Redner(in): Julian Nida-Rümelin
Datum: 14.03.2001

Untertitel: Statement des Kulturstaatsministers Julian Nida-Rümelin anlässlich der Verleihung des John-Lennon-Awards am 14. März im Willy-Brandt-Haus in Berlin zum Thema "Hoch-, Sub- oder Popularkultur? Gedanken über einen zeitgemäßen Kulturbegriff"
Anrede: Anrede,
Quelle (evtl. nicht mehr verfügbar): http://archiv.bundesregierung.de/bpaexport/rede/38/39438/multi.htm


Susan Sontag hat in den 60er Jahren in einem Artikel Against Interpretation sehr sensibel argumentiert, dass der Kulturbetrieb dazu neige, jede Leistung der Kunst durch Gerede über die Kunst und Interpretation der Kunst zu verdoppeln, und dass man damit der Kunst in der Regel nicht gerecht werde. Später hat sie in zahlreichen Schriften für eine Ästhetik des Schweigens ( The Aesthetics of Silence ) plädiert - eine Sichtweise, die die Kunst in ihrem eigenen Recht ernst nimmt, ohne bestimmte überlieferte Interpretationsmuster vorzuschalten. Was sie meint ist dies: Nicht gleich darüber reden, sondern zunächst möglichst unbefangen zuhören, lesen, in sich aufnehmen und das Ganze auch einmal in einer gebrochenen Perspektive betrachten. Also zum Beispiel, um Susan Sontag ein weiteres Mal zu zitieren,"einen Porno ohne Lustgefühle" ansehen oder ein ernsthaftes Werk der Literatur als Ausdruck der Popkunst lesen. Und nicht nur Susan Sontag, auch andere Theoretikerinnen aus dem US-amerikanischen Umfeld haben, wie ich meine mit Recht, gesagt, diese üblichen tradierten, auch in den kulturellen Institutionen tief verankerten Kategorien der Hochkultur und der Popularkultur seien bei einem offenen, sensiblen Blick auf die ganze Vielfalt der Kunst und ihre verschiedenen Erscheinungsformen nicht aufrecht zu erhalten.

Ich glaube, dass wir gerade in Deutschland, aber auch auf dem ganzen europäischen Kontinent in dieser Hinsicht einen Nachholbedarf haben, weil die überkommenen Einteilungen tief in unserer Wahrnehmungsweise verankert sind. Das führt unter anderem dazu, dass viele junge Menschen mit ihren dem schnellen Wandel unterworfenen ästhetischen Empfindungen es zunehmend schwer haben, die tradierten Angebote der Kunst, der Stadttheater, der städtischen Orchester oder der Museen als auch für sie bestimmt zu erkennen. Zu den öffentlichen Förderstrukturen - auch sie sind im traditionellen Schubladendenken befangen - komme ich noch.

Gestatten Sie mir, zu diesem Thema drei Thesen aufzustellen - auch auf die Gefahr hin, dass sie als Provokation aufgefasst werden könnten.

Die erste These betrifft das Verhältnis von Pop und Kunst. Eigentlich ist schon die Debatte darüber, ob Pop Kunst sein kann, von der Begrifflichkeit her nicht sinnvoll. Pop wird von Nicht-Pop im allgemeinen danach unterschieden, ob sich ein Werk an ein breites Publikum wendet. Und sofort taucht die Frage auf, ob nicht ein Gutteil dessen, was man nicht zu Pop zählt, eigentlich doch Pop ist. Wie ist es denn mit Mozart, dessen Produktionen zu seiner Zeit auch als Hintergrundmusik bei Gelagen und für den Gesellschaftstanz herhalten mussten? War das unter den Bedingungen des 18. Jahrhunderts, also ohne Radio, MTV, CD und DVD und deswegen ohne Massenpublikum im heutigen Sinne, vielleicht dennoch Popmusik? Die Größe des Adressatenkreises, heute oft die ganze Welt, muss bei der Frage nach dem künstlerischen Anspruch außer Betracht bleiben.

In der Bildenden Kunst - ich erinnere nur an den bedeutendsten sogenannten Popkünstler, Andy Warhol - war es zunächst seine Provokation, die Stilelemente der Werbung und der Wirtschaft in die Kunst, in die Museen hineinzuholen und damit auf die besondere ästhetische Qualität dieser Form von Warenpräsentation aufmerksam zu machen. Diese Provokation hat sich abgegriffen. Die Übergänge zwischen dem Artefakt mit einem spezifischen künstlerischen Anspruch und Massenprodukten, die dann mit künstlerischer Intention in andere Kontexte gestellt werden, sind fließend geworden. In der Bildenden Kunst ist es ganz selbstverständlich, dass man das alles zur Kunst zählt.

