Redner(in): Gerhard Schröder
Datum: 01.02.2001

Anrede: Sehr geehrte Damen und Herren,
Quelle (evtl. nicht mehr verfügbar): http://archiv.bundesregierung.de/bpaexport/rede/06/31506/multi.htm


in meinem Manuskript steht alles drin - aber nicht zu den Fragen, die Herr Dr. Augter und Herr Wirges gestellt haben. Deswegen gebe ich Ihnen jetzt die Rede, und Sie machen eine gute Broschüre daraus, die sie zu meinem Ruhme in Ihren Kammerbezirken verbreiten. Dafür gehe ich auf die Fragen ein, die Sie gestellt haben. Aber ich sage ausdrücklich: Die Rede ist wirklich gut. Meine Leute haben sich Mühe gegeben. Insofern verpassen Sie etwas.

Zunächst zur Steuerreform. Da gibt es die landläufige Meinung, die hier auch wieder vertreten worden ist: Das ist in der Tendenz ganz in Ordnung, aber die Körperschaften sind gegenüber den Personengesellschaften bevorzugt worden. Damit muss man sich auseinander setzen. Denn jeder von uns weiß - ich, dessen können Sie sicher sein, auch - , dass die Mehrzahl der deutschen Unternehmen, zumal die wichtigsten, als Personengesellschaften organisiert sind, also nicht nach Körperschaftsteuerrecht besteuert werden, sondern nach Einkommensteuerrecht.

Was haben wir gemacht? Wir haben - im Übrigen ist das vorher nie so gewesen - gesagt, der Staat, also Bund und Länder, soll sich mit 25 Prozent Körperschaftsteuer zufrieden geben. Hinzu kommen im Durchschnitt 13 Prozent Gewerbeertragsteuer. Die Gewerbekapitalsteuer hatten wir vorher abgeschafft. Das sind zusammen 38 Prozent. Dabei wird häufig übersehen, dass diese 38 Prozent das sind, was die Fachleute Definitivbesteuerung nennen. Das heißt, sie sind auf die erste Mark fällig.

Was haben wir bei den Personengesellschaften gemacht? Haben wir sie wirklich schlechter gestellt? Hätten wir sie schlechter gestellt, wäre es verkehrt, weil die Mehrzahl der Arbeitsplätze und die Mehrzahl der Ausbildungsplätze in Deutschland von Personengesellschaften vorgehalten werden. Deren Konkurrenzfähigkeit auf den europäischen und internationalen Märkten muss uns natürlich genauso interessieren wie die Konkurrenzfähigkeit der Körperschaften. Das kann gar keine Frage sein.

Was ist also in diesem Bereich geschehen? Wir haben entschieden, dass bis zum Jahre 2005 Folgendes passieren wird: Ab 1. Januar dieses Jahres gilt ein Spitzensteuersatz von 48,5 Prozent. Er wird bis 2005 auf 42 Prozent ermäßigt. Ich räume ein, dass diese 42 Prozent, die gelten - sie stehen ja schon im Gesetzblatt - , nicht zustande gekommen sind, weil die SPD sich das so gerne gewünscht hätte, sondern das war ein Kompromiss, den wir mit der rheinland-pfälzischen Landesregierung schließen mussten. Herr Brüderle weiß das sehr genau, weil wir das an einem bestimmten Donnerstag vereinbart haben.

Man könnte fragen: Warum erst ab 2005? Warum nicht gleich? Darum beschäftige ich mich mit dem, was gegenwärtig gilt, nämlich 48,5 Prozent Spitzensteuersatz. Er gilt für die Personengesellschaften, die nach Einkommensteuerrecht besteuert werden. Jeder hier im Saal weiß das. Aber jeder hier im Saal sollte auch wissen, dass die Einkommenbesteuerung keine Definitivbesteuerung, sondern eine Grenz-besteuerung ist. Das heißt, diese 48,5 Prozent werden nicht auf die erste verdiente Mark gezahlt, sondern auf die letzte oder die vorletzte. Das ist ein Riesenunterschied.

