Redner(in): k.A.
Datum: 16.03.2001

Untertitel: Ich möchte eine Gelegenheit wie den Unternehmertag dazu nutzen, die aktuelle Debatte über den Aufbau Ost weiterzuführen. Ich halte es für positiv, dass Ostdeutschland seit mehreren Wochen und Monaten gesamtdeutsch wieder in der Diskussion ist.
Anrede: Anrede,
Quelle (evtl. nicht mehr verfügbar): http://archiv.bundesregierung.de/bpaexport/rede/68/36968/multi.htm


Rede Rolf Schwanitz, Staatsminister im Kanzleramt, anlässlich des Südbrandenburgischen Wirtschaftstages in Cottbus am 16. März 2001

Zunächst möchte ich mich herzlich bedanken für die Einladung. Sie, Herr Oberbürgermeister, haben - wie ich finde - einen guten Anfang gemacht für die Diskussion.

Dies ist heute mein 6. Besuch innerhalb der letzten 2 Jahre in Cottbus. Das muss so sein in Regionen mit besonderer Problemlage. Ich werde deswegen auch künftig Anlässe wie den Unternehmertag nutzen, um über Impulse für den Mittelstand mit Ihnen zu sprechen.

Ich werde bewusst kein Referat halten über die Vielfalt und Intensität der Förderinstrumente des Bundes. Sie wissen das besser über Kammern und andere Ansprechpartner. Ich möchte eine Gelegenheit wie den Unternehmertag dazu nutzen, die aktuelle Debatte über den Aufbau Ost weiterzuführen. Ich halte es für positiv, dass Ostdeutschland seit mehreren Wochen und Monaten gesamtdeutsch wieder in der Diskussion ist. Dies ist - glaube ich - vor allem angesichts der Herausforderung, der wir in der politischen Debatte in diesem Jahr insbesondere im Zusammenhang mit dem Solidarpakt II gegenüber stehen, sicherlich ein wichtiger Punkt.

Die Debatte verläuft eigentlich zwischen zwei Extrempositionen. Dabei geht es weniger um die eigentlich unstrittigen Fakten, sondern um zwei unterschiedliche Positionen und Herangehensweisen. Es geht einerseits um das Bild "Ostdeutschland stehe auf der Kippe" oder sogar schon ein bißchen weiter in Richtung Talfahrt. Dies meinte Egon Bahr in einem Artikel in der Zeitung "Die Woche".

Auf der anderen Seite steht die Position des ehemaligen Wirtschaftsministers von Sachsen-Anhalt, Mathias Gabriel, der sagte, wir bräuchten eigentlich keine besondere Förderung mehr. Die Förderung sei in Ostdeutschland ein Auslaufmodell. In etwa vier Jahren, ab 2005 müsse das ganze aufgelöst werden in Richtung einer gesamtdeutschen Regionalförderung.

Ich halte beide Bilder für falsch, bezogen auf die reale Situation! Es ist aber gut, dass die Debatte geführt wird. Wir müssen die Situation analysieren und uns vergegenwärtigen, wo wir auf diesem Weg stehen und wo wir hinwollen. Wir sollten dabei die Diskussion nicht nur aus der Perspektive führen, was bei uns noch nicht so ist wie in den alten Bundesländern, sondern auch aus der Perspektive, wo wir vor 10 Jahren gestartet sind.

Für mich gab es damals beim Start einen hochinteressanten, vielleicht ungewollten Kronzeugen der ökonomischen Situation mit dem sogenannten Schürer-Papier ( Schürer war Vorsitzender der DDR-Planungskommission ) . Er war nach dem Wechsel von Honecker zu Krenz beauftragt, eine ungeschminkte Analyse über die ökonomische Situation in der DDR vorzulegen. In dem Papier gab es hochinteressante Kernaussagen: Danach stieg von 1975 bis 1988 der Verschleißgrad der damaligen Industrieausrüstungen von 47 % auf 58 % , im Baugewerbe lag er bei 67 % und im Verkehrswesen bei 52 % . Die DDR lebte also von ihrer Substanz, war am Ende der 80er Jahre de facto zahlungsunfähig. Man kam zu dem Schluss, es wäre notwendig gewesen, den Lebensstandard um 30 % zu senken, um dies zu kompensieren und die Auslandsschuldenlast bedienen zu können. Das alles haben wir in Ostdeutschland nicht miterleben müssen. Wir haben einen anderen, besonderen Weg gefunden.

