Redner(in): Rolf Schwanitz
Datum: 20.01.2001

Anrede: Anrede,
Quelle (evtl. nicht mehr verfügbar): http://archiv.bundesregierung.de/bpaexport/rede/34/29534/multi.htm


Über die Lage in den neuen Ländern findet - so mein Eindruck - derzeit ein Wettstreit um die originellste Analyse und den originellsten Vorschlag zur Veränderung statt. Mit den teilweise überzeichneten konträren Positionen laufen wir Gefahr, dass sich die Bürger am Ende enttäuscht von der Politik abwenden. Wenn wir dem Aufbau Ost dienen wollen, brauchen wir eine sachgerechte Analyse. Nur auf dieser Grundlage können wir uns realistische Ziele setzen und über Aktionen, nicht Aktionismus, klar werden, die dorthin führen.

Zum Beispiel zitiert Wolfgang Thierse in seinem Papier für sich betrachtet völlig richtige Fakten: Das gesamtwirtschaftliche Wachstum in den neuen Ländern liegt seit rund vier Jahren unter dem Wachstum der alten Länder. Produktivität, Einkommen und Arbeitslosigkeit - zuletzt waren es gut 17 % und damit rund 10 Prozentpunkte mehr als im Westen - scheinen im Vergleich zum Westen wie festgezurrt. Allerdings sehe ich die Investitionsentwicklung der ostdeutschen Unternehmen optimistischer. Die Ausrüstungsinvestitionen im Verarbeitenden Gewerbe liegen je Beschäftigten deutlich über den Zahlen in westdeutschen Unternehmen.

Gibt aber diese Auswahl an Fakten das Bild Ostdeutschlands angemessen wieder? Bei sachgerechter Einschätzung stellt sich die Entwicklung differenzierter dar. Wer hinter die Kulissen schaut, wird feststellen, dass das Verarbeitende Gewerbe seit Jahren große Zuwachsraten hat; im gerade zu Ende gegangenen Jahr waren es fast 13 % . Man kann beklagen, dass dies heute von einer zu schmalen Basis aus geschieht - aber das sind Schlachten um Entscheidungen von gestern. Die ostdeutsche Wirtschaft befindet sich gegenwärtig auf dem Weg der Reindustrialisierung. Sie kann wieder an industrielle Traditionen anknüpfen. Selbst in totgesagten Branchen wie der Textilindustrie eröffnen sich neue Perspektiven. Und wer unbedingt den Vergleich zum Mezzogiorno ziehen möchte, der sollte wissen, dass dort gerade einmal 100.000 industrielle Arbeitsplätze über die Jahrzehnte der Förderung entstanden sind. Genau so viele Menschen sind heute in den neuen Ländern allein in der Automobilindustrie beschäftigt.

Die Arbeitslosigkeit im Osten ist noch zu hoch. Insbesondere die Bauwirtschaft ist heute das Opfer einer verfehlten Förderpolitik vergangener Jahre. Mit teuersten Steuerabschreibungsmodellen wurde ein künstlicher Wachstumsschub finanziert, der gestern zu Wohnungs- und Büroleerstand und heute zu einem schmerzhaftem Anpassungsprozess führte. Wachstum und Arbeitsmarkt in Ostdeutschland leiden schwer unter dieser Bürde. Sie ist der Hauptgrund für die unterschiedlichen Wachstumsgeschwindigkeiten der Konjunktur zwischen Ost und West. Deshalb braucht Ostdeutschland auf absehbare Zeit noch öffentlich geförderte Arbeit. Daran wird es keine Abstriche geben. Besonders für die Jugendlichen wird mit verstärkten Programmen ( z. B. JUMP ) ein Beitrag zu ihrer Integration in den Arbeitsmarkt geleistet - durchaus mit Erfolg, wie unabhängige Experten feststellen.

Die zentrale Frage aber lautet: Können wir den Entwicklungs- und Anpassungsweg des Ostens künstlich verkürzen? Schön und wünschenwert wäre das ja.

Aber der Staat kann nicht wie Harry Potter mit einem Zauberstab über die neuen Länder fliegen und diesen Weg auf wenige Jahre verringern. Wichtiger ist deshalb, den Aufbau hin zu einer modernen wettbewerbsfähigen Wirtschaftsstruktur zu fördern. Ostdeutschland braucht vor allem Industrie. Dort findet der Wertschöpfungsprozess statt. In deren Sog wird die Dienstleistungswirtschaft wachsen. Das zieht Wissenschaftler und Hochschulabsolventen an, die heute in den neuen Ländern studieren. Es geht bei einer differenzierten Beschreibung der Lage nicht um ein Übertünchen der Probleme, sondern um Orientierung, was wir sinnvollerweise tun können und wo wir bei der Förderung des wirtschaftlichen Aufbauprozesses ansetzen müssen.