Wir haben zum Zweiten etwas gemacht, was der deutsche Mittelstand seit Jahr-zehnten gefordert hat und was - das muss man deutlich sagen - auch die Freien Demokraten in anderen Konstellationen nie haben durchsetzen können, nämlich die faktische Abschaffung der Gewerbeertragsteuer. Wir konnten sie aus verfassungs-rechtlichen Gründen nicht juristisch abschaffen. Davor steht die Garantie der kommunalen Selbstverwaltung. Aber wir haben sie faktisch abgeschafft. Denn auf die Einkommensbesteuerung - Spitzensatz 48,5 Prozent - kann jeder pauschal die zu zahlende Gewerbeertragsteuer anrechnen. Das sind die bereits erwähnten 13 Prozent.

Ich verstehe wirklich nicht, wie man bei dieser Situation sagen kann, dass der Mittelstand schlechter gestellt wird als die Körperschaften. Das ist nicht so. Jetzt wird mir von manchen Mittelständlern gesagt: Schön und gut, aber wir haben gar keine Gewerbeertragsteuer gezahlt. Gut, was Sie nicht gezahlt haben, kann ich Ihnen auch nicht anrechnen.

Ich denke also: Wenn man sich mit dieser Steuerreform auseinander setzt, dann wird man finden, dass das von den Verbänden sorgfältig gepflegte Urteil, die Personengesellschaften würden schlechter gestellt als die Körperschaften, ein Fehlurteil ist und es deshalb dringend korrigiert werden muss.

Im Zusammenhang mit der Steuerreform - ich will hier wirklich kein kontroverses Thema auslassen, weil wir einen ehrlichen Dialog in unserer Gesellschaft wollen - haben wir vereinbart: Wir müssen die Abschreibungstabellen ändern, zum einen als Konsequenz eines Urteils des Bundesfinanzhofes. Ich weiß, dass die Frage, ob das wirklich zwangsläufig so ist oder nicht, umstritten ist. Die Juristen, die hier sind, wissen dies. Übrigens, verehrter Herr Präsident, was ich tun würde, wenn ich in Hannover Anwalt wäre, sage ich Ihnen nur gegen Erstattung der üblichen Gebühren.

Aber reden wir über die Abschreibungstabellen, einem wirklichen Streitpunkt in der wirtschaftspolitischen Diskussion, dem ich auch nicht ausweichen will. Wir haben mit Zustimmung derer, die die Steuerreform begleitet haben - auch der Verbände aus der Wirtschaft - , gesagt, wir brauchen 3,5 Milliarden DM, um die Steuerreform finanzierbar zu halten. Diese 3,5 Milliarden DM brauchen wir aus der Veränderung der Abschreibungstabellen, mehr nicht. Wir haben zugesagt, dass es auch nicht mehr wird.

Wir werden das mit den Wirtschaftsverbänden sorgfältig beobachten. Wenn - was manche mutmaßen - mehr dabei herauskommt, wird das zurückgegeben werden. Das hat der Bundesfinanzminister erklärt. Dabei wird es auch bleiben. Also wird man einen Dialog über diese Frage beginnen müssen.

Der dritte Punkt, den Sie angesprochen oder nur angedeutet haben, ist folgende Frage: Was ist neben einer Steuerreform, die sehr wohl auf die Angebotsseite, auf Ihre Kostenseite, schaut, der zweite Teil einer vernünftigen und gerechten Steuerreform? Das ist die Nachfrageseite.

Wir werden mit dieser Steuerreform per 1. Januar 2001 sowohl an die Unternehmen als auch an ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter etwa 45 Milliarden DM von dem, was der Staat nach altem Recht vereinnahmen würde, zurückgeben. Das ist etwa zur Hälfte bezogen auf die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, zur anderen Hälfte auf die Unternehmen.

Bezogen auf die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer hat das Nachfragewirkungen. Das soll es auch haben. Wir haben - das wissen Sie so gut wie ich - den Tatbestand, dass wir in den letzten anderthalb Jahren vor allem von einer exzellenten Export-konjunktur gelebt haben, aber weniger von der Binnenkonjunktur. Es ist also unsere Aufgabe, zur Stabilisierung der wirtschaftlichen Situation in Deutschland etwas für die Binnenkonjunktur zu tun. Wir haben das mit der Unternehmensteuerreform gemacht. Wir machen es aber auch, was die Massenkaufkraft angeht. Wir wollen, dass von dem, was Sie den Leuten brutto zahlen, netto mehr überbleibt, nicht nur, weil das gerecht ist, sondern weil es auch kaufkräftige Nachfrage schafft, die wir brauchen, um die Binnenkonjunktur zu stabilisieren und zu stärken.

