Redner(in): Julian Nida-Rümelin
Datum: 26.01.2001
Untertitel: Während einer Podiumsdiskussion am 26. Januar 2001 im Goethe-Institut München äußerte sich Kulturstaatsminister Nida-Rümelin in seinem Statement und in der anschließenden Diskussion zum Thema: Wege zu einer europäischen Identität: Europäisches Jahr der Sprachen 2001 und deutsche Sprach[en]politik:
Anrede: Anrede,
Quelle (evtl. nicht mehr verfügbar): http://archiv.bundesregierung.de/bpaexport/rede/57/34457/multi.htm
Podiumsdiskussion am 26. Januar 2001 im Goethe-Institut München
Sie haben mich ja eingeladen, da war ich noch Kulturreferent in München und es war weder für mich noch für sonst jemanden abzusehen, dass das so plötzlich schon wieder zu Ende ist. Ich bin der Einladung dann gerne nachgekommen, nachdem die Einladenden dabei geblieben sind, mich zu dieser Podiumsdiskussion zu bitten. Ich habe zwar einige Informationen vorbereitet, was die Rolle des Bundes angeht. Aber ich fürchte, ich werde doch im Wesentlichen das beitragen, was ich auch als Kulturdezernent von München getan hätte, nämlich einige grundsätzliche Anmerkungen zur Rolle der Sprachen für die Kultur zu machen.
Zunächst möchte ich einen Schritt zurück gehen und generell etwas zum Verständnis von Sprache sagen. Es gibt von Ludwig Wittgenstein die These, dass die Sprache eine Lebensform sei. Wittgenstein und einige andere Philosophen dieser Zeit - Gilbert Ryle und John Langshaw Austin gehören ganz wesentlich dazu - haben eine Revolution eingeleitet, wie Sprache analysiert und verstanden werden kann. Diese Revolution hat Vorläufer übrigens interessanterweise gerade in der deutschen oder deutschsprachigen Philosophie. Aber sie hat sich erst in den 30-iger, 40-iger Jahren dieses Jahrhunderts wirklich durchgesetzt. Die Sprache war Jahrhunderte zuvor in erster Linie als ein Mittel der Information verstanden worden, als ein Mittel, um über die Welt zu sprechen, wie sie ist. Und mit dieser Phase der Philosophie ändert sich das. Wittgenstein hat dabei sicher die tiefsinnigste Analyse geliefert, die ich hier nicht wiederholen kann, die ich aber im Kern für richtig halte. Nämlich dass Sprache erst richtig verstanden wird, wenn sie in einen Handlungsrahmen gestellt wird. Oder anders gesagt, dass man Sprache nur versteht, wenn man weiß, was Menschen an Handlungen vollbringen, die Sprache benutzen, sich also sprachlich äußern. Das heißt, es geht im Kern - was bei Wittgenstein leider nicht mehr näher analysiert wird - um den Austausch von Absichten. Absichten sind für Handlungen konstitutiv. Menschen äußern etwas, sie verfolgen mit diesen Äußerungen Absichten. Andere versuchen, aufgrund dessen, was da gesagt worden ist, diese Absichten zu verstehen. Und das alles ist, wenn man es zu Ende denkt, in der Tat so etwas wie eine Lebensform. Dass heißt, die Art und Weise, wie wir leben, äußert sich in der Art und Weise, wie wir kommunizieren. Das macht erst verständlich, dass wir Sprachenlernen als einen Schlüssel zum Verständnis einer anderen Kultur begreifen. Also Sprache nicht in erster Linie als etwas, was man vielleicht im Geschäftsleben verwendet, um sich rechtzeitig zu informieren, sondern als Zugang zu den Absichten, Wünschen, Hoffnungen, Ängsten von Menschen. Die Analyse der Sprache schlüsselt den gesamten Komplex auf, in dem die jeweiligen individuellen und kollektiven Lebensform eingebettet sind.