Ich glaube, dass zum Teil die mentale Last und die Ungeduld, die wir in den neuen Ländern spüren, daraus erwachsen ist, dass die wirkliche ökonomische Situation 1989 nicht in der Lebenssphäre der Menschen spürbar geworden ist. Wir können darüber froh sein, dass dies nicht passiert ist.

Eine andere Ursache der Ungeduld ist natürlich auch, dass die Politik Fehler gemacht hat; beispielsweise beim Beschreiben der Dimension, beim Projektieren von Zielen. Dies war z. T. kurzfristig politisch motiviert, da Wahlen anstanden. Ich glaube, wir schleppen einen Teil dieses Erbes mental noch mit.

Wir haben im letzten Jahr Bilanz gezogen. Dies geschah nicht nur, weil wir nach 10 Jahren ein Jubiläum mit freudigen Erinnerungen feiern konnten, sondern auch, weil - bei allen Lasten und Unzulänglichkeiten, über die wir zu reden haben - es eine Menge an positiven Veränderungen gibt. In der Infrastruktur ist viel passiert. Ich hätte mir weder 1980 noch 1990 vorstellen können, dass die ostdeutsche Infrastruktur innerhalb von 10 Jahren eine solche Entwicklung nehmen könnte. Erinnern Sie sich noch, wie lange wir auf einen Telefonanschluss warten mußten. Meine Frau erinnerte mich kürzlich daran, dass wir 1988 einen Farbfernseher für 6 000 Mark gekauft haben, damals ein halbes Jahreseinkommen. Es gab enorme Einkommenszuwächse, es bleibt aber auch nach 11 Jahren noch ein Einkommensgefälle. Wir haben enorme Zuwächse bei den Renteneinkommen erzielt. Die Leistungsfähigkeit der ostdeutschen Industrie ist beachtlich gestiegen. Ich erinnere daran, dass 70 % der ostdeutschen Industrie Anfang der 90er zusammengebrochen war. Wir haben in den zurückliegenden 10 Jahren eine Verdopplung der Arbeitsproduktivität in der ostdeutschen Industrie erreicht. Im Gutachten des Sachverständigenrates war zu lesen, dass nach internationalen Erfahrungen zur Halbierung solcher Produktivitätsabstände normalerweise rd. 30 Jahre gebraucht werden. Wir haben - mit intensiven Hilfen - in 10 Jahren eine Halbierung geschafft. Trotzdem gibt es noch massive Probleme wie eine doppelt so hohe Arbeitslosigkeit und eine Differenz in der Leistungsfähigkeit. Diese hat aber nichts mit Fleiß, Können oder Intellekt der Menschen zu tun, sondern mit Entwicklungsunterschieden und dem massiven Strukturbruch, den wir bewältigen mußten. Der Ausgleich dieser Unterschiede wird uns noch eine Vielzahl von Jahren beschäftigen. Dennoch haben wir eine Leistung vollbracht, auf die wir stolz sein können und auf die wir auch mit Selbstbewusstsein zurückblicken können.

Ich kann der These von Herrn Gabriel, dass keine Unterschiede zwischen Ost- und Westdeutschland mehr bei der Wirtschaftsförderung gemacht werden sollten, nicht zustimmen. Natürlich geht der Trend hin zu gesamtdeutschen Konditionen in der Wirtschaftsförderung. Das bedeutet auch ein Stück Normalisierung. Aber ich warne davor, Instrumente wegzuwerfen, ohne vorher auf die ökonomischen Unterschiede zu sehen; nur weil der Diskussionsfluss sich an einem gesamtdeutschen Populismus orientiert.