Ein ganz wichtiger Punkt: Wir haben etwas für die Familien getan. Viele sagen, wir hätten noch nicht genug getan. Aber wir haben etwas für die Familien getan, immerhin. Dem einen oder anderen Kollegen von Herrn Beck, der sich über Familienpolitik verbreitet und darüber, was der Staat noch alles tun kann, muss ich sagen - vorsichtig und zurückhaltend: In diesem Bereich sind die Produktionsmittel im privaten Eigentum und dort sollen sie auch bleiben.

Man kann hier als Staat einen vernünftigen Rahmen setzen. Was die, die es angeht, daraus machen, müssen sie schon selbst entscheiden. Deswegen haben wir gesagt: Wenn man in unserer Gesellschaft mehr Kinder will - das ist in der Tat eine vernünftige Perspektive - , dann gehört nicht nur dazu, dass man Geld zur Verfügung stellt, sondern dann wird man erleben, dass man zumal junge Frauen dann und nur dann für Kinder begeistern kann, wenn sie ihr erworbenes Wissen neben der Kindererziehung auch nutzen können. Das heißt Betreuung. Da sage ich: Das, was Kurt Beck sich hier mit der Ganztagsschule vorgenommen hat, wird die bildungspolitische Diskussion in Deutschland zu Recht revolutionieren.

Das Entscheidende ist, dass zum ersten Mal gesagt worden ist: Wir werden ein Maß an Betreuung über die Schule sicherstellen, die Planbarkeit ermöglicht, die nicht den Tatbestand weiterführt, dass die Mutter, die ihr Kind um acht oder halb neun in die Schule schickt, Angst haben muss, dass es um elf wieder auf der Matte steht, weil die Betreuung ausgefallen ist. Wenn man wirklich über diese Perspektive nachdenkt, muss man das realisieren, was hier - ich kenne die Einzelheiten nicht - offenkundig durchgerechnet von dieser Landesregierung in Angriff genommen wurde. Das ist ein ganz wichtiger Punkt.

Um zu dem zurückzukommen, was wir wirtschafts- und finanzpolitisch wollen: Ich denke, dass diese Mischung aus Angebotsorientierung und Nachfrageorientierung in der Steuerpolitik höchst vernünftig war. Nun kann man darüber streiten, ob man in den Einzelheiten das eine oder andere weiterentwickeln muss oder nicht. Aber der Kurs stimmt.

Der Kurs stimmt auf wirtschafts- und finanzpolitischem Gebiet auch noch in einer anderen Frage, die wir mit Konsolidierung der Staatshaushalte bezeichnen. Auch hier gehen wir Hand in Hand, der Bund und dieses Land. Finanzminister Eichel hat gesagt: Ich will 2006 einen Haushalt, der keine Neuverschuldung mehr hat, also auf die Schulden nichts mehr draufpackt. Damit sind wir die Schulden noch nicht los; darüber muss man sich im Klaren sein. Dieser Kurs ist vernünftig, weil wir gegenwärtig 82 Milliarden DM jedes Jahr an Zinsen für die Schulden des Landes zahlen. Das ist zu viel. Diese 82 Milliarden DM fehlen uns für die Zukunftsaufgaben, die vor uns liegen.

Also verfolgen wir eine Konsolidierungspolitik, die natürlich dazu führt, dass nicht mehr alles gemacht werden kann, was man sich vielleicht wünscht. Sie führt dazu, dass wir Konsequenzen ziehen müssen aus Veränderungen, die es gegeben hat. Ich will Ihnen eine nennen: Wir haben alle gesagt, dass es großartig ist, dass sich die weltpolitische Lage verändert hat und es für uns als Konsequenz der Veränderung der weltpolitischen Lage, der Auflösung der Blöcke, objektiv möglich wird, eine kleinere Armee zu haben, als wir sie früher aus Verteidigungsgründen haben mussten. Wir haben sie jetzt verkleinert. Wenn man die Armee kleiner macht, als sie früher sein musste, hat das Auswirkungen auf die betriebswirtschaftliche Situation dieser Armee. Man kann das auch drastischer sagen: auf die Standorte, die sie braucht. Für jeden Unternehmer ist das völlig klar. Wenn er nicht so viel braucht, muss er irgendwo auch Konsequenzen daraus ziehen.