Um etwas konkreter zu werden - wie gehen wir damit um, dass etwa die deutsche Sprache international, das ist ausführlich dargestellt worden, heute eine ganz andere Rolle spielt als im 19. Jahrhundert? Ist die Forderung richtig - ich halte sie für richtig - , dass die Kulturpolitik dem Markt entgegen steuern muss? Aber mit welchem genauen Ziel muss die Kulturpolitik das eigentlich tun? Es gibt einen Bedarf nach einer lingua franca, das war über viele Jahrhunderte hinweg das Lateinische, übrigens interessanterweise in einer vereinfachten Form im Vergleich zum klassischen Latein. Die Wissenschaftssprache Latein war schon deutlich verarmt gegenüber der Hochzeit in der römischen Klassik. Wir brauchen irgendeine Sprache dieser Art, die dafür geeignet ist, und das Englische bietet sich an. Das hat sich durchgesetzt, es hat sich als eine Art von lingua franca in weiten Teilen der Welt durchgesetzt. Mit allen Verarmungen, die damit auch einhergehen, die ich aber in dieser Funktion nicht für kritikwürdig halte. Sie können mich selbst als Beispiel nehmen - ich bin in der Lage, leidlich philosophische Aufsätze auf Englisch zu schreiben, auch einen Vortrag auf Englisch zu schreiben, ohne dass das noch ein "Native-Speaker" durchgeht. Da sind vielleicht Fehler drin und die Grammatik ist sehr einfach, aber im großen und ganzen wird das von den Zeitschriften akzeptiert. Obwohl ich einige Zeit in den USA gelebt habe, bin ich aber z. B. in Geschäften ziemlich aufgeschmissen. Wenn ich in den USA bin und beispielsweise Schrauben kaufen soll, brauche ich das Lexikon.
Die Entschlüsselung der Lebensform ist nur zum Teil gelungen, trotzdem ist diese Verwendung des Englischen ganz wesentlich. Ich meine, wir könnten sonst keinen internationalen Diskurs führen über bestimmte Fragen, etwa in der Philosophie erst recht nicht in den Naturwissenschaften. Ich finde es auch ganz plausibel, dass die hochkarätigen deutschen wissenschaftlichen Zeitschriften ihre Artikel zunehmend auf Englisch publizieren. Und zwar von deutschen Autoren auf Englisch. Die wahrscheinlich führende philosophische Zeitschrift in Deutschland, die international am meisten rezipiert wird, hat, glaube ich, ein Verhältnis von 80 zu 20 Prozent. 80 Prozent der Artikel sind in Englisch, 20 Prozent in Deutsch. Das ist nötig, weil wir sonst keinen internationalen Diskurs zustande bringen. Also sollten wir das auch nicht beklagen. Was die deutsche Wissenschaftssprache angeht, ist der Zug in der Hinsicht weitgehend abgefahren.
Zu recht haben Sie einige Bereiche genannt, für die in der Tat ein besonders Interesse an der deutschen Sprache fortbesteht. Sie haben interessanterweise den Bereich der Philosophie ausgeklammert, doch der ist ganz wesentlich. Der Zugang etwa zu Kant, auch Heidegger, Wittgenstein, Hegel usw. ist ohne deutsche Sprachkenntnisse schwierig. Lassen Sie mich ein anderes Beispiel nennen: Ich habe auf einem Münchner humanistischen Gymnasium mein Abitur gemacht. Da ging es nicht so sehr darum, ob das Lateinische überlebt, was heute schon diskutiert wird, sondern ob das Griechische überlebt oder ob Französisch als Alternative zu Griechisch zugelassen wird. Ich gehörte zu den letzten Jahrgängen, für die der komplette Fächerkanon vorgesehen war, habe also vor der Kollegstufen- oder Oberstufenreform in Griechisch mein Abitur gemacht. Das hätte mir, glaube ich, heute nicht geholfen, griechische Texte wirklich zu lesen. Beim Abitur kann man aus der Ilias passagenweise leidlich übersetzen, drei Jahre später ist das aber ziemlich weg. Meine Erfahrung mit dem Griechischen ist insofern ein interessantes Phänomen, als ich mich dann während des Studiums um so intensiver mit der klassischen Philosophie auseinandergesetzt habe und plötzlich merkte, dass die deutschen Übersetzungen der griechischen philosophischen Texte schlicht unverständlich sind. Da wird der selbe Begriff a??? an vier verschiedenen Stellen mit vier verschiedenen deutschen Worten belegt und man versteht den inneren Zusammenhang nur schwer. Das heißt, diese Erfahrung, dass einem erst die Originallektüre des Griechischen klar macht, worum es hier eigentlich geht, und dass die deutschen Übersetzungen keinen Zugang ermöglichen, hat dann bei mir dazu geführt, dass ich im Nachhinein, lange nachdem das Abitur erledigt war, ganz ordentlich Altgriechisch gelernt habe. Das heißt, ich plädiere dafür, dass man nicht im internationalen Bereich einen Kampf fortführt oder aufnimmt, den wir nach meiner Auffassung endgültig verloren haben. Das Deutsche ist als internationale lingua franca, als internationale Wissenschaftssprache in den Naturwissenschaften, der Technik und der Wirtschaft tot, auch das Französische. Das bewegt sich im selben Prozentsatz. Das belegen Statistiken. Englisch wird sich immer weiter durchsetzen als die internationale Wissenschaftssprache. Und deswegen kann man gar nicht anders, als allen zu empfehlen: Lernt Englisch! Und zwar in dieser funktionalen Rolle. Wünschenswert ist es, bezüglich des Englischen, wie bezüglich jeder Sprache, dass darüber hinaus der Zugang zur Lebenswelt eröffnet wird.
