Redner(in): Hans Martin Bury
Datum: 14.03.2001

Untertitel: Staatsminister Bury im Hotel Adlon in Berlin zu einer Festveranstaltung der Deutschen Börse AG...
Anrede: Anrede,
Quelle (evtl. nicht mehr verfügbar): http://archiv.bundesregierung.de/bpaexport/rede/04/33704/multi.htm


Sperrfrist Redebeginn!

Sehr geehrter Herr Potthoff,

sehr geehrter Herr Dr. Schlochtermeyer,

sehr geehrte Damen und Herren,

vor einigen Tagen las ich in den Börsennotizen einer großen deutschen Tageszeitung eine etwas ironische Empfehlung für drei Firmen aus San Francisco und dem Silicon Valley.

Die Unternehmen seien zur Zeit sehr erfolgreich dabei, einen neuen Wachstumsmarkt zu erschließen.

Die Rede ist von 3 Milliarden Dollar Volumen.

Es geht um die Versteigerung - teilweise per Internet - des Inventars Pleite gegangener Web-Firmen und Dot Coms: Server, Router, Printer, Palm Pilots, aber auch Aktenordner und Bürosessel.

Im selben Artikel war zu lesen, der Leerstand von Gewerbeimmobilien im Silicon Valley habe sich in den vergangenen Monaten vervierfacht - auch dies eine gute Gelegenheit zum Einstieg.

Ich habe den Eindruck, die Kursentwicklung von Firmen der New Economy löst vor allem bei denen Schadenfreude aus, die von einer Art Verdrängungswettbewerb zu Lasten der traditionellen Industrieproduktion ausgehen und sich dabei bisher auf der Verliererstrasse wähnten.

Freilich, Kursverluste von rund 50 % bei den Nasdaq-Titeln und um 80 % beim Nemax seit März letzten Jahres scheinen den Skeptikern Recht zu geben.

Aber wer sagt eigentlich, dass wir uns nicht einfach in einem Normalisierungsprozess befinden, der den Grundstein für eine neue Aufwärtsbewegung legt?

Man könnte sagen, die Entwicklung der New Economy trägt alle Zeichen einer klassischen antiken Tragödie: große Hoffnungen, tiefer Fall, schließlich die Läuterung des Helden, der danach immer ein wenig menschlicher geworden ist.

Und die Läuterung ist - wie man weiß - schon wieder die erste Voraussetzung für den Wiederaufstieg.

Tatsache ist, dass das Börsenumfeld ohnehin volatiler geworden ist. Unternehmensnachrichten werden heutzutage nicht mehr handverlesen weitergereicht, sondern erscheinen in Sekundenschnelle - sehr viel rascher als früher jedenfalls - auf den Bildschirmen der internationalen Entscheidungsträger.

Und Tatsache ist auch, dass Flaggschiffe der New Economy besonders starke Beachtung finden.

In diesem Umfeld beeinflusst beispielsweise das Ausscheiden einer "Internet-Ikone" wie des Yahoo-Chairmans Tim Koogle oder auch die eine oder andere Gewinnwarnung den Kurs natürlich besonders stark.

Langfristige Erwartungen und Perspektiven treten leicht hinter diesen Schlagzeilen zurück. Und die langfristigen Perspektiven von Internet, E-Commerce, Mulitmedia - auch Gen- und Biotechnologie - sind nach wie vor gut.

So gesehen ist das Motto "tech is the place to be", mit dem so mancher Aktionär von Nasdaq- oder Nemax-Titeln bis März letzten Jahres hervorragend fuhr, auch heute noch aktuell - auch wenn die New Economy mittlerweile in eine neue Phase eingetreten ist.

Tatsächlich ist die erste Phase der New Economy, die in den 90ern als heiße Affäre zwischen Kapitalmarkt und Digital Companies begann, seit April 2000 vorüber. Die neue Börsensprache, die sich damals gebildet hat, ist geblieben - von "Stories" war die Rede, die "sexy" sein müßten, jedermann lernte was ein "Hype" ist oder was "Cashburn" bedeutet.

Inzwischen haben sich die astronomischen Kurse und Kurs-Gewinnverhältnisse vieler New Economy-Werte normalisiert. Traditionelle Industrieproduktion und neue Wachstumsfirmen scheinen sich wieder auf einem "Level Playing Field" zu bewegen.

Immer mehr kristallisieren sich andere Aspekte der New Economy heraus, die im rauschenden Kursfeuerwerk zunächst nicht die Beachtung fanden, die sie verdienen.