Das haben wir jetzt in Angriff genommen, übrigens vor Wahlen hier und in Baden-Württemberg. Ich finde das von Rudolf Scharping eine mutige Entscheidung - nicht wegdrücken und versuchen, über die Runden zu kommen, sondern zu sagen: Die Lage hat sich geändert. Die betriebswirtschaftlichen Notwendigkeiten, die viel mit Haushaltskonsolidierung zu tun haben, erfordern eine Verkleinerung und als Konsequenz der Verkleinerung natürlich auch die Schließung von Standorten.

Jetzt erleben wir eine interessante Debatte. Jeder sagt abstrakt: Jawohl, das ist natürlich in Ordnung - bloß nicht bei mir. Das kennen wir alle. So kann man nur keine rationale Politik machen. Und wir wollen rationale Politik machen.

Die Konsolidierung der staatlichen Finanzen ist die andere Seite der Medaille der Wirtschafts- und Steuerpolitik, die wir machen. Sie ist objektiv erforderlich. Sie folgt dem Prinzip der Nachhaltigkeit in der Finanzpolitik, dass wir heute nicht das aufessen, wovon unsere Kinder und Enkelkinder morgen und übermorgen leben wollen. Sie wollen auch eine Chance. Das immer durchzusetzen, macht nicht nur Freude, da können Sie sicher sein. Aber wenn Sie unangenehme Entscheidungen durchsetzen müssen, macht es ja auch nicht immer Freude. Sie müssen es trotzdem tun. Wir werden es ebenfalls tun.

Wenn man sich anschaut, was wir auf dem Gebiet der Haushaltspolitik und der Steuerpolitik durchgesetzt haben, ist es berechtigt, sich das eine oder andere Detail herauszupicken und zu sagen, da hätten wir noch besser sein können. Darüber will ich gar nicht streiten. Aber es ist ein Kurs, der Deutschland auf einen Wachstumspfad gebracht hat. Dieser Wachstumspfad hat sich im letzten Jahr gezeigt und er zeigt sich auch in diesem Jahr.

Das hat Konsequenzen, zum Beispiel auf dem Arbeitsmarkt. Wir haben gesagt, wir wollen uns in unserer Politik an der Reduzierung der Arbeitslosigkeit und der Jugendarbeitslosigkeit messen lassen. Als wir begannen - das ist noch nicht so lange her, erst zwei Jahre - , hatten wir zu Jahresbeginn über 4,8 Millionen Arbeitslose, jetzt sind es 4 Millionen. Das ist fast eine Million weniger. Das reicht mir nicht, aber es ist eine Menge.

Wir haben inzwischen - jedenfalls im Westen des Landes, im Osten leider noch nicht - einen ausgeglichenen Ausbildungsmarkt, eher ein Mehr an Ausbildungsplätzen als an Nachfrage, und das in wichtigen Bereichen. Sie wissen, worüber ich rede. Das ist vor allen Dingen Ihren eigenen Aktivitäten geschuldet, nicht in erster Linie - das behauptet auch keiner - der Politik. Aber die Politik hier im Land - und ich behaupte ganz bescheiden: auch meine - hat das jedenfalls unterstützt.

Jetzt muss man sich fragen, was darüber hinaus notwendig ist. Ich komme auch zu einigen sehr kontroversen Themen zwischen uns. Was haben wir vor uns? Wir haben als nächstes großes Projekt - im Bundestag ist das beschlossen - die Veränderung des wichtigsten Bereiches unseres sozialen Sicherungssystems, nämlich der Rente, vor. Was ist da eigentlich unser Problem?

Erstens: Die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer wollen Beitragsstabilität, denn möglichst niedrige Beiträge garantieren netto mehr, als man sonst hätte. Darüber brauchen wir uns nicht lange zu unterhalten. Das ist auch in Ordnung und notwendig. Darüber hinaus haben wir den Tatbestand, dass die Bevölkerung in Deutschland älter wird als früher. Das ist gut so. Wenn man selbst dabei ist, freut man sich darüber. Wenn wir aber eine älter werdende Bevölkerung haben, hat das Auswirkungen auf die Dauer der Rentenbezüge. Sie wird nämlich länger. Wenn sie länger wird, hat das Auswirkungen auf die Finanzierbarkeit.

