Redner(in): Monika Grütters
Datum: 21. August 2015

Untertitel: "Museen sind - das ist in Brasilien nicht anders als in Deutschland - viel mehr als die Summe ihrer Ausstellungsobjekte. Sie sind gemeinsames Gedächtnis und Bewusstsein. Sie machen Erinnerungen, Werte, Perspektiven auf die Welt sichtbar und erfahrbar, und stiften damit Identität." betonte Monika Grütters in Ihrer Rede.
Quelle (evtl. nicht mehr verfügbar): https://www.bundesregierung.de/Content/DE/Rede/2015/08/2015-08-21-gruetters-goethe-institut-sao-paulo.html


Museen sind - das ist in Brasilien nicht anders als in Deutschland - viel mehr als die Summe ihrer Ausstellungsobjekte. Sie sind gemeinsames Gedächtnis und Bewusstsein. Sie machen Erinnerungen, Werte, Perspektiven auf die Welt sichtbar und erfahrbar, und stiften damit Identität." betonte Monika Grütters in Ihrer Rede.

Der legendäre brasilianische Musiker Dori Caymmi hat vor einigen Jahren einmal bedauert, dass der Name Goethe nicht mehr unbedingt jedem kulturell interessierten Brasilianer ein Begriff ist."Die Leute", erklärte er,"interessieren sich nicht mehr für Goethe. Neulich fragte mich ein Musiker im Hotel: , Goethe, was hat der doch gleich gespielt?"

Diese Frage ist zumindest insofern nicht ganz unberechtigt, als man Goethe durchaus musikalisches Talent bescheinigte: "Goethe spielt Klavier, und gar nicht schlecht", heißt es im Brief eines Augenzeugen, und auf dem Violoncello musizieren und vom Blatt singen konnte er angeblich auch. Trotzdem zeigt die Beobachtung von Dori Caymmi, wie wichtig die Arbeit der Goethe-Institute als Repräsentanten der Kulturnation Deutschland ist.

Auf den Besuch des Goethe-Instituts Sao Paulo habe ich mich nicht nur deshalb ganz besonders gefreut, weil es weltweit zu den traditionsreichsten gehört und die Liste seiner Gäste - von Jürgen Habermas und Herta Müller über Frank Castorf, Sasha Waltz und Wim Wenders bis Georg Baselitz und Anselm Kiefer - sich wie ein "Who ' s who" des deutschen Kunst- und Kulturlebens liest. Gefreut habe ich mich auch und vor allem, weil ich Ihre engagierte Arbeit, liebe Frau Dr. Ruckteschell-Katte, und die Ihres Teams sehr schätze, nicht zuletzt im Rahmen des Deutschlandjahres 2013/2014, an dem Sie sich mit zahlreichen hochkarätigen Kulturveranstaltungen beteiligt und damit bei vielen Menschen Interesse an deutscher Kunst und Kultur und am interkulturellen Austausch geweckt haben.

Heute soll es um die Zukunft der Museen gehen, und zwar - so habe ich Ihre freundliche Einladung verstanden - nicht speziell um die Zukunft der teils weltberühmten Museen Sao Paulos, sondern um die Zukunft der Institution Museum. Das ist ein Thema, das mich auch in Deutschland immer wieder beschäftigt - zum einen, weil der Staat der erste und wichtigste Partner der Museen ist, und zum anderen, weil zu einer fundierten Debatte über Prioritäten der Museumsarbeit auch die - kulturpolitische - Frage gehört, was wir heute von Museen erwarten und erwarten können. Meine Überlegungen dazu stelle ich gerne zur Debatte und freue mich auf die Diskussion mit Ihnen, meine Damen und Herren.

Museen sind - das ist in Brasilien nicht anders als in Deutschland - viel mehr als die Summe ihrer Ausstellungsobjekte. Sie sind gemeinsames Gedächtnis und Bewusstsein. Sie machen Erinnerungen, Werte, Perspektiven auf die Welt sichtbar und erfahrbar, und stiften damit Identität. Sie sind, wie der Präsident des Goethe-Instituts, Klaus-Dieter Lehmann, das einmal formuliert hat,"geistige Ankerpunkte" unserer Gesellschaft, gemeinsame Bezugspunkte, die dazu beitragen, Verständigung Grundlage einer jeden Demokratie möglich zu machen. All das klingt an, wenn wir den gesellschaftlichen Auftrag von Museen definieren, der darin besteht, unser kulturelles Erbe zu sammeln, zu bewahren, zu erforschen und zu vermitteln.

Wie sehr sich in der Museumsarbeit immer auch das Selbstverständnis eines Landes spiegelt, erleben wir in Deutschland derzeit mit einer Großbaustelle mitten in Berlin - dem Humboldt-Forum im wieder aufgebauten Berliner Schloss. Deutschland hatte, bedingt durch den Fall der Mauer, die historische Chance, den zentralen Platz der Republik neu zu definieren. Wir nutzen sie in einer Weise, die einer Kulturnation würdig ist. Wir bauen kein Parkhaus, kein Hotel, kein Einkaufszentrum, sondern wir geben der Kunst und der Kultur Raum. Vor allem die außereuropäischen Künste sollen sich hier selbstbewusst darstellen, und zwar im direkten Dialog mit unserer eigenen Kunstgeschichte.

Das Humboldt-Forum ist mit einer einzigartigen Idee verbunden. Es geht um neuartige Kultur- und Kunsterfahrung und um das Wissen über unterschiedliche, gleichberechtigte Weltkulturen und neue Kompetenzen im Weltverständnis. Das Humboldt-Forum wird damit ganz maßgeblich unser kulturelles Selbstverständnis prägen.

Berlin ist der Ort, von dem aus die Nationalsozialisten Barbarei und Tyrannei über Europa gebracht haben. Berlin ist der Ort der jahrzehntelangen Spaltung der Welt in Freiheit und Unfreiheit. Berlin ist der Ort der Erinnerung an ihre glückliche Überwindung vor 25 Jahren. Künftig wird Berlin noch mehr als bisher der Ort sein, der Brücken zwischen den Kulturen baut. Dass wir im Herzen der deutschen Hauptstadt nicht uns selbst in den Mittelpunkt stellen, sondern dass die Welt in Berlin ein Zuhause findet, dass Deutschland sich statt in reiner Selbstbezüglichkeit mit einem Blick nach außen als Partner in der Welt empfiehlt - das sagt, denke ich, viel aus über das Selbstverständnis der Kulturnation Deutschland zu Beginn des 21. Jahrhunderts.

Neben solchen, den gesellschaftlichen Rahmenbedingungen geschuldeten konzeptionellen Veränderungen sind es neue Anforderungen an die Darstellung und Vermittlung, die die Zukunft von Museen prägen. Gerade weil es immer schwieriger wird, einer globalisierten, multikulturellen, ausdifferenzierten, von Vielfalt und Unübersichtlichkeit geprägten Welt gerecht zu werden und sich in ihr zurecht zu finden, gewinnen Museen, die Zusammenhänge aufzeigen und dabei Prägendes und im wahrsten Sinne des Wortes Weltbewegendes bewahren, an Bedeutung.

In meinen Augen ist es gerade in der heutigen Zeit die Stärke der Museen, dass sie prinzipiell offen sein können für Menschen unterschiedlichster Herkunft. Das ist etwas, was Museen allen anderen Institutionen und Instrumenten der Bildungsvermittlung voraushaben. Ein Buch über die deutsche Geschichte setzt, allein schon bedingt durch das Gebundensein an Sprache, ein bestimmtes Bildungsniveau, eine bestimmte Sozialisation seiner Leserschaft voraus. Ein Museum dagegen kann durch unterschiedliche Arten und Ebenen der Vermittlung deutscher Geschichte prinzipiell offen sein für Jedermann. In einem guten Museum ist niemand ausgeschlossen. Der persönliche Hintergrund beeinflusst zwar die individuelle Wahrnehmung, versperrt aber nicht den Zugang.

Auf diese Weise heben Museen Diaspora-Erfahrungen auf. Damit meine ich die Erfahrung, unter anders denkenden und anders sozialisierten Menschen zu leben, die kennzeichnend ist für moderne, ethnisch heterogene, pluralistische Gesellschaften, gerade in multikulturellen Städten und Ballungsräumen wie Sao Paulo und Berlin. Museen zeigen, dass uns bei allen Unterschieden - viel mehr verbindet als trennt, dass die Unterschiede viel kleiner sind als die Gemeinsamkeiten. Eben dadurch stiften Museen Identität. Wo Menschen unterschiedlichster Herkunft "Heimat" suchen, können Museen für das Miteinander und das Zusammenwachsen eine herausragende Rolle spielen. In Museen können wir "Weltbürger" werden, denn sie gehören allen. Dieses Potential auszuschöpfen, das zeichnet in meinen Augen ein gutes Museum aus.

Dazu ist es notwendig, Kommunikationsformen der Jetzt-Zeit in die Museen zu holen: durch neue Partizipationsformen und Kulturkonzepte. Die Älteren unter uns erinnern sich vielleicht noch, als Hilmar Hoffmann, neun Jahre lang Präsident des Goethe-Instituts, in den 1970er Jahren mit seinem Schlachtruf "Kultur für alle" in den Kampf gegen einen elitären Kulturbegriff zog. Kultur galt in Deutschland bis dato als Leidenschaft der Bessergebildeten und Besserverdienenden. Diesem exklusiven, auf Abgrenzung und Ausgrenzung zielenden Kulturverständnis setzte Hoffmann seine Auffassung von Kultur als "langfristigen Beitrag zur Selbstfindung des Menschen" entgegen - ein Anspruch, der heute immerhin breite Zustimmung findet, der aber trotzdem vielfach bis heute kaum eingelöst ist, jedenfalls nicht in den Stellenplänen deutscher Museen, die fünf mal so viele Kuratoren wie Pädagogen ausweisen. Das ist eine Frage der Schwerpunktsetzung der Museen, die ganz entscheidend dafür ist, ob ein Museum seinem gesellschaftlichen Auftrag der Bildungsvermittlung gerecht wird oder nicht.

Als Bildungsvermittler und als Identitätsstifter sind und bleiben Museen innerhalb eines Landes von großer Bedeutung -als Brückenbauer brauchen wir sie aber auch für die interkulturelle Verständigung. Es ist die Kunst, die oft die tragfähigsten Brücken baut - selbst dort, wo Politik und Diplomatie an ihre Grenzen stoßen. Angesichts der gefährlich schwelenden Krisen in Europa und der Welt mag das Bemühen um die Vertiefung der kulturellen Beziehungen und des gegenseitigen Verständnisses wie ein Tropfen auf dem heißen Stein erscheinen. Doch wir alle - Deutsche und Brasilianer - kennen und verwenden das Sprichwort: "Água mole em pedra dura, tanto bate até que fura." ( "Steter Tropfen höhlt den Stein." ) Deshalb ist es mir ein Herzensanliegen, dass Deutschland mit anderen Ländern nicht nur wirtschaftlich eng zusammen arbeitet, sondern auch den kulturellen Austausch pflegt. Die Goethe-Institute sind wichtige und überzeugende Botschafter unseres Landes - nicht mit der Kunst der Diplomatie, sondern umgekehrt: mit der Diplomatie der Kunst und Kultur. Dazu können und sollten auch unsere Museen beitragen - zum Beispiel mit gemeinsamen Projekten wie mit der Ausstellung "Rückkehr der Götter". Im Rahmen einer Kooperation der Stiftung Preußischer Kulturbesitz mit der Stiftung Fundação Armando Alvares Penteado konnten Kunstwerke aus dem Fundus der Berliner Antikensammlung restauriert und mit großem Erfolg in Sao Paulo und nahe Rio de Janeiro präsentiert werden. 2008 bis 2010 waren sie dann im Pergamon-Museum in Berlin zu sehen.

Was wir neben Kooperations- und Veränderungsbereitschaft für die Zukunft unserer Museen als Orte der Verständigung, der Bildungsvermittlung und der Identitätsstiftung nicht zuletzt aber auch noch brauchen, sind intellektuelle Freigeister wie der brasilianische Architekt Oskar Niemeyer, dessen Werke - atemberaubende Baukunst! - auch hier in Sao Paulo zu bewundern sind. Von rechten Winkeln und geraden Linien hielt Niemeyer bekanntlich nicht viel. Ich zitiere: "Was mich anzieht, ist die freie und sinnliche Kurve, die ich in den Bergen meines Landes finde, im mäandernden Lauf seiner Flüsse, in den Wolken des Himmels, im Leib der geliebten Frau."

Dass Architektur funktionalen Erfordernissen genügt, war für Niemeyer dabei eher zweitrangig - was aus nachvollziehbaren Gründen gelegentlich zu Konflikten mit den Bauherren führte. Beim Bau des Museums für Zeitgenössische Kunst in der Bucht von Rio de Janeiro soll man ihn jedenfalls einmal höflich an seinen Auftrag erinnert haben, ich zitiere: "Oscar, es wird ein Museum. Wir wollen da drin Bilder aufhängen, verstehst Du? Kannst Du bitte nicht alle Wände rund machen?" Soweit ich weiß, hat Niemeyer sich zumindest ansatzweise daran gehalten, auch wenn das Museum von außen kreisrund ist und einer fliegenden Untertasse gleicht. Als Bauwerk, als Kunstwerk ist es längst legendär, wie viele andere seiner Werke, mit denen er die Menschen überraschen und zum Staunen bringen wollte.

Solche Künstler, solche Visionäre können wir uns für unsere Museen nur wünschen, meine Damen und Herren. In den gewaltigen gesellschaftlichen Veränderungen, die wir im Moment erleben - bedingt nicht zuletzt durch Globalisierung, Digitalisierung und Migration - liegt eine Fülle von Chancen für die Museen, sich gleichermaßen als gemeinsame Ankerpunkte in der Vielfalt und als Leuchttürme in der Unübersichtlichkeit zu profilieren. Dazu braucht es neben politischer Unterstützung auch die leidenschaftliche Lust am Experimentieren, die man in Berlin wie in Sao Paulo in der Kunst und Kultur findet und die diese Städte so schillernd und lebendig macht. Dafür einzutreten und die künstlerische Freiheit, den Mut zum Experiment zu fördern, ist aller Anstrengung wert - nicht nur, aber auch im Hinblick auf die Zukunft von Museen!