Es hat auch prominente Vergleiche und Anregungen in der Diskussion gegeben. So hat der Bundespräsident die Räume Suhl und Gelsenkirchen miteinander verglichen. In beiden Städten existieren in etwa gleiche Arbeitslosenquoten. In Suhl gibt es eine Arbeitslosigkeit von 13 % , das ist für ostdeutsche Verhältnisse günstig. In Gelsenkirchen beträgt sie 13,7 % . Dennoch lohnt es sich auch hier, einen Blick ins Detail zu werfen. Wer auch den zweiten Arbeitsmarkt in die Betrachtung mit einbezieht, wird die Unterschiede erkennen. Die Unterbeschäftigung insgesamt, also die Arbeitslosen und die Personen im 2. Arbeitsmarkt, gibt erst die Problematik wider. Dann zeigt sich der Unterschied schon deutlicher. In Gelsenkirchen gibt es eine Unterbeschäftigung von 15,4 % , in Suhl von 17 % . Das ist für ostdeutsche Verhältnisse immer noch sehr günstig. Noch deutlicher werden die Unterschiede, wenn man z. B. die Steuereinnahmen pro Kopf der Bevölkerung beider Städte miteinander vergleicht: in Suhl: 656 Mark, in Gelsenkirchen 1.415 Mark. Deshalb ist die Situation in Gelsenkirchen, obwohl eine Stadt mit härtesten strukturpolitischen Problemen in den alten Bundesländern, dennoch nicht mit ostdeutschen Bedingungen gleich zu setzen. Ich sage deshalb aus ein klares NEIN zu einer Verwischung der Unterschiede. Ich werbe dafür, dass wir auch gesamtdeutsch die Kraft aufbringen, die besondere Förderung der neuen Bundesländer zu gewährleisten und sie so lange aufrecht zu erhalten, so lange wir sie ökonomisch brauchen.

Ich will als nächstes beleuchten, was bis 1998 von der früheren Bundesregierung an Fehlsteuerungen politisch zu verantworten war und wo wir gegenüber Ostdeutschland einen Strategiewechsel durchführen mußten.

Dazu gehört, dass wir nicht nur einen Strategiewechsel brauchten in Hinsicht auf nicht durchgeführte gesamtdeutsche Reformen. Diese hatten sich z. T. als jahrzehntelang nicht geschulterte politische Last in der Geschichte der Altbundesrepublik entwickelt und wurden natürlich auch in den neuen Bundesländern wirksam. Dazu gehört die Steuerreform, die Reform der Krankenversicherung, die Reform der Renten, Fragen der Familienpolitik überhaupt. Dazu gehört auch die ganze Frage der Haushaltskonsolidierung, ohne die keine fundierte Förderpolitik insbesondere für die neuen Länder auf Dauer möglich ist.

Ich habe noch gut in der Erinnerung, dass wir in den zurückliegenden Jahren bis 1998 einen schleichenden Rückzug der Bundespolitik aus Problemen und Aufgaben in den neuen Bundesländern hatten. Das kann man an vielen Fragen festmachen. So wurde beispielsweise bei aktuellen Problemen die bundespolitische Zuständigkeit in Frage gestellt nach dem Motto: damit mögen die ostdeutschen Kommunen allein zurecht kommen. Die finanzielle Gesamtausstattung, Stichwort Solidarpakt I, wurde in einer Art und Weise diskutiert, die ganz und gar nicht im Sinne der ostdeutschen Länder war. Ich erinnere daran, dass 1996/97 debattiert wurde, vorzeitig aus dem bis 2004 geltenden Solidarpakt I auszusteigen. Die alte Bundesregierung hat damals keine Verlängerungsdiskussion geführt, sondern es ging um vorzeitige Beendigung des Solidarpaktes I. Diesen Punkt mußten wir zuerst weg räumen, weil er nicht im Interesse der ostdeutschen Länder war.

Wir brauchten außerdem einen Strategiewechsel bei der Förderung in den neuen Bundesländern. Die Förderziele waren viel zu stark ausgerichtet "auf Stein und Beton" und zu wenig auf Innovation, Erneuerung und Chancen in ostdeutschen Regionen.

Wir haben eine massive schwierige Situation gehabt beim Thema aktive Arbeitsmarktpolitik. Ich bin der Auffassung, dass wir diese Hilfen und Unterstützungen brauchen. Wir können nicht nur über hohe Arbeitslosenquoten klagen. Wir müssen auch entsprechende finanzielle Instrumente bereitstellen. Ich erinnere daran, dass wir 1995 bis 1997 de facto eine Halbierung der aktiven arbeitsmarktpolitischen Unterstützung hatten. 1998 war eine Ausnahme, aber da war Wahlkampf. Wenn sich der Trend fortgesetzt hätte, dann hätten wir heute keine überproportionalen arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen mehr im Vergleich zu den alten Bundesländern. Für das soziale Klima hätte das unvorstellbare Auswirkungen gehabt. Das heißt nicht, dass man die arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen nicht kritisch zu durchleuchten hat. Aber über das Unterstützen und Helfen darf man nicht dogmatisch das Nein verhängen.

