Zusammenarbeit mit Ihnen.