Da ist zum einen der integrierende Aspekt der New Economy. Denn die neuen I&K -Technologien - aber auch die Gen- und Biotechnologien - führen die Synergieeffekte zwischen traditioneller Industrieproduktion und New Economy in ganz neue Größenordnungen.

Ich persönlich glaube deshalb, dass die Frage, wo künftig Wachstum entsteht, mit einem Entweder-Oder nicht zu beantworten ist."Wer wächst schneller?" - das ist nicht meine Frage. Wichtiger sind die Interdependenzen und Lerneffekte zwischen New Economy und Traditional Economy.

Die vielleicht weitreichendste Innovation der New Economy ist die Verbindung von wirtschaftlicher Effizienz mit teamorientierter Arbeit und kooperativem Führungsstil. Um Innovationen, langfristiges Wachstum und flexible Unternehmensorganisationen zu erreichen, ist ein kooperatives Miteinander, sind Lösungen im Konsens erforderlich.

Eine verbreitete These über die Arbeitsbeziehungen in der New Economy lautet: Der Einzelne mit seiner Kreativität und seinem Wissen steht im Mittelpunkt, er versteht sich nicht als Angestellter, sondern als Unternehmer seines Lebenslaufes.

Am liebsten verhandele er direkt und ohne Umwege seine Interessen, und es liege ihm fern, diese zu delegieren.

Doch sowohl der Erfolg - das starke auch personelle Wachstum der Unternehmen - wie auch Umstrukturierungsanforderungen oder gar Sanierungsfälle der jüngsten Zeit haben zu der Erkenntnis beigetragen, dass auch bei Unternehmen der New Economy alte Spielregeln gelten.

Die New Economy kennzeichnet ein neues Unternehmerbild. Einer weit verbreiteten Einschätzung zufolge träumte in den 90er Jahren noch der Großteil der Hochschulabsolventen von einer komfortablen und sicheren Zukunft in einem Großunternehmen oder im öffentlichen Dienst. Heute haben die jungen Menschen Lust auf und den Mut zur Selbständigkeit.

Das ist gut so, denn allen Megafusionen zum Trotz gehört die Zukunft den smart companies.

Überschaubaren, flexiblen Einheiten, die vernetzt arbeiten und sich projektbezogen zu virtuellen Konzernen zusammenschließen. Und diese Gründer rufen - im Unterschied zu manchem Vertreter der etablierten Branchen - nicht gleich nach dem Staat. Sondern handeln im Sinne des John F. Kennedy Leitspruchs "Frage nicht, was dein Land für dich tun kann. Sondern was du für dein Land tun kannst."

Die Voraussetzungen für einen breiten Gründerboom sind hierzulande ausgezeichnet. Mit Köpfen und Können verfügen wir über die Rohstoffe des 21. Jahrhunderts, wir haben einen boomenden Markt für Risiko- und Beteiligungskapital und wir verfügen mit dem Neuen Markt über das dynamischste Segment für Wachstumsunternehmen in Europa.

Es ist noch nicht lange her, da sah die Situation in Deutschland anders aus. Börsengänge waren damals die Seltenheit, gerade mal 12 Unternehmen gingen 1996 an die Börse; junge High-Tech- und Dienstleistungsunternehmen taten sich oft schwer, weil die klassische Fremdfinanzierung bei ihnen an die Grenzen stieß. Die Aktie spielte als Kapitalanlage kaum eine Rolle, der Deutsche sei risikoavers, hieß es damals.

Dass dies heute anders ist, ist auch ein Verdienst der Deutschen Börse in Frankfurt. Am 10. März 1997 startete der Neue Markt in Frankfurt - und seine "story" ist - allen Schwierigkeiten zum Trotz - beachtlich. 337 Unternehmen sind heute am Neuen Markt gelistet. Alleine im letzten Jahr gab es 139 Börsengänge.

Das Jahr 2000 hat jedoch bewiesen, dass auch für den Neuen Markt die alten Börsenweisheiten gelten. Die Börse ist keine Einbahnstraße: Der maßlosen Euphorie mit exorbitanten Kurssteigerungen folgte der brutale Absturz des letzten Jahres.

Börsenexperten sprechen mit Recht von einer notwendigen Konsolidierung und mahnen zur Gelassenheit. Für viele Kleinanleger war diese Konsolidierung jedoch nicht weniger als eine finanzielle Katastrophe. Insgesamt sank die Börsenkapitalisierung am Neuen Markt in einem Jahr um mehr als 160 Mrd. DM. Buchverluste für die Profis, reale Kapitalvernichtung für viele Anleger.