Seit unserer Regierungsübernahme haben wir auf den beiden Gebieten z. T. schmerzliche Reformanstrengungen unternommen: bei der Steuerreform und bei der Rentenreform durch das Einziehen einer kapitalgedeckten neuen Säule unter Berücksichtigung der demografischen Situation in Deutschland. Diese Bereiche haben massiv in den letzten zwei Jahren die politische Diskussion bestimmt.

Aber auch im zweiten Bereich, dem Aufbaukonzept für die neuen Bundesländer, hat es natürlich einen Schwerpunktwechsel und eine Neuausrichtung gegeben.

Wir müssen zur Kenntnis nehmen, dass der Aufbau der neuen Bundesländer heute anders ist als in den 90er Jahren. Jetzt ist die 2. Etappe angebrochen. Wachstum speist sich nicht mehr primär aus Quellen und Potenzialen wie der Treuhandprivatisierung, den Privatisierungsverträgen oder Investitionszusagen. Wirtschaftsförderung für das heutige Wachstum muss ansetzten an der Wirtschaftssubstanz der vorhandenen Unternehmen, muss neu ausgerichtet werden auf Innovationen, auf Kooperationen von Unternehmen mit Hochschulen und Universitäten, auf die Stärkung der ostdeutschen Hochschullandschaften. Diese Prioritätensetzung beim Aufbaukonzept - m. E. eine Schlüsselfrage - stellt sich auf allen drei Ebenen: EU, Bund und Länder.

Wir haben die Ausgaben für Innovationen und Entwicklungsförderung nicht nur gesamtdeutsch, sondern besonders in den neuen Bundesländern verstärkt. 3,2 Milliarden Mark stehen dafür zur Verfügung. Das ist eine richtige Entscheidung, auch in Zeiten von Haushaltskonsolidierung, wo wir das Ziel haben, bis 2006 die Nettoneuverschuldung auf Null runter zu fahren. Das wird eine schmerzliche Operation, wenn ich an die Haushalte 2002 und 2003 denke. Auch in Zeiten solcher Anstrengungen, die ich für unabweisbar halte, ist es richtig, die Innovationsförderung zu verstärken, nicht nur quantitativ, sondern auch qualitativ. Ich möchte hier beispielhaft nennen das Förderprogramm InnoRegio, mit dem wir regional orientiert Innovationsförderung betreiben und Potenziale, die in den Regionen vorhanden sind, in neuer Qualität nutzen. Wir werden nicht bei den 25 Projekten stehen bleiben, sondern auch hier zusätzliche Verstärkungen mit einem ergänzenden Förderprogramm auf den Weg bringen.

Die Förderung des Mittelstandes und neuer Existenzen bleibt gerade in Ostdeutschland ein ganz zentrales Thema. Wenn man so will, ist die ostdeutsche Wirtschaft eine Mittelstandswirtschaft. Deshalb glaube ich, dass es richtig war, die Bundesmittel in diesem Bereich neu zu justieren. Die Investitionszulage, ein ganz entscheidendes Investitionsförderinstrument, haben wir verstärkt auf Neu- und Erstinvestitionen ausgerichtet, bei Ersatzinvestitionen statt dessen reduziert. Wir haben sie gerade im Bereich des Grenzlandes - also in Regionen wie Cottbus - noch einmal um 2,5 % erhöht, so dass die Förderung insgesamt 27,5 % für klein- und mittelständische Unternehmen bei Erstinvestitionen beträgt. Wenn man einbezieht, dass diese Mittel steuerfrei sind, bedeutet dies einen Subventionswert von etwa 40 - 44 % der Investitionssumme unmittelbar durch die Investitionszulage. Diese Förderung ist wichtig, um die Grenzregionen zu stärken. Ich denke, das ist ein wichtiges Signal auch für die EU-Osterweiterung, die in den nächsten Jahren vor uns steht.

