Redner(in): Julian Nida-Rümelin
Datum: 29.01.2001

Untertitel: Mit der Biotechnologie im Lichte der Menschenwürde, der Ethik und des Rechts beschäftigt sich der Kulturstaatsminister in der SZ vom 29.1.2001.
Anrede: Anrede,
Quelle (evtl. nicht mehr verfügbar): http://archiv.bundesregierung.de/bpaexport/rede/61/30761/multi.htm


Humanismus ist nicht teilbar

I. Diskussionskultur

Die Debatte der letzten Wochen hat sich streckenweise in eine Sackgasse verrannt, teils aus Unkenntnis, teils um der parteipolitischen Polemik willen, in einzelnen Fällen auch wider besseren Wissens. Der Geist der Inquisition "Mönchlein, Mönchlein, du gehst einen schweren Gang", wie er von manchen Schildknappen beschworen wurde, ist bekanntlich wenig hilfreich, der Geist europäischer Aufklärung - Begründung statt Vorurteil, Klärung statt Unterstellung, Dialog statt Polemik - dagegen hier wie bei anderen großen gesellschaftlichen Themen unverzichtbar. Auch ein kurzer Ausflug in die philosophische Ethik scheint erforderlich, will man verstehen, worum es bei ethischen Argumenten in der Debatte um die Chancen und Gefahren der Gentechnik geht - und worum nicht.

II. Utilitarismus

Im Bereich der angewandten Ethik ist die Konzeption des Utilitarismus noch immer einflussreich. In seiner klassischen Ausprägung beruht er auf einem einzigen ethischen Prinzip, nämlich dem der Maximierung menschlichen Wohlergehens. Maximiert werden soll dabei die Summe des menschlichen Wohlergehens, so daß in dieser Hinsicht alle menschliche Individuen gleich behandelt werden. Richard Mervin Hare und Peter Singer sind führende Vertreter des Utilitarismus. Das ethische Prinzip dieses Ansatzes ist Ausfluss einer philosophischen Auffassung, nach der das subjektive Wohlergehen das einzig intrinsisch Wertvolle ist."Intrinsisch wertvoll" insofern, als es für sich genommen von Wert ist, nicht als Mittel für andere Zwecke. Moralische Rechte und Pflichten rechtfertigen sich im Hinblick darauf, daß sie menschliches Wohlergehen befördern.

Die utilitaristische Bestimmung des intrinsisch Wertvollen ist jedoch ebenso wie die utilitaristische Rationalitätskonzeption ( die Folgen des Handels sind das allein Ausschlaggebende ) defizitär. Dies habe ich in der "Kritik des Konsequentialismus" ausführlich begründet und dort vor allem auf drei Konflikte hingewiesen, die zwischen utilitaristischer Ethik und zentralen moralischen Intuitionen oder Grundüberzeugungen bestehen:( 1 ) Die Integrität der Person ist mit der Befolgung des utilitaristischen Prinzips unvereinbar, weil sie langfristige Bindungen an Projekte und Personen nicht erlaubt. ( 2 ) Individuelle Rechte lassen sich utilitaristisch nur unzureichend rechtfertigen. ( 3 ) Die zentrale Rolle der Kooperation, die Einhaltung von Regeln und Verfahren, ist auf der Grundlage utilitaristischer Prinzipien nicht gewährleistet. Eine Gesellschaft, deren Mitglieder ausschließlich auf die Folgen ihres Tun achten, verliert ihr moralisches Fundament.

Das Ergebnis dieser Kritik kann man folgendermaßen zusammenfassen: Die Reduktion moralischer Verpflichtungen auf ein einziges utilitaristisches Prinzip bzw. auf einen einzigen normativen Grundbegriff, nämlich den des Wohlergehens in all seinen Varianten ( unter Einbeziehung tierischen Wohlergehens, gestützt auf Präferenzen oder Interessen etc. ) kann nicht gelingen. Die moralische Komplexität ist dafür zu hoch.