Es ist jetzt die gemeinsame Aufgabe von Unternehmen, Börsen, Banken und Politik, das verlorene Vertrauen in den Neuen Markt zurückzugewinnen.

Die Deutsche Börse hat reagiert. Mit den verschärften Anforderungen an Quartalsberichte, der Veröffentlichung von Sanktionsmaßnahmen bei Regelverstößen und der neuen Meldepflicht beim Kauf und Verkauf von Unternehmensaktien durch das Unternehmen wird die Transparenz am Neuen Markt verbessert.

Darüber hinaus bedarf es weiterer Maßnahmen zum besseren Schutz von Kleinanlegern. Ich unterstütze daher ausdrücklich die Initiative des Bundeswirtschaftsministers zur Erarbeitung eines Kodexes für Aktienanalysten. Dabei geht es insbesondere um den Aspekt der Unabhängigkeit der Analysten und ihrer Prognosen. Das Bundeswirtschaftsministerium lotet zur Zeit im Dialog mit Praktikern aus, ob solche Verbesserungen durch eine Art "Ehrenkodex" erreicht werden können oder ob gesetzliche Maßnahmen notwendig sind. Konkrete Vorschläge sollen im Sommer vorliegen.

Notwendige Gesetzesänderungen könnten in das 4. Finanzmarktförderungsgesetz integriert werden, dessen Entwurf das BMF im Sommer vorlegen wird. Im 4. FMFG werden wir darüber hinaus Maßnahmen zur Bekämpfung von Kursmanipulationen ergreifen.

die New Economy ist eine Herausforderung an die Politik, sich den Veränderungen zu stellen und wirtschaftliche und gesellschaftspolitische Strukturreformen vorzunehmen.

Grundlage unserer Politik ist die konsequente Konsolidierung des Bundeshaushalts mit dem Ziel eines ausgeglichenen Haushalts spätestens im Jahr 2006. Und wir nutzen die gewonnenen Spielräume nicht nur für Zukunftsinvestitionen, etwa in Bildung und Forschung. Sondern wir geben die Handlungsspielräume vor allem zurück an Bürger und Wirtschaft. Über niedrigere Steuern und Abgaben. Und mit einer Reform der sozialen Sicherungssysteme, die Eigeninitiative fordert und fördert. Und zugleich neue Impulse für den Kapitalmarkt gibt - und damit Finanzierungsbedingungen für die Unternehmen verbessert.

Es ist gerade mal drei Jahre her, da schrieb die internationale Presse von der German Disease. Wir sprachen von Reformstau. Diese Debatte ist überwunden. An ihre Stelle ist eine Aufbruchstimmung getreten, die nicht nur die junge Generation erfasst hat.

Zu neuer Politik in Zeiten der New Economy gehört auch ein neuer Politikstil: Vom Vater Staat zum Partner Staat.

D 21 ist für mich ein Musterbeispiel für public private partnership. Die Initiative ging von Unternehmen aus. Den Vorsitz des Beirates hat Bundeskanzler Gerhard Schröder übernommen. Gemeinsam arbeiten wir - Wirtschaft und Politik - daran, den Weg in die Informations- und Wissensgesellschaft erfolgreich zu beschreiten. Chancen aufzuzeigen, Teilhabemöglichkeiten zu schaffen und eine Spaltung der Gesellschaft in User und Loser zu verhindern.

Zu lange wurde public private partnership in Deutschland verkürzt für die private Finanzierung öffentlicher Aufgaben gebraucht. Uns geht es um mehr. Es geht um die gemeinsame Definition von Zielen und die Vereinbarung konkreter Umsetzungsschritte.

Den selben Weg sind wir gegangen bei der Vorbereitung des Übernahmegesetzes, das die Bundesregierung in diesem Jahr in Kraft setzen will. In einer hochrangigen, vom Bundeskanzler berufenen Kommission haben Experten aus Unternehmen, Gewerkschaften, Banken und der Börse Eckpunkte erarbeitet, die die Grundlage für das Gesetzgebungsverfahren bilden. Das Bundesministerium für Finanzen hat jetzt den Entwurf vorgelegt, der im Mai im Bundeskabinett beschlossen werden soll.

Die Bundesregierung setzt darauf, dass das Vermittlungsverfahren zwischen Europäischem Parlament, Rat und Kommission über die Europäische Übernahmerichtlinie bald zu einer Einigung führen wird. Eventuelle Änderungen der Richtlinie würden wir im Gesetzgebungsverfahren berücksichtigen.

Sollte das Vermittlungsverfahren jedoch zu keiner Einigung führen, würde die Bundesregierung in diesem Jahr eine nationale Regelung verabschieden.

