Redner(in): Gerhard Schröder
Datum: 21.03.2001

Untertitel: Die neue Gewerkschaft ver.di steht in einer alten, in einer großen Tradition. Dieses Land, seine demokratische Struktur ist durch die Arbeit der deutschen Gewerkschaften geprägt.
Anrede: Lieber Frank, liebe Kolleginnen und Kollegen,
Quelle (evtl. nicht mehr verfügbar): http://archiv.bundesregierung.de/bpaexport/rede/29/34329/multi.htm


die neue Gewerkschaft Verdi steht in einer alten großen Tradition. Dieses Land und seine demokratische Struktur sind durch die Arbeit der deutschen Gewerkschaften geprägt. Unter den Nazis erniedrigt und mörderisch verfolgt, sind es nicht zuletzt die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer und mit ihnen die deutschen Gewerkschaften gewesen, die Aufbau und Entwicklung unseres Landes zu einem blühenden Gemeinwesen bewerkstelligt haben, und - lasst mich das so sagen - mit ihnen in kritischer Solidarität die deutsche Sozialdemokratie, jene Partei, die in ihrer mehr als hundertjährigen Geschichte nie Krieg und Verderben über unser Land gebracht hat.

Beide, Gewerkschaften und SPD, brauchen keine Belehrungen in Sachen recht verstandenen Stolzes auf unser eigenes Land. Beide haben Leistungsbereitschaft und Gemeinsinn, aus denen Patriotismus erwächst, immer wieder unter Beweis gestellt. Das macht uns selbstbewusst, liebe Freundinnen und Freunde, und es ist dieses Selbstbewusstsein, das uns sagen lässt: Wir werden nicht zulassen, dass Stolz auf das eigene Land zu einer Floskel wird, die sich Rechtsradikale auf die Glatze schreiben, um sich als Sachwalter nationaler Interessen aufzuspielen!

Wir werden es nicht zulassen, dass Union und FDP wieder einmal den Eindruck zu erwecken suchen, ein Monopol auf patriotische Gesinnung zu haben. Deren durchsichtigen Wahlkampfmanövern gegenüber sagen wir: Dieses Land wäre ohne die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer und ihre Gewerkschaften, wäre ohne die deutsche Arbeiterbewegung eine andere Republik!

Das verhindert und die politisch-demokratische Kultur entscheidend mitgeprägt zu haben, macht unser Selbstbewusstsein aus und macht uns stolz auf unsere Arbeit und das von uns mitgeprägte Land.

Ich sagte, liebe Kolleginnen und Kollegen, Verdi steht in einer großen demokratischen und sozialen Tradition. Das macht uns sicher, dass wir es sind, die als Deutsche und Europäer auch in Zukunft vor allem anderen patriotische Gesinnung mit den Anforderungen eines neuen Internationalismus zusammenbringen werden, ganz so, wie Bertolt Brecht in seiner Kinderhymne sagt: "Und weil wir dieses Land verbessern, lieben und beschirmen wir's. Und das Liebste mag's uns scheinen, so wie andern Völkern ihrs."

Verehrte Kolleginnen und Kollegen, wir haben immer gesagt, Modernisierung und soziale Gerechtigkeit sind zwei Seiten einer Medaille. Denn die Stärke unserer Gesellschaft und auch die Stärke unserer Volkswirtschaft werden in Zukunft mehr noch als in der Vergangenheit von der Teilhabe der Menschen, von der Beteiligung der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer abhängen. Dazu, liebe Kolleginnen und Kollegen, braucht es modern strukturierte Gewerkschaften, die sowohl inhaltlich als auch organisatorisch den Aufgaben der Gegenwart und vor allem den Aufgaben der Zukunft gewachsen sind. Eure Antwort, die Ihr Euch auf diese Herausforderungen gegeben habt, heißt die neue Gewerkschaft Verdi.

Es wird in diesen Tagen oft geschrieben und berichtet, dass hier die größte Einzelgewerkschaft der Welt entsteht. Gewiss ist das richtig. Die einen, die Gewerkschaften ohnehin für eine Art Dinosaurier der Industriegesellschaft halten, halten eine solche Supergewerkschaft für einen Anachronismus. Andere mögen stolz auf diesen Rekord sein, weil sie bereits in schierer Größe den Beweis für Stärke und Kraft sehen. Ich denke - und da bin ich einig mit dem neu gewählten Vorsitzenden - , beides zielt an der Sache vorbei. Größe allein sagt nichts über Schlagkraft und Funktionalität aus. Nein, die historische Bedeutung dessen, was in dieser Woche geschieht, liegt nicht in der Größe von Verdi. Für mich sind es zwei Dinge, die diese Bedeutung ausmachen.

Zum einen wird die alte Spaltung zwischen Angestellten- und Arbeiterorganisationen überwunden. Dieser Schritt ist vor allem eine Antwort auf die Entwicklung der Beschäftigungsverhältnisse, die strukturellen Veränderungen in den Betrieben, in den Verwaltungen und natürlich auch in der Gesellschaft. Nicht nur in euren Branchen überwiegt die Zahl der Angestellten. Die Trennung zwischen Arbeitern und Angestellten ist in der modernen, der wissensbasierten Informationsgesellschaft hinfälliger denn je. Deshalb ist die gemeinsame Interessenvertretung das Gebot der Stunde, ein Gebot, das ihr realisiert habt.