III. Menschenwürde

Gegen die utilitaristische Ethik stehen unterschiedliche sogenannte deontologische Ethiken, die von unbedingten ( kategorischen ) moralischen Pflichten ausgehen. Die bedeutendste ist die von Immanuel Kant. Man kann sie

als eine umfassende Theorie der Menschenwürde verstehen: "Handle so, daß du die Menschheit, sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden anderen, jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchest." Sittlichkeit verlangt Menschen nicht ausschließlich als Mittel zu gebrauchen, denn dies ist mit der Autonomie der einzelnen Person unvereinbar. Die Menschenwürde ist für Kant Ausdruck der besonderen Befähigung, sittlich oder ( wie man heute besser sagen sollte ) moralisch zu handeln. Moralisch, d. h. , nach selbstgewählten ethisch begründbaren Prinzipien. Die Würde des Menschen ist für Kant durch seine Eigenschaft bestimmt, moralisch, d. h. autonom handeln zu können, nicht durch seine Eigenschaften als Mitglied einer biologischen Spezies. Kant geht es um die Anerkennung der freien Selbstbestimmung des Anderen.

Obwohl die Beachtung menschlicher Würde im Sinne Kants ein zentrales Element humanistischer Ethik ist, so erfasst es dennoch nur einen Teil unserer moralischen Verpflichtungen. Wie für das utilitaristische Prinzip, so gilt auch für das kantische: Die Komplexität moralischer Verpflichtungen läßt sich in dieser Weise nicht auf einen einzigen normativen Begriff - hier den des Wohlergehens, dort den der Menschenwürde reduzieren. Nicht nur die Eigenschaft, ein sittliches Wesen zu sein, verlangt eine entsprechende moralische Rücksichtnahme, sondern schon die Eigenschaft, ein empfindendes Wesen zu sein. Wenn ich z. B. beobachte, daß jemand leidet, und ich dazu beitragen kann, dieses Leid zu mildern, so besteht prima facie eine Pflicht, dies zu tun. Es gibt moralische Pflichten der Kooperation, der Rücksichtnahme, der Leidvermeidung etc. , die nicht durch die Achtung vor der menschlichen Würde im Sinne Kants begründet sind. Es steht es außer Zweifel, daß das menschliche ( und in abgeschwächter Form auch das tierische Leben ) als solches einen intrinsischen Wert hat, also schützenswert ist.

IV. Humanistisches Ethos

Bei allen Unterschieden der Lebensform bedarf es einer Übereinstimmung hinsichtlich eines Grundbestandes von Normen als Basis einer humanen Gesellschaft. Ein gemeinsames Ethos der Rücksichtnahme und der Anerkennung ist unverzichtbar. Eine humane Gesinnung verlangt Rücksichtnahme und Anerkennung weit über den Bereich hinaus, der durch Menschwürde sanktioniert ist. Es verlangt Kooperationsbereitschaft, nicht nur dort, wo gemeinsame Interessen bestehen. Genuine Kooperationsbereitschaft ist ohne ein Band wechselseitiger Sympathie, einer Einstellung der Wohlgesonnenheit und einer sich daraus entwickelnden Vertrauenskultur nicht möglich. So unterschiedlich die Auslegung von Menschenrechten international nach wie vor ist, zeichnet sich doch eine zunehmende Konvergenz ab, die die freiheitssichernden ( "individualistischen" ) Menschenrechte in Kantischer und Lockescher Tradition um soziale und kulturelle Menschenrechte, die letztlich ethischen Solidaritätspflichten entsprechen, ergänzt. Die utilitaristische Tradition des Sozialen und die Kantische der Autonomie gehen in diesem sich abzeichnenden internationalen Ethos eine Verbindung ein. Die zunehmende Einsicht in die kategorische Geltung individueller menschlicher Rechte, die auch in schwierigen Konfliktlagen Geltung haben, ist der zentrale Teil dieses Ethos.