Ich will andere Maßnahmen nennen, wie das neue DtA-Startgeld zur Existenzgründung mit kleinen Krediten bis zu 100 000 Mark. Wir nehmen einen Abgleich der Geschäftsfelder der beiden großen öffentlichen Förderungsbanken des Bundes vor; der Deutschen Ausgleichsbank ( DtA ) und der Kreditanstalt für Wiederaufbau ( KfW ) . Wir werden die DtA neu strukturieren. Sie wird zur Mittelstands- und Existenzgründerbank ausgebaut. Auch dadurch werden Vereinfachungen für die Unternehmen realisiert.

Im Hinblick auf den Infrastrukturausbau ist Ungeduld verständlich. Wir bleiben deshalb bei der zentralen Prioritätensetzung zugunsten der neuen Länder. Das Erbe, was wir da übernommen haben, ist jedoch schwierig. Die Politik hat natürlich die Maßnahmen angekündigt. Sogar Spatenstiche wurden durchgeführt und haben die Erwartungshaltung in den Regionen stark vergrößert. Der Bundesverkehrswegeplan war aber mit 90 - 100 Mrd. Mark unterfinanziert. Wir haben nach dem Regierungswechsel mit dem "Investitionsprogramm Verkehr" zum ersten Mal klar gesagt, welche Maßnahmen bis 2002 konkret durchgeführt werden; und dies verbindlich für alle Regionen. Wir sind damit weg vom nebulösen Programm von "Wunsch und Wolke", hin zu einzelnen konkreten Projekten. Ostdeutschland erfährt beim Infrastrukturausbau eindeutig eine Prioritätensetzung:

60 % aller Investitionen in der Straße finden in Ostdeutschland statt,

45 % aller Investitionen in die Schiene greifen in den neuen Ländern,

42 % bei den Wasserstraßen.

Diese Prioritätensetzung ist nicht nur angebracht. Sie ist auch eine politische Leistung, gerade wenn man bedenkt, wie manche Ministerpräsidenten in den alten Ländern, diese Prioritätensetzung zwischendurch kommentieren. Die Schwerpunktsetzung ist erforderlich. Wir werden dabei nicht nachlassen. Wir sind auch gewillt, unorthodox neue Finanzierungswege zu erschließen. Das haben wir mit dem neuen Bundesprogramm aus europäischen Mitteln - dem Infrastrukturprogramm "Verkehr", das wir zusätzlich nur für die neuen Länder in Höhe von 3 Mrd. Mark aufgelegt haben - unter Beweis gestellt. Das muss weitergehen, da der Infrastrukturausbau für die neuen Länder eine Zukunftsfrage und Langfristaufgabe ist.

Die aktive Arbeitsmarktpolitik ist ein weiteres zentrales Thema. Wir werden über die Effizienz der Mittel kritisch reden müssen. Das werden schwierige Diskussionen, die ich aber für unabweisbar halte.

Wir werden veränderten Bedingungen Rechnung tragen. Um neu aufkommende Probleme werden wir bundespolitisch keinen Bogen machen. Ein Beispiel sind die ostdeutschen Leerstände, die nicht erst in den letzten zwei Jahren entstanden sind. Dies ist eine schwere Hypothek für die ostdeutschen Kommunen. Wir sind - anders als die letzte Regierung - nicht der Meinung, dass dies ausschließlich Aufgabe der ostdeutschen Länder und Kommunen oder Gemeinden sein kann. Hier muss der Bund aktiv helfen. Darum werden wir hier auch über das hinaus unterstützend tätig werden, was wir schon im letzten Herbst mit der Ergänzung des Altschuldenhilfegesetzes auf den Weg gebracht haben.

Und schließlich ist es unser großes Ziel, den Solidarpakt II vor der Bundestagswahl unter Dach und Fach zu bekommen. Es muss zu einer bruchlosen Anschlussfinanzierung im Interesse der neuen Bundesländer kommen. Wir reden hier von einer Zeitdimension, die - gemessen von heute - bis 2015 reicht. Dies signalisiert klar. Wir wollen den neuen Bundesländern langfristig Sicherheit über ihre finanzielle Ausstattung geben, damit sie ihre Aufgaben erledigen können.