Nun ist nicht alles, was wir zur Popularkultur zählen, hohe Kunst. Und nicht alles, was nach hergebrachten Kategorien zur E-Musik zählt, ist hohe Kunst. In beiden Bereichen gibt es ein Gefälle. Deswegen plädiere ich in Kenntnis der Schwierigkeiten dafür, die besondere ästhetische Qualität der Popkultur im weitesten Sinne sehr ernst zu nehmen. Dies gilt vor allem für die Produktionen Hollywoods, deren definierende Wirkung auf die Weltkultur nicht hoch genug eingeschätzt werden kann. Dass die Motivation der Film- und der Musikproduzenten in Los Angeles und New York das Geldverdienen ist, kann kein Gegenargument sein - auch Mozart war diese Motivation nicht fremd, wie inzwischen auch viele Anhänger der Popkultur aus Peter Shaffers "Amadeus" wissen. Nebenbei bemerkt: In welche der traditionellen Schubladen gehört eigentlich dieser "Amadeus" ?

Meine zweite These betrifft das Verhältnis von Staat und Kunst. Förderungswürdigkeit durch den Staat - und ich meine das im umfassenden Sinne, Kommunen, Länder und den Bund einschließend - bemisst sich nicht allein an künstlerischen Qualitätskriterien. Ein Gutteil dessen, was nach diesen Kriterien einen ganz hohen Stellenwert hat, bedarf keiner staatlichen Förderung, weil es einen Markt hat und sich auf diesem Markt selber trägt. Wenn man also feststellt, diese oder jene künstlerische Leistung brauche keine öffentliche Förderung, ist das kein Werturteil über die künstlerische Qualität. Und umgekehrt: Die öffentliche Hand muss oft auch dort künstlerische Entwicklungen fördern, wo sie ( noch ) nicht höchsten Ansprüchen genügen, um einen Humus in dieser Gesellschaft zu haben, aus dem heraus dann die Spitzenqualität hervorwächst - auch auf das Risiko hin, dass sich diese Hoffnungen nicht immer und überall bestätigen.

Im Bereich der Popularkultur betrifft das vor allem die ganz konkrete Situation, in der sehr junge Menschen anfangen, sich um anspruchsvolle künstlerische Ergebnisse zu bemühen. Das betrifft zum Beispiel den Missstand, dass in den meisten Städten in Deutschland zu wenig Übungsräume da sind, um solchen Gruppen von Musikern überhaupt die Möglichkeit zu geben, sich zu entfalten. Oder dass Clubs, die ganz bewusst nicht primär an den Mainstream appellieren, in der Regel als nicht förderungswürdig angesehen werden, weil sie nicht in das Raster der etablierten Kulturförderung passen.

Und damit bin ich bei der dritten These. Sie betrifft das Verhältnis von Jugendkultur und Pop. Bei den staatlichen Institutionen und ihren Förderinstrumenten gibt es eine Alterslücke. Ich habe mir das für die Stadt München, für die ich kulturpolitisch bis vor kurzem Verantwortung trug, genauer angesehen. Für die Altersgruppe, die noch stark von der Bindung an die Familie geprägt ist, also je nach individueller Entwicklung etwa vom 12. bis 15. Lebensjahr, engagieren sich Staat und Kommunen insgesamt beträchtlich. Da gibt es Einrichtungen und Projekte, die überwiegend über die Sozialreferate oder die Schuldezernate gestützt werden. Die Kulturdezernate sind damit in der Regel nicht befasst.

Und dann haben wir die Kunstinstitutionen, die städtischen Orchester, die städtischen Theater etc. mit einem tendenziell - nicht überall gleich, je nach Programmschwerpunkt - relativ hohen Durchschnittsalter der Zielgruppen. In den Förderstrukturen gibt es eine Lücke etwa zwischen dem 15. und dem 30. Lebensjahr. Man kann der Auffassung sein, das sei ganz natürlich. In dieser Altersgruppe entfernen sich die Menschen aus ihrer familiären Bindung, aus ihren Primärbindungen und auch von den etablierten gesellschaftlichen Institutionen, um dann Jahre später in der Regel zu ihnen zurückzufinden.