V. Dogmatismus

Auch in der philosophischen Ethik, nicht nur in der Theologie, der Jurisprudenz und der Politik gibt es Dogmatismus. Dogmatische Utilitaristen bleiben trotz aller Einwände davon überzeugt, dass es doch irgendwie gehen muß, das Gesamt der moralischen Verpflichtungen auf Wohlergehen zu reduzieren. Entsprechend akrobatisch fallen dann die jeweiligen Argumente aus. Die ethische Theorie entfernt sich zunehmend von den lebensweltlich verankerten und oft faszinierend differenzierten moralischen Intuitionen.

Ähnliches passiert, wenn man das Gesamt der moralischen Verpflichtungen auf die Menschenwürde als einzigen normativen Begriff reduzieren möchte. Die ursprüngliche Begründungsleistung kantischer Ethik bleibt dabei auf der Strecke. Der Begriff öffnet sich für zunehmend beliebige Interpretationen, er verliert seine Trennschärfe und damit seine ethische Orientierungskraft. Dies hat den israelischen Avishai Margalit vor dem Hintergrund der besonderen historischen Erfahrungen des jüdischen Volkes bewogen, kürzlich eine interessante Rekonstruktion einer im Kern kantischen Konzeption menschlicher Würde zu leisten. Margalit befasst sich zunächst mit dem Phänomen der Demütigung und unterscheidet dann zwischen Selbstachtung und Selbstwertgefühl. Menschen nicht zu demütigen, heißt, ihre Selbstachtung nicht zu beschädigen. Man sollte die menschliche Würde achten, also Verletzungen der Selbstachtung vermeiden. Hier sind die Konturen einer normativ gehaltvollen und trennscharfen Konzeption humanistischer Ethik erkennbar, die dem kantischen Paradigma verbunden bleibt. Man muß nicht alles von Margalit schlüssig finden, um davon beeindruckt zu sein.

VI. Ethik und Recht

Ethische Argumente haben einen universellen Anspruch, das heißt, sie beanspruchen Gültigkeit unabhängig vom jeweiligen kulturellen, politischen oder rechtlichen Kontext. Sie können sich zur Begründung weder auf Rechtsnormen noch auf verbreitete Meinungen stützen. Allerdings muss die ethische Theorie, um verständlich zu bleiben und Orientierung zu vermitteln, an die normativen Überzeugungen der betreffenden Kultur anknüpfen, sie klären und gegebenenfalls modifizieren. Eine enge Verbindung von Recht und Ethik ist schon aus diesem Grund wünschenswert. Das Recht kann aber kein normatives Primat beanspruchen - schon deswegen nicht, weil es an die jeweilige nationale Verfassung, Gesetzgebung und Rechtsprechung gebunden bleibt. Es ist mithin eine simple Vermischung von Kategorien, wenn ethische Argumente mit rechtlichen pariert werden. Andererseits muss die Ethik die Spezifika rechtlicher Begründungen anerkennen - und das heißt in Deutschland vor allem, den Inhalt von Artikel 1 des Grundgesetzes und seine rechtlichen Interpretationen. Eine Vielzahl von Gesetzen wie beispielsweise das Tierschutzgesetz ist ethisch motiviert, ohne im Grundgesetz verankert zu sein. Es gibt aber auch unabhängig von Gesetzesnormen ethisch motivierte Pflichten - zum Beispiel Menschen zu helfen.