Es ist bemerkenswert, dass in Europa jeder Versuch der kulturellen Hegemonie in einer Katastrophe geendet hat. Und die Deutschen haben dabei eine besondere historische Schuld. Dieses Europa ist auf Vielfalt festgelegt. Und wenn Menschen sich zunehmend neben ihrer nationalen oder regionalen, beispielsweise bayerischen Identität auch noch als Europäer im genuinen Sinne fühlen und die Konturen eines gemeinsamen Europa - übrigens in alten historischen Zusammenhängen - wieder entstehen, dann ist dieses Europa auf kulturelle Verständigung angewiesen, wie wahrscheinlich keine andere Region auf der Welt.
Die Öffnung der Europäischen Union nach Osten hin, zu den Nachbarkulturen, mit denen die deutsche Kultur historisch so eng verwoben ist, bietet die Chance, eine Atmosphäre der Neugier, der Verständigung und des Austausches zu schaffen, wie sie sich beispielsweise zwischen Frankreich und Deutschland entwickelt hat. Es ist eine faszinierende Aufgabe, das nachzuholen und Europa in seinen neuen Konturen, die insbesondere Richtung Osten unscharf sind, kulturell erfahrbar zu machen. Die sprachliche und kulturelle Vielfalt gehört essentiell zu diesem Europa. Und der beste Zugang zu den Nachbarkulturen vollzieht sich über die Sprache und zwar durchaus im Sinne eines Netzwerks: wechselseitige Interessen, die vielfältig sind, und aus den jeweiligen biografisch bedingten Interessen einzelner Heranwachsender entspringen - weil sie dort zum Beispiel einmal Urlaub gemacht oder sich verliebt haben. Entsprechend entstehen dann individuelle Vorlieben für europäische Nachbarsprachen.
Zum Abschluss noch etwas für mich wesentliches: Wenn Sprache eine Lebensform ist, dann wird Sprache dort gelernt, wo sie praktiziert wird. Natürlich auch im Unterricht. Aber primär dort, wo sie die Lebensform prägt. Ich will meinen für die Bildung zuständigen Kollegen nicht zu nahe treten, aber ich verstehe nicht ganz, warum es nicht gelungen ist, die besondere Fähigkeit Jüngerer zu nutzen, innerhalb weniger Monate Sprachen zu lernen. Die Entwicklungspsychologen sagen, das geht bis ins neunte, zehnte Lebensjahr. Mein fünfjähriger Neffe spricht jetzt gut Italienisch, Französisch und Deutsch fast fließend. Einfach weil seine Eltern zufällig in Fribourg leben und dieses spielerische Sprachenlernen fördern. Dieses Potenzial nutzen wir zu wenig. Also das biographisch frühe Eintauchen in eine andere Kultur und das spielerische Lernen einer Sprache. Es sollte zur normalen Schul-Biographie aller gehören, in frühen Jahren zusammenhängend einige Monate - besser wäre ein ganzes Jahr - im europäischen Ausland gelebt und gelernt zu haben.
Weitere Äußerungen von Staatsminister Nida-Rümelin während der Diskussion:
Ich warne vor jeder Sprachen- und Bildungspolitik, die versucht, das Englische wieder zurückzudrängen. Das ist die falsche Richtung. Aber wir müssen sehen, dass das Englische nicht andere Kulturen und andere Sprachen verdrängt. Es wäre töricht, sich darum zu bemühen, dass Englisch zum Beispiel in der internationalen wissenschaftlichen Verständigung hier auf dem europäischen Kontinent eine geringere Rolle spielen soll. Es ist wichtig, dass man eine internationale Verkehrssprache hat, die so selbstverständlich ist, dass sie in dem jeweiligen Feld auch wirklich praktiziert wird und zwar durchaus auch unter deutschen Molekularbiologen auf einem deutschen Kongress in Darmstadt. Als Präsident der Gesellschaft für analytische Philosophie habe ich jedoch auch Wert darauf gelegt, dass auf internationalen Kongressen in Deutschland neben Englisch auch Deutsch als gleichgewichtige Konferenzsprache gesprochen wird.