Der zweite, wahrscheinlich noch gravierendere Punkt ist aber, dass das, was wir im Inland herstellen, das Bruttoinlandsprodukt, die Summe der Güter und Dienstleistungen in unserem Land, wächst - Gott sei Dank - , und zwar schneller als früher, dass es aber mit immer weniger Vollerwerbsarbeitsverhältnissen hergestellt wird. Das heißt, die Arbeitsbiographien ändern sich. Aber ein Rentensystem, das nur beitragsfinanziert ist, hängt vor allen Dingen an Vollerwerbsarbeitsverhältnissen. Wenn die aber weniger werden, entsteht daraus ein zusätzlicher Druck auf die Finanzierbarkeit. Genau das ist der Tatbestand.

Was muss man dann tun? Man muss nicht die Beitragsfinanzierung abschaffen. Das haben wir auch nicht gemacht; sie wird bleiben. Aber man muss eine Säule daneben stellen, und die heißt Kapitaldeckung. Kapitaldeckung heißt, dass wir die Menschen bewegen müssen, einen Teil der Alterssicherung, weil das andere für sich gesehen unfinanzierbar oder nicht sicher genug wäre, selbst zu übernehmen. Nun gibt es Menschen, die dazu objektiv schwerer in der Lage sind als andere, weil sie weniger Einkommen haben. Diesen helfen wir mit 20 Milliarden DM in den nächsten acht Jahren.

Wir schaffen damit in diesem Bereich des Aufbaus einer zweiten Säule nach Schätzungen einen Markt zwischen 70 und 100 Milliarden DM. In diesem Zusammenhang habe ich, verehrter Herr Ministerpräsident und natürlich verehrter Herr Stellvertretender Ministerpräsident, verehrter Herr Landesvorsitzender, die ganz andere Frage - wir haben das im Februar im Bundesrat auf dem Tisch - , ob wir diese fundamentale Reform der Alterssicherung, den Aufbau einer zweiten Säule, die Kapitaldeckung heißt, wollen oder nicht. Meine herzliche Bitte lautet, dass Sie mit uns zusammen sagen: Wir wollen das.

Man kann diese Frage gar nicht anders beantworten, denn alles andere wäre das Verpassen einer Chance, die wahrscheinlich nie wieder kommt. Denken Sie auch einmal darüber nach, was die Gewerkschaften bei aller Auseinandersetzung in dieser Frage akzeptiert haben. Deren Kritik war immer: Ihr geht ab von der paritätischen Finanzierung durch Arbeitgeber und Arbeitnehmer. Ich habe immer gesagt: Davon gehen wir überhaupt nicht ab, denn die private Vorsorge ist noch nie paritätisch finanziert worden. Sie haben das Argument akzeptiert. Das war für den einen oder anderen dort nicht einfach.

Wir haben also - das ist ein historischer Moment - einen gesellschaftlichen Konsens in dieser so zentralen Frage geschaffen. Ich glaube, wenn wir diese Chance vorbeiziehen lassen - jetzt und nur jetzt gibt es sie - und keine Kapitaldeckung aufbauen, machen wir einen Riesenfehler. Was immer man an Einzelheiten des Konzeptes auszusetzen haben mag - zugestanden - , das ist nicht der Punkt. Für mich war es immer wichtig, zu sagen: Der Sinn der Reform ist, Kapitaldeckung aufzubauen, die zweite Säule neben die erste, beitragsfinanzierte, zu stellen. Dann kann man schauen, wie sich das entwickeln muss. Dann hat man ja Zeit dazu.

Aber dieser Punkt darf jetzt nicht kaputt gemacht werden, weder von jenen, die prinzipiell dagegen sind - die gibt es immer noch - , noch von denen, die noch mehr wollen. Man muss sehen: In einer bestimmten historischen Situation muss man nehmen, was man bekommen kann. Und das ist das, was der Deutsche Bundestag beschlossen hat. Dann kann man es ja ausbauen. Das spielt gar keine Rolle, ich bin ja auch dafür. Aber jetzt muss man nehmen, was man kriegen kann. Verehrter Herr Ministerpräsident, verehrter Herr Stellvertretender Ministerpräsident, denken Sie daran, wenn Sie im Bundesrat abzustimmen haben.