VII. Kritiken

Nach diesem Ausflug in die philosophische Ethik lassen sich die Kritiken besser einordnen und beurteilen. Manche erübrigen sich rasch. a ) Ich hätte die Schutzwürdigkeit aller Wesen, die nicht die Eigenschaften einer Person ( Rationalität, Selbstachtung etc. ) besitzen, bestritten. Diese Kritik verwechselt Würde und ( intrinsischen ) Wert und meint offenbar darüber hinaus, daß lediglich Menschenwürde moralische Verpflichtungen impliziere. Die menschliche Leibesfrucht sollte geschützt werden. Je weiter sie entwickelt ist, desto schützwürdiger ist sie. Dies wird durch die rechtlichen Regelungen der Abtreibung berücksichtigt. Der volle und grundsätzlich gleiche Lebensschutz aller Menschen ab der Geburt ist ethisch voll begründet. Die Zuschreibung gleicher Menschenwürde an wenige Millimeter große Zellwände ohne jede Empfindungsmöglichkeit ( Embryonen in den ersten vierzehn Tagen vor ihrer Einnistung in die Gebärmutter ) entwertet dagegen einen wichtigen moralischen Grundbegriff. b ) Ich hätte Thesen vertreten, die vor mir lediglich Peter Singer geäußert habe. Das kann nur der behaupten, der nie etwas von Immanuel Kant ( oder Avishai Margalit ) gehört hat und nicht weiß, daß ich in der Ethik als "Deontologe" gewissermaßen ein philosophischer Antipode Singers bin. c ) Meine Stellungsnahme sei verfassungswidrig. Das meinen oft die gleichen, die sich noch vor kurzem in heftigen Schelten des Verfassungsgerichts ergingen, als es das Kruzifix-Urteil fällte. Der Vorwurf verwechselt juridische und ethische Argumente. Die Rechtsordnung verlangt "compliance" - Loyalität zu ihren Regeln und Entscheidungen, sie verhängt jedoch kein Denk- und Diskussionsverbot. Ich habe die rechtlichen Argumente, die sich ja auf bestehende Rechtsnormen stützen ( müssen ) , nicht einmal kritisiert. Die Ethik erschöpft sich nicht im Recht. d ) Ich würde eintreten für Menschenrechte für Affen. Wie der Autor darauf, kommt wird wohl sein Geheimnis bleiben. Etc.

Manche Philosophen und Mediziner sind der Meinung, ich hätte mich für und nicht gegen die Freigabe des therapeutischen Klonens nach britischem Muster aussprechen sollen. Mein hypothetisches, nicht kategorisches Argument gegen die Freigabe zum jetzigen Zeitpunkt, ist: Während sich mit therapeutischem Klonen die Chance verbindet, menschliches Leid zu mindern, sehe ich keinen einzigen Grund, der für die Zulassung von reproduktivem Klonen beim Menschen spricht. Im Gegenteil, die freie Wählbarkeit der genetischen Ausstattung zukünftiger Menschen birgt große Risiken für eine humane Gesellschaft und speziell für das Selbstverständnis der einzelnen Person. Da die Freigabe therapeutischen Klonens möglicherweise die Option des reproduktiven Klonens öffnen würde, bin ich in der Tat der Auffassung, dass Deutschland der britischen Entscheidung jetzt nicht unbesehen folgen sollte.

Hypothetische Gründe wie die derzeitige Unabschätzbarkeit der Folgen des therapeutischen Klonens gelten allerdings in Abhängigkeit von konkreten empirischen Bedingungen. Die Freigabe therapeutischen Klonens könnte sich in der Tat dann als sinnvoll herausstellen, wenn sich zuverlässige ethische, rechtliche und politische Barrieren gegen reproduktives Menschenklonen errichten lassen. Selbst für Mediziner ist nicht einschätzbar, ob die Erwartungen berechtigt sind, die in das therapeutische Klonen gesetzt werden. Immerhin geht es um nicht weniger, als im günstigen Falle menschliches Leid von sehr vielen Menschen zu mildern. Wohlgemerkt: In dieser Diskussion steht nicht Ökonomie oder Medizin gegen Ethik, die Abwägung muss in letzter Instanz immer eine ethische sein. Wenn man kranken Menschen helfen, ja viele vor dem Tod bewahren könnte und dieses unterlässt, so ist das rechtfertigungsbedürftig. Es muss gravierende moralische Gründe geben, die die moralische Verpflichtung aufwiegen, Kranken und vom Tode Bedrohten zu helfen. Ob diese bestehen, kann nur unter Einbeziehung des Sachverstandes unterschiedlicher Disziplinen und begleitet von einer öffentlichen forschungs- und gesundheitspolitischen Diskussion, geklärt werden. Meine Empfehlung ist, das in den kommenden Jahren sorgfältig und unaufgeregt zu tun.