Ein weiterer Punkt ist, Frau Hohlmeier hat das angedeutet, dass der Sprachenunterricht an den Schulen oft hochgradig ineffizient ist. Da vergehen die Jahre und die Schülerinnen und Schüler sitzen in ihren Klassen und am Ende, wenn sie in dem Land sind, dessen Sprache sie im Unterricht gelernt haben, sind sie aufgeschmissen. Und deswegen noch einmal meine Anregung zu überlegen, ob wir nicht die bestehenden Austauschprogramme wie sie zum Beispiel zwischen Frankreich und Deutschland bestehen, wesentlich ausweiten sollten. Ich halte es für eine spannende Idee, ganze Schulklassen für ein Jahr in ein anderes europäisches Land zu verpflanzen. Dort können Sie spielerisch eine zweite, ich rede jetzt nicht von Englisch, sondern eine zweite europäische Sprache erlernen. Das wäre auch ganz wichtig für die entstehende europäische Identität.
Das Ziel wäre also, drei Sprachen zu beherrschen: Deutsch als Muttersprache, Englisch als Zweitsprache und möglichst früh eine dritte europäische Sprache, die einen Zugang zu der jeweiligen Kultur verschafft. Wer über eine besondere Begabungen oder Interessen verfügt, der wird dann noch weitere Sprachen erlernen. Das wäre ein bildungspolitisches Minimalziel, das durch den Austausch sehr viel leichter zu erreichen sein wird, als mit der ein oder anderen Stunde mehr im schulischen Sprachenunterricht.
Es wurde in der Diskussion darauf hingewiesen, dass Englisch in Skandinavien fast wie eine Zweitsprache gesprochen wird. Wie kommt das eigentlich? Sie werden das viel besser wissen als ich. Aber eine wesentliche Rolle spielt offenbar nicht nur die relative Kleinheit des Sprachgebietes, denn da gibt es Gegenbeispiele. Zum Beispiel die Schweiz. Oft wird gesagt: Wunderbar, in der Schweiz sind alle dreisprachig. Doch das ist Quatsch. Die Menschen in den verschiedenen Regionen sprechen oft nur eine Sprache. Da gibt es keine weitere Sprachkompetenz. Warum wird Englisch in Norwegen, in Schweden und in Finnland wie eine Zweitsprache gesprochen? Dem sollten wir nachgehen.
Ein weiterer Punkt ist der Umgang der Medien mit Fremdsprachen. Ich bin zum Beispiel der Auffassung, dass es sich nicht lohnt, die US-amerikanischen Filme zu synchronisieren. Die kommen in vielen Ländern zumindest im Fernsehen in der Originalsprache. Und ich kann überhaupt nicht verstehen, warum wir das nicht auch machen. Was spricht gegen Untertitel? Und ich beziehe das nicht nur auf US-amerikanische Filme, sondern auch auf Filme in anderen Sprachen. Das wäre doch eine wesentliche Bereicherung und eben ein weiterer Zugang zu der jeweiligen Kultur. Es könnte eine Generation heranwachsen, der der Umgang mit anderen Kulturen leichter fällt. Und wenn wir gleich bei so konkreten Dingen sind: Wenn man in München die französischen Nachrichten und die italienischen ansehen will, dann braucht man zwei verschiedene Satellitenschüsseln. Es wäre sicher technisch lösbar, dass man regelmäßig den Zugang zu den Nachrichten der Nachbarländer hat. Es ist für mich nicht einzusehen, warum das nicht auf einfache Weise funktioniert. Da müssen sicher auch die Politiker etwas Druck ausüben. Das sind einfache Vorschläge, aber ich glaube, sie würden sehr viel bewegen.
Zum Schluss noch zwei Bemerkungen. Die europäische Identität ist in der Regel viel älter als die nationale Identität. Betrachten Sie nur die Identität des europäischen Bildungswesens am Beispiel von Polen und Deutschland. Es gab gemeinsame Universitäten, und spielte keine Rolle, ob man Kopernikus als Polen oder Deutschen ansah. Wir haben einen historischen Fundus einer gemeinsamen Geschichte, einer gemeinsamen kulturellen Identität, die zum Teil gebrochen ist. Die größten Brüche hat der Nationalismus des 19. und 20. Jahrhundert mit sich gebracht - hinzu kam in Folge des Zweiten Weltkriegs die Systemgrenze zwischen den kommunistischen und den demokratischen Staaten, die mitten durch Europa verlief. Jetzt entsteht wieder ein kultureller Zusammenhang in Europa, und den sollte man mit allen Mitteln fördern, .
Eine letzte Bemerkung. Ich stimme in diesem Punkt ganz und gar mit Frau Hohlmeier überein und will ihre These zuspitzen: Es lohnt sich ökonomisch und sozial, wenn in diesem Land ein öffentlicher Druck auch durch die Bürgerschaft entsteht, mehr in die Bildung zu investieren. Deutschland hängt inzwischen international zurück.