Dennoch glaube ich, dass diese Form des Ausblendens eines wichtigen Bereichs der ästhetischen Erfahrung ein Irrweg ist. Was sind die Gründe? Gelegentlich hat man den Eindruck einer gewissen Arroganz, einer Weigerung, neue Erscheinungsformen der Ästhetik zur Kenntnis zu nehmen. Wichtiger scheint mir jedoch ein Gefühl der Bedrohung der eigenen Situation durch die als aggressiv empfundene Popkultur zu sein. Das betrifft vor allem deren Musik, der in der Tat schwerer auszuweichen ist als der Literatur oder der Malerei. Dieses Gefühl war allerdings Ende der sechziger, Anfang der siebziger Jahre noch bedeutend stärker ausgeprägt, als etwa die Rolling Stones zum Instrument der Rebellion gegen die Elterngeneration wurden. Ganz abgeklungen ist dieses Gefühl der Bedrohung jedoch nicht - was für die zugleich provozierende und ( generationen- ) prägende Wirkung der Rolling Stones und Doors in den frühen 70ern gilt, trifft auch auf Punk und New Wave in den 80ern sowie Hip Hop und Grunge in den 90ern zu.

Popmusik spielt gerade im Lebensabschnitt zwischen 15 und 30 eine zentrale Rolle, nicht nur in ihrer Funktion als Element der kulturellen Sozialisierung, sondern auch als wesentlicher Bestandteil der entstehenden globalen Kultur - ob wir diese Entwicklung schätzen oder nicht. Bei aller Trauer über die Einebnung der lokalen und regionalen Kulturen sollten wir den Einigungseffekt über die politischen Grenzen hinweg nicht unterschätzen. Aufhalten können wir die Entwicklung ohnehin nicht, und auch das Schlagwort vom Kulturimperialismus hilft nicht weiter. Welcher Imperialist zwingt denn zum Beispiel die deutschen Fernsehsender, die öffentlich-rechtlichen wie die privaten, ständig amerikanische Soap Operas anzukaufen, sie zu synchronisieren und sie dem deutschen Publikum vorzusetzen?

In diesen Kontext gehört für mich auch der Konflikt zwischen Authentizität und Kommerzialisierung. Gerade in der Popmusik kommen ständig neue Ideen, neue Strömungen auf, die von der Industrie vereinnahmt werden, sobald sie beim Publikum ankommen. Das ist in Ordnung. Das Publikum merkt schnell, ob ein Künstler eine einmal erfolgreiche Idee zu Tode reitet oder ob er sich weiter entwickelt. Gerade in dieser Zielgruppe der Jugendlichen und der jungen Erwachsenen ist der Sinn für Authentizität besonders gut entwickelt, was damit zusammenhängen mag, dass die Mitglieder dieser Gruppe selbst auf der Suche nach ihrer eigenen Authentizität sind. Mir scheint, Staat und Bildungssystem sollten nicht versuchen, neue Tendenzen der Popkultur zu vereinnahmen, sondern sie vielmehr als selbständiges Element der Kultur anerkennen.

Musik ist ein wesentliches Element der ästhetischen Bildung. Der Zugang zur Musik ist aber für die meisten jungen Menschen nicht über die klassische Musik zu erreichen - obwohl die nach wie vor eine wichtige Rolle spielt - sondern eher über Popmusik. Warum also nicht die Popmusik stärker integrieren, und zwar mit den Künstlern selbst? Künstler sind authentischer als Kunsterzieher. Es gilt, in den Schulen stärker mit den Künstlern zusammen zu arbeiten, nicht nur in der Musik, sondern auch in der Bildenden Kunst und in der Literatur. Ansätze in dieser Richtung gibt es. Ich halte es für besonders spannend, auch mal aus dem Schulalltag rauszugehen, ganze Wochenenden mit Musik oder mit Bildender Kunst und mit Künstlern aus diesen Bereichen zuzubringen. Gerade diese Popkultur und Popmusik, aber auch andere Bereiche künstlerischer Praxis sind besonders geeignet, jungen Menschen ästhetische Erfahrungen zu öffnen und sie zur ästhetischen Praxis zu führen.

Falls es eines Fazits bedarf: Die tradierten Kategorien von Hoch- , Pop- und Subkultur, von E- und U-Musik helfen uns nicht weiter - sie stehen uns bei der kulturellen Sozialisation junger Menschen eher im Wege. Im Zweifel ist alles Kunst, und niemand sollte die Definitionshoheit für sich beanspruchen.