Deshalb sollte an die Entwicklung der neuen Länder nicht immer nur die westdeutsche Meßlatte gelegt werden. Ein solcher Vergleich verstellt eher den Zugang zu den Problemen. Jeder, der die Bürger Glauben macht, die ehemals planwirtschaftlich geführte DDR könne durch einen wundersamen staatlichen Eingriff insgesamt auf westdeutsches Niveau gehoben werden, irrt über den Weg und das Ziel gleichermaßen. Der Weg Ostdeutschlands muss ein anderer, ein eigener sein. Je eher wir die Prinzipien der Marktwirtschaft in Ostdeutschland akzeptieren, um so mehr können wir uns zum Subjekt unserer eigenen Entwicklung machen. Die Menschen dazu in die Lage zu versetzen, muss Ziel unserer Politik sein.

Die Politik muss deshalb realistische Perspektiven aufzeichnen, und sie muss den Menschen auf ihren Entwicklungswegen helfen. Der Bundeskanzler hat im Mai letzten Jahres gegenüber den Ministerpräsidenten der neuen Länder einen weiteren Solidarpakt zugesichert, der das Niveau der Hilfe für die ostdeutschen Länder weit über die Zeit nach 2004 hinaus sichert. Denn wir wollen die positiven Entwicklungen langfristig stärken und finanzielle Sicherheit für Länder, Kommunen, Investoren und Bürger auch nach 2004 gewährleisten. Dass der Bund dies tun kann, ist ein Verdienst der Haushaltssanierung dieser Regierung. Nur handlungsfähige Finanzminister sind in der Lage, langfristige Zusicherungen machen zu können.

Aber mit Geld allein ist es nicht getan. Mindestens ebenso wichtig ist es zu entscheiden, wie und wo das Geld eingesetzt werden soll. Das Bild von der Gießkanne entspricht dabei schon längst nicht mehr der Realität. Die Sonderabschreibungen wurden abgeschafft und auch die Investitionsförderung wurde durch die Bundesregierung in den zwei Jahren ihrer Verantwortung für den Aufbau Ost gerade nach innovativen und regionalen Gesichtspunkten geändert. Sie wurde auf das Verarbeitende Gewerbe konzentriert, Modernisierungs- und Erweiterungsinvestitionen werden mehr als vorher gefördert. Die Grenzregionen zu Polen und Tschechien erhalten eine höhere Förderpräferenz.

Ständig evaluiert und neu ausgerichtet werden auch die anderen Instrumente der Förderpolitik.

Unsere Schwerpunkte dabei sind: Innovation, Investition und Infrastruktur. Die innovativen Potenziale der ostdeutschen Unternehmen werden gestärkt. Nach dem Zusammenbruch der ostdeutschen Forschungslandschaft gibt es einen großen Nachholebedarf. Dabei ist zu berücksichtigen, dass die ostdeutsche Wirtschaft bis heute nur über wenige forschungsintensive Großunternehmen verfügt. Industrielle Forschung wird heute von kleinen und mittleren Unternehmen getragen. Sie müssen deshalb in die Lage versetzt werden, neue Produkte und Verfahren zu entwickeln, um im Wettbewerb erfolgreich sein zu können. Deshalb wurde die Forschungsförderung auf sie konzentriert und ausgebaut. Mit unserem neuen Programm InnoRegio steigen wir in eine regionalisierte Innovationsförderung ein. Hier werden sich 25 Modellregionen im Osten entwickeln mit neuen Arbeitsplätzen für die Zukunft.

Eine unabdingbare Voraussetzung für Innovation und Investitionen ist die Verkehrs-Infrastruktur. Hier wird keineswegs gekleckert. Rund die Hälfte aller Infrastrukturinvestitionen des Bundes geht in die neuen Länder; beim Straßenbau sogar 60 Prozent. Mit zusätzlichen EU-Mitteln werden wichtige Projekte zeitlich vorgezogen. Die A17 von Dresden nach Prag oder die moderne Verbindung zur Insel Rügen wären ohne zusätzliche Fördermillionen nicht denkbar.

Die nach dem Regierungswechsel 1998 neu ausgerichtete, aber im Umfang nicht geschmälerte Förderung wird von vielen nicht mehr als spektakulär wahrgenommen. Sie ist gewissermaßen medialer Alltag. Alarmsignale haben es da leichter.

Ganz sicher steckt in uns allen Ungeduld und der Wunsch nach schneller Normalität. Dafür habe ich viel Verständnis. Aber Illusionen haben ihre Grenzen. Wer sich von ihnen einlullen lässt, landet mit einem harten Aufprall in der Realität. Die neuen Länder voranbringen heißt: couragiert nach vorn schauen, Verantwortung übernehmen, kreativ, flexibel und tatkräftig sein. Das war bisher so und so wird es bleiben.

Quelle: Berliner Morgenpost vom 20. 01. 2001