Neben diesen Ausführungen zur eher technischen Politik möchte ich mich noch zur mentalen Seite der Debatte äußern. Meiner Meinung sollten wir uns in Ost und West die Kraft und Zeit nehmen für eine Verständigung in einigen zentralen Fragen, über den Weg, der noch vor uns liegt. Wir sollten dabei schwierigen Debatten nicht aus dem Weg gehen. Es gibt keine Alternative dazu, dass man die Anstrengungen in den Zeiträumen, die dafür erforderlich sein werden, auch tatsächlich abverlangt und leistet. Ich denke, dass zu diesen Fragen ein Bewusstseins- und Ansehenswandel in ganz Deutschland passieren muss.

Westdeutsche Bürgerinnen und Bürger müssen ein anderes Bild von Ostdeutschland gewinnen, weg vom Transferostdeutschen hin zu einem gleichberechtigten Mitbürger im vereinigten Deutschland. Dabei wollen wir nicht zudecken, dass wir die Entwicklung nur mit finanzieller Leistungsbereitschaft und Unterstützung der alten Bundesländer vollziehen können. Es muss aber ins Bewusstsein gelangen, dass die eigentlichen Lasten des Transformationsprozesses in den neuen, nicht in den alten Bundesländern getragen werden. Das beginnt bei der Anerkennung der enormen Leistungen, die sich in der Umstellung der gesamten Gesellschaft in Ostdeutschland vollzogen haben, ob das Ausbildung, Beruf, Verwaltung, Recht und Politik war. Das vielleicht größte Wunder vollzog sich bei dem Thema Existenzgründung. Ich erinnere mich noch an einen Spruch aus DDR-Zeiten: "Eigeninitiative ist Disziplinlosigkeit mit positivem Ausgang." Das war ein geflügeltes Wort, bei dem man sich augenzwinkernd anlächelte. Es fehlte die Mentalität zur Selbstständigkeit, zur Bereitschaft, Risiko zu übernehmen bis hin zur persönlichen Haftung bis in die Familie hinein. Eine gleichmachende Gesamtversorgung war Gesellschaftsmodell. Dass sich aus einer solchen Gesellschaft heraus Existenzgründungen in einer hohen Intensität vollzogen haben - 540 000 ostdeutsche Unternehmen mit inzwischen 3,2 Millionen Arbeitsplätzen - ist eine der größten Leistungen, die wir geschaffen haben. Ich finde, dass das zu wenig Anerkennung erfährt.

Aber ich glaube auch, dass wir in Ostdeutschland Fehlvorstellungen ebenso wegräumen müssen, wie Illusionen über den Weg, der vor uns liegt. Das erste, was mir auf der Seele liegt, klingt trivial. Wir müssen die Vorstellung wegräumen, dass die Angleichung der Lebensverhältnisse primär durch die Politik exekutiert werden könnte. Die Vorstellung, dass die Lebensverhältnisse zwischen Ost und West noch nicht angeglichen seien, weil dies durch die Politik vorenthalten werde, ist falsch. Sondern: Die Ungleichheit ist das Ergebnis von nicht vollzogenen sozialen und ökonomischen Entwicklungsprozessen, die die Politik zu flankieren und zu begleiten hat. Aber Politik kann nicht mit einem Zauberstab über die Landschaften schweben und sich fortbewegen wie Harry Potter und alles zum Blühen bringen. So bitter das auch klingt, aber dieser Entwicklungsprozess kann nur - sicher mit Unterstützung - durch die Menschen selbst erarbeitet werden. Ich glaube, darüber haben wir in Ostdeutschland noch zu reden, auch über die Illusionen, die in Ostdeutschland noch bestehen.

Wir müssen uns auch im Klaren werden, dass neue, wettbewerbfähige Arbeitsplätze in einer Wettbewerbsgesellschaft, die nicht nach ökonomischem Dirigismus funktioniert, nicht immer an den gleichen Orten entstehen, wo sie bis 1989 hingestellt worden sind. Die ostdeutschen Regionen sortieren sich nach Wettbewerbskriterien neu. Das ist eine Herausforderung für Politik und gerade für Regionalpolitik. Das kann man beschleunigen, das kann man auch kompensierend ausgleichen. Aber verhindern kann man es nicht. Und die Vorstellung, man könnte - ich überzeichne dies jetzt - die frühere DDR an ein Leistungsvolumen der alten Bundesländer angleichen, aber in der ökonomischen Regionalstruktur von 1989, ist eine Illusion.