Der zweite Aspekt, der die eigentliche Bedeutung des heutigen Ereignisses ausmacht, betrifft die Anpassungs- und Gestaltungsfähigkeit der Gewerkschaften selbst und damit die Rolle, die Gewerkschaften in unserer Zeit der tiefgreifenden Veränderungen und in der Zeit des dramatischen Wandels spielen können und wollen und nach meiner Auffassung auch spielen sollen.

Schon heute wird der größte Teil des Inlandsprodukts in den verschiedenen Dienstleistungsbereichen erwirtschaftet. Hier sind die meisten Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer beschäftigt, hier liegt das größte Wachstumspotenzial für unsere Wirtschaft. Ein paar Zahlen, die man immer wieder nennen muss, belegen das eindrucksvoll. Der Anteil der Dienstleistungen an der Wertschöpfung in unserem Land betrug vor 20 Jahren noch gut die Hälfte des Bruttoinlandsproduktes. Heute sind es schon deutlich mehr als zwei Drittel. Mehr als 60 Prozent aller Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, nämlich 23 Millionen Menschen, sind in den Dienstleistungsbereichen beschäftigt. Damit verändern sich nicht nur der Charakter und die Zusammensetzung des Bruttoinlandsproduktes, nein, es verändert sich der Charakter unserer Gesellschaft.

An gewerkschaftliche Solidarität, an gewerkschaftliches Engagement werden in einer Wissens- und Dienstleistungsgesellschaft andere Anforderungen gestellt. Das sollten auch diejenigen wissen, die der Arbeiterbewegung ferner stehen: Mit der Gründung von Verdi wird diesen Veränderungen in unserer Gesellschaft auf eine angemessene und moderne Weise Rechnung getragen. Ich füge hinzu, dass wir um die Kraft und Bedeutung dieser Gewerkschaft wissen. Wir werden als Bundesregierung gewiss nicht jede einzelne ihrer Forderungen erfüllen können, aber wir wollen ein Verhältnis der gelegentlich kritischen, aber allemal solidarischen Partnerschaft zu der neuen Gewerkschaft entwickeln.

Mit dem Zusammenschluss von ÖTV, DAG, IG Medien, HBV und Postgewerkschaft werdet ihr den Beweis antreten, dass Gewerkschaften keine Dinosaurier sind, sondern fähig zur Reform, zur Erneuerung und damit unverzichtbarer, außerordentlich wichtiger Partner für die Erneuerung und die Reform unserer Gesellschaft.

Verehrte Kolleginnen und Kollegen, die Hälfte aller Mitglieder dieser Gewerkschaft sind Frauen. Die ÖTV war es auch, die vor jetzt knapp 20 Jahren erstmals eine Frau an die Spitze einer DGB-Gewerkschaft gewählt hat. Ihr habt also eine lange, eine gute Tradition bei der Frauenförderung inne. Das sieht man auch hier, denn rund die Hälfte der Anwesenden sind Frauen. Eines ist klar - das will ich aber nicht nur deswegen unterstreichen: Deutschland wird nur dann zukunftsfähig sein können, wenn alle kreativen und innovativen Potenziale unserer Gesellschaft genutzt werden. Das heißt, wir müssen die Gleichstellung von Frauen voranbringen.

Frauenförderung ist für mich nicht nur eine Frage der Gerechtigkeit in der Gesellschaft, nicht nur eine Frage der Gleichheit der Menschen, unabhängig vom Geschlecht. Frauenförderung ist auch ein Gebot schlichter ökonomischer Vernunft. Darum haben wir gerade in diesem Bereich vieles auf den Weg gebracht. Wir wollen Gleichheit von Männern und Frauen in der Gesellschaft und im Arbeitsleben erreichen. Wir wollen weiter daran arbeiten, denn wir haben den Weg erst beschritten, den wir zu Ende gehen wollen und müssen.

Antrieb für die Gründung von Verdi war die Einsicht, dass die Zukunft eurer Gewerkschaften vor allen Dingen im Dienstleistungsbereich liegt. Auch in der Dienstleistungsgesellschaft oder dem, was man New Economy nennt, haben zentrale Ziele der gewerkschaftlichen Interessenvertretung nichts, aber auch gar nichts von ihrer Aktualität verloren. Meine Auffassung ist, dass nach einer Phase der Euphorie auch in diesem so wichtigen, weil auch in Zukunft wachsenden wirtschaftlichen Bereich die Erkenntnis wächst, dass Teilhabe der Beschäftigten nicht etwas ist, was Wachstum hindert, sondern was die Prosperität auch und gerade in diesem Bereich fördert. Individualisierung ja, aber Individualisierung kann ihre Möglichkeiten nur erreichen, wenn sie eingebunden bleibt in ein festes Konzept der Solidarität in der Gesellschaft, der Beachtung des Gemeinwohls. Mitsprache am Arbeitsplatz, bei der Arbeitszeit und bei den Arbeitsabläufen, Mitgestaltung im Unternehmen und bei der Entwicklung neuer Produkte, das sind