Ich will zu drei Bereichen, die Sie angesprochen haben - und zwar zu Recht, meine Herren Präsidenten - und auch kritisch angesprochen haben, etwas sagen, nämlich zu den drei Reformgesetzen, bei denen es Feuer gegeben hat, nicht zuletzt aus den Verbänden der Wirtschaft. Der erste Punkt war das so genannte Beschäftigungs-Förderungsgesetz, also das Gesetz, das erlaubt, Beschäftigte zeitweise einzustellen, ohne dass man einen sachlichen Grund angeben muss. Wie war die Lage? Die Regierung vor uns - das wissen alle hier, die dabei waren - , hat ein Beschäftigungs-Förderungsgesetz verabschiedet, das befristete Einstellungen über viermal sechs Monate erlaubte, und zwar exakt bis zum 31.12.2000. Genau bis zu diesen Zeitpunkt hat sie das Gesetz gemacht, nicht für einen Tag länger. Ich habe mich immer gefragt: Warum eigentlich? Warum haben sie das nicht unbefristet gelten lassen? Es erlaubt doch jenes Maß an Flexibilität, das man vielleicht braucht. Ich kann Ihnen sagen, warum sie es befristet haben: weil damals die gesamte Opposition im Bundestag - das waren wir - und die Opposition aus den Gewerkschaften dagegen war.

Damals hat die Regierung nur gesagt: Wir probieren es mal. Mehr können wir euch nicht abverlangen. Dann kam der 31. 12. 2000, und ich stand vor der Frage: Was mache ich denn jetzt? Meine Partei ist gegen dieses Gesetz Sturm gelaufen, meine Freunde in den Gewerkschaften genauso. Und ich muss es jetzt verlängern - was die anderen nicht hinbekommen hatten. Ich habe dann gesagt: Wir brauchen eine Balance in den Betrieben zwischen Flexibilität auf der einen und Sicherheit für die Beschäftigten auf der anderen Seite.

Wir haben jetzt ein Gesetz verabschiedet, das es Ihnen erlaubt, ohne sachlichen Grund viermal sechs Monate lang Menschen befristet einzusetzen, also die Weiterführung dessen, was war. Das gilt jetzt auf Dauer. Ich verstehe gar nicht, warum ich dafür kritisiert werden soll. Ich habe allerdings meine Auffassung - das muss ich zugeben - vor dem Hintergrund sehr eigener Erfahrung - man hat ja eine Familie - verändert. Bei der früheren Rechtslage konnte man - wie gesagt - viermal sechs Monate ohne sachlichen Grund befristet einstellen. Dann nahm man den gleichen Arbeitnehmer und gab ihm eine befristete Einstellung mit sachlichem Grund - eine Schwangerschaftsvertretung oder eine Krankheitsvertretung - und begann danach das mit den viermal sechs Monaten wieder von vorne. Das ist nicht in Ordnung. Das kann ich nicht rechtfertigen, und Sie können es im Grunde auch nicht.

In zwei Jahren können Sie erstens wissen, ob der Mensch tauglich ist, und zweitens sehr rational abschätzen, wie Ihre Wirtschaftserwartungen sind. Deswegen, denke ich, ist das ein fairer Ausgleich zwischen den Flexibilitätsnotwendigkeiten in den Betrieben, die ich sehr wohl kenne, und den Sicherheits- oder Planbarkeitsbedürfnissen der Beschäftigten. Das haben wir gemacht.

Der zweite Punkt - von Ihnen kritisch angemerkt - ist die Teilzeit. Was haben wir da unternommen? Es gibt eine europäische Richtlinie, die wir umsetzen mussten. Wir haben sie in einem Punkt verschärft umgesetzt; es lohnt ja nicht, darüber hinweg zu reden. Wir haben nämlich einen Rechtsanspruch auf Teilzeit eingeräumt. Jetzt muss man sich aber einmal über die Bedingungen, die dieser enthält, unterhalten. Eigentlich gebe ich keinen Rechtsrat ohne Erstattung der üblichen Gebühren, aber jetzt will ich es wirklich einmal tun. Es hat eine lange Auseinandersetzung über die Frage gegeben, wann der Arbeitgeber den Anspruch des Arbeitnehmers, eine Teilzeitbeschäftigung zu erhalten, zurückweisen kann. Im Ursprungsentwurf stand, dass er ihn nur zurückweisen kann, wenn er dringende betriebliche Gründe hat. Da sind viele gekommen und haben gesagt, das gibt einen Rattenschwanz von Prozessen. Denn im gesamten bisherigen Arbeitsrecht war der Begriff der dringenden betrieblichen Gründe in diesem Bereich nie benutzt worden, sondern es gab immer nur betriebliche Gründe, und die definiert qua Direktionsrecht der Arbeitgeber. Genau das steht jetzt auch im Gesetz. Da steht drin, der Arbeitnehmer kann kommen und sagen, er möchte teilzeitbeschäftigt werden. Und der Arbeitgeber kann sagen, die Betriebsorganisation erlaubt das nicht, und deswegen tu ich das nicht. Und dann ist das so.

Insoweit muss man sich einmal mehr mit dem beschäftigen, was wir wirklich geregelt haben, und weniger mit dem, was man uns unterstellt, was wir geregelt haben könnten. Das ist nämlich durchaus ein Unterschied. Es gibt inzwischen Leute - das hat lange gedauert - , die, wie wir finden, zu Recht sagen, dass wir von Wirtschaft allemal so viel verstehen wie unsere Gegner.

Ich sage jetzt noch etwas zu dem dritten Punkt, der sehr kontrovers ist. Das neue Betriebsverfassungsgesetz war noch nicht im Kabinett. Ich will Ihnen erläutern, was unserer Meinung nach da passieren muss.

Erstens: Wir brauchen eine Reaktion auf veränderte betriebliche Gegebenheiten. Wir haben die Tatsache, dass es massive Aufteilungen in betriebliche Einheiten gibt, die es vorher nicht gegeben hat. Wir müssen darauf reagieren.

Zweitens: Wir halten es für eine richtige Konsequenz, dass diejenigen, die in den ausgegliederten Bereichen arbeiten, arbeiten wollen, arbeiten sollen, nicht aus der betrieblichen Mitbestimmung ausgegliedert werden.

Drittens: Ich glaube nicht, dass es unvernünftig ist, wenn Betriebsräte ein Informationsrecht über das bekommen, was der Betriebsinhaber im Umweltschutz investieren will oder nicht. Es geht dabei nicht um eine Mitbestimmung bei Investitionen. Es geht um Informationen über Investitionen in diesem Bereich.

Das Gleiche betrifft die Frage der Qualifizierung. Wenn man sich klarmacht, dass man in Zukunft mehr als jemals zuvor auf die Bereitschaft von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern angewiesen sein wird, sich voll zu engagieren und alle Kreativität für das Unternehmen einzusetzen, wenn man sich klarmacht, dass die Produkte der Zukunft wissensbasierte Produkte sein werden, dann ist ein vernünftiges Maß an Teilhabe nicht gegen die Wirtschaft gerichtet, sondern in ihrem eigenen Interesse.

Wir werden die Grenze sehr genau einhalten. Es wird keine Entscheidungen über Investitionen geben und geben können, die nicht der zu treffen hat, der das Risiko dieser Investition trägt. Das ist bekanntlich derjenige, dem ein Unternehmen gehört oder der für die handelt, denen es gehört, wenn wir an eine Aktiengesellschaft denken.

Das ist aber auch gar nicht der Anspruch, den die Gewerkschaften erheben. Deswegen denke ich, dass wir auch in diesem Bereich zwischen den Teilhabeansprüchen Ihrer Beschäftigten und den berechtigten Ansprüchen dessen, der sein Geld investieren will und der das Risiko für das investierte Geld trägt, eine sinnvolle, vernünftige Balance finden werden und finden müssen. Ich jedenfalls halte das, was gegenwärtig an vordergründigen Konfrontationen aufgebaut wird, für ganz verkehrt. Ich bin auch ziemlich sicher, dass das in sich zusammenfallen wird, wenn erst einmal klar sein wird, was wir wirklich regeln wollen und was nicht.

Lassen Sie mich noch zwei letzte Bemerkungen zu dem machen, was nach meiner Meinung auf die Wirtschaft in den nächsten Monaten, vielleicht auch Jahren zukommt.

Der erste Punkt ist: Wir brauchen in den Informationstechnologien und in den Bio-technologien ein Maß an Möglichkeiten, das es uns erlaubt, mit Wettbewerbern auf den Märkten der Welt mitzuhalten. Ein Maß an Möglichkeiten heißt vor allen Dingen: Wir brauchen Leute. Wir brauchen ausgebildete Kräfte. Aber wir brauchen auch mehr Internationalität in unserem Land. Es gibt kaum so internationale Märkte wie die der Informations- und Kommunikationstechnologie und der Biotechnologie. Deshalb wird es in den nächsten Jahren darauf ankommen, dass wir durch Qualifizierung derer, die wir haben, und durch entschiedene Investitionen im Bereich von Bildung, Wissenschaft und Forschung - denn dies sind die Schlüsselbereiche des vor uns liegenden Jahrhunderts - besser werden, als wir es gewesen sind oder noch sind.

Wir brauchen zweitens in unserer Gesellschaft ein Maß an Offenheit, an Internationalität, um die Menschen von außen zu bekommen, die unsere Leute herausfordern können. Wer glaubt, wir könnten es uns in Zukunft leisten, die gesamte Debatte über die Frage, wer bei uns leben und arbeiten können soll, noch so angstbesetzt und engstirnig zu führen, wie wir das in der Vergangenheit gemacht haben, der irrt gründlich; er schadet der Wirtschaft unseres Landes.

Ich werde deshalb das, was ich mit der Greencard-Initiative begonnen habe, fortführen. Es sind immerhin um die 5.000 hoch spezialisierte Leute nach Deutschland gekommen, die uns helfen können, Wirtschaftskraft zu entwickeln. Weil wir auch in Konkurrenz mit Amerika, Großbritannien und Frankreich stehen, brauchen wir ein modernes Zuwanderungsrecht, das auf der einen Seite unserer ethisch-moralischen Verpflichtung gerecht wird, Leuten zu helfen, die verfolgt und in Gefahr für Leib und Leben sind, auf der anderen Seite aber auch klarmacht, dass wir zum Beispiel denjenigen, die wir teuer ausbilden, auch gestatten müssen, zu ihrem, aber auch zu unserem Nutzen hier zu arbeiten. Das werden wir durchsetzen. Es ist ein ganz wichtiger Punkt. Wir werden auf diese Weise ein Maß an Austauschbereitschaft, an Internationalität in unserer Gesellschaft hervorrufen, das den gewandelten Bedingungen, die mit dem Stichwort Globalisierung beschrieben werden, auch wirklich gerecht wird.

Das Zweite, das wir miteinander hinbekommen müssen, ist das, was Kurt Beck hier in Rheinland-Pfalz in Gang gebracht hat. Wenn wir uns die Schwierigkeiten anschauen, die wir auf dem Arbeitsmarkt jetzt schon haben und in der Zukunft haben werden, dann kann es sich diese Gesellschaft überhaupt nicht leisten, dass sie eine Frauenerwerbsquote hat, die im Vergleich zu den nordischen Ländern, zu Frankreich und auch Großbritannien teilweise signifikant zurückbleibt. Das ist nicht nur ein Gesichtspunkt der Emanzipation. Das ist auch ein Gesichtspunkt ganz schnöder wirtschaftlicher Vernunft. Wenn beides zusammenkommt, ist das ja auch nicht so schlecht.

Ich sage deswegen: In diesen beiden Bereichen haben wir ein Modernitätsdefizit, das wir gemeinsam aufarbeiten müssen, wenn wir - ich denke, an diesem Punkt ziehen wir an einem Strang, wo immer sich der Einzelne politisch verortet - eines wollen: des Landes Wohlfahrt, wie man bei uns in Niedersachsen so schön sagt.

Ich wünsche Ihnen in diesem Jahr, das gerade erst begonnen hat, viel, viel Erfolg. Natürlich gilt das wirtschaftlich, aber es gilt auch für jeden Einzelnen von Ihnen persönlich.