Auch in den alten Bundesländern bestehen nicht überall 100 % westdeutsche Lebensverhältnisse. Wir reden sehr intensiv über die Angleichung der Lebensverhältnisse und beklagen, dass wir bei der Produktivität erst 60 bis 65 % erreicht haben. Wir zweifeln deshalb manchmal an der eigenen Leistungsfähigkeit. Ich mache jedoch darauf aufmerksam, dass der Rheinland-Pfälzer bezogen auf die Hessen im Durchschnitt nur 70 % des Bruttoinlandsproduktes produziert, ohne dass er sich deshalb als Mensch zweiter Klasse fühlt. Übrigens betrifft dies auch das Einkommen, das dem Verhältnis zur Produktivität entspricht. Das sind Themen, die bei uns noch nicht ausdiskutiert sind. Wir müssen die Debatte führen, wenn wir ehrlichen Herzens den Menschen gegenüber treten wollen, und sagen: Hier ist eine Aufgabe, die 10 bis 15 Jahre in die Zukunft reicht. Wir wollen sie schultern. Wir wollen von den westlichen Ländern die Hilfe und Solidarität für die Realisierung dieses Weges. Wir müssen auf der anderen Seite bereit sein, uns diesen Weg selbst zu erarbeiten und dabei auch auf manche Bequemlichkeit verzichten.

Nur noch dieses eine: Wir werden keine volle wirtschaftliche Integration in Europa und auf den Weltmärkten erreichen, wenn wir nicht die mentale Abschottung unter den Ostdeutschen überwinden. Diese hat ihren Ursprung in 40 Jahren DDR mit einer eingemauerten Situation, in der es nicht Geschäftsgrundlage war, mit ausländischen Mitbürgern in einer nachbarschaftlichen Beziehung zu leben. Internationalität und Weltoffenheit sind jedoch Zukunftsfaktoren für die ostdeutschen Regionen.

Wir haben mit der Erweiterung der Europäischen Union hier Lasten zu schultern. In einer Region wie dieser hier, wird das sicher auch sehr intensiv diskutiert. Die Politik muss und wird entsprechende Hilfen und Unterstützungen leisten. Ich habe dazu das Beispiel Investitionszulage schon erläutert. Das gilt auch z. B. für Übergangsfristen bei der Arbeitnehmerfreizügigkeit. Auch die EU wird mit einem zusätzlichen Programm für Grenzregionen den Infrastrukturausbau noch stärker als bisher vorgesehen voranbringen.

Mir geht es aber darum, dass wir die Entwicklung auch als Chance begreifen und die Menschen auf diesem Weg mitnehmen müssen. Die neuen Länder sind dann nicht mehr länger eine ökonomische Randregion, sondern werden Mittelpunkt eines ökonomisch hoch spannenden Prozesses. Das zu begreifen ist wichtig.

Übrigens: Die ostdeutschen Unternehmen haben in den letzten 10 Jahren das Kunststück fertig gebracht, ihre Absatzorientierung erfolgreich auf die Märkte der westlichen Industrieländer umzustellen; völlig konträr zu ihrer früheren Orientierung. Ostdeutsche Unternehmen haben sich dabei hervorragend entwickelt. Der 30 % ige Zuwachs beim Exportumsatz des verarbeitenden Gewerbes im letzten Jahr ist eine enorme Leistung. Wir können das also! Wenn wir diese Fähigkeiten auch zukünftig mit der gleichen Intensität einsetzen, können wir die Herausforderungen meistern.

Politik muss und wird das flankieren. Wir haben deshalb allen Grund, angesichts der Dimensionen des Aufbauprozesses, auch über die Tiefe und Schwere der Probleme zu reden und die notwendige Hilfe einzufordern. Aber wir haben auch allen Grund stolz zu sein auf das, was wir in den letzten 10 Jahren geleistet haben, allen Grund, aus unserer Leistungsfähigkeit heraus mit Zuversicht in die Zukunft zu schauen und die Ärmel aufzukrempeln. Herzlichen Dank!