Anfang 2002 wird die im Rahmen der Unternehmensteuerreform eingeführte Steuerfreistellung der Veräußerungsgewinne in Kraft treten. Es ist zu erwarten, dass Banken, Versicherungen und Industrieunternehmen diese Möglichkeiten nutzen werden und den Strukturwandel vorantreiben. Die alte - wegen ihrer hochgradigen Verflechtung zum Teil ineffiziente und intransparente - "Deutschland AG" wird es dann so nicht mehr geben.

Die Verabschiedung des Übernahmegesetzes wird nach dem Namensaktiengesetz ein weiterer Schritt zur Modernisierung Deutschlands und ein wichtiger Beitrag zum Schutz von Kleinanlegern sein.

Mit dem Übernahmegesetz setzen wir Leitplanken, die sicherstellen, dass Aktionäre und Beschäftigte beim rasanten Strukturwandel nicht unter die Räder kommen. Ziel ist die Schaffung eines fairen und transparenten Verfahrens, das den Anforderungen der Globalisierung und der Finanzmärkte Rechnung trägt und die Interessen von Minderheitsaktionären und Arbeitnehmern wahrt. Durch die Verbesserung von Information und Transparenz schaffen wir Vertrauen und damit die Voraussetzung für Akzeptanz. Akzeptanz für den Wandel.

Mit der Einsetzung des Regierungskommission "Corporate Governance: Unternehmensführung - Unternehmenskontrolle - Modernisierung des Aktienrechts" hat die Bundesregierung ein weiteres Reformvorhaben im Unternehmensrecht eingeleitet.

Der Kommission gehören Unternehmensvorstände, Gewerkschafter, Wissenschaftler und Vertreter von Bundesregierung und Koalitionsfraktionen an; Vorsitzender ist der Frankfurter Wirtschaftsrechtler Professor Dr. Theodor Baums.

Vor dem Hintergrund der rasanten Veränderung des wirtschaftlichen, technologischen und rechtlichen Umfelds soll die Kommission Vorschläge zur Modernisierung des deutschen Systems der Corporate Governance für Wirtschaft und Politik erarbeiten. Neben der Verbesserung von Transparenz und Kontrolle geht es um Themen wie die Arbeit von Vorstand, Aufsichtsrat, Hauptversammlung und Abschlußprüfung sowie um die grundsätzliche Frage einer Neujustierung des Verhältnisses von gesetzlichem Ordnungsrahmen und Instrumenten der Selbstregulierung.

So erörtert die Kommission auch Möglichkeiten der Deregulierung des Aktienrechts insbesondere für Start ups und Neue Markt-Unternehmen und diskutiert erweiterte Einsatzmöglichkeiten moderner I&K -Technologien. Der Abschlußbericht mit Empfehlungen für Wirtschaft und Politik soll im Sommer 2001 vorgelegt werden.

Anrede,

zwei wichtige Charakteristika der New Economy sind Schnelligkeit und Transparenz. Daraus erwachsen Chancen und Herausforderungen.

An der Börse sind Quartalsberichte und ad-hoc-Meldungen inzwischen die Regel. Wichtig ist, dass kurzfristiges Denken nicht langfristige Orientierung ersetzt oder konterkariert.

Auch in der Politik hat das Tempo zugelegt, auch hier ist der Markt volatiler geworden.

Wirtschaft und Politik droht gleichermaßen, dass die hektische Suche nach dem gerade aktuellen Trend leicht zu Beliebigkeit, zum Ersatz für fehlende Substanz und Strategie werden kann.

Die Bundesregierung hat Zukunftsfähigkeit zum Markenzeichen ihrer Politik gemacht. Es hat etwas gedauert und war alles andere als konfliktfrei, aber inzwischen gibt es eine hohe Akzeptanz für das Zukunftsprogramm der Bundesregierung: Die Kombination von Haushaltskonsolidierung, Steuerentlastungen und Strukturreformen in den sozialen Sicherungssystemen hat sich als Asset erwiesen.

Auf Dauer werden sich in der Politik und an der Börse nur diejenigen durchsetzen, die sich, ihre Produkte und Konzepte konsequent weiterentwickeln. Die den Mut zur Veränderung haben und Bewährtes mit Neuem zu verbinden vermögen.

Anleger und Wähler werden immer kritischer und anspruchsvoller - und das ist gut so.

Ich wünsche dem Neuen Markt zum 4. Geburtstag und für die Zukunft - sozusagen für die nächste Wahlperiode - viel Erfolg.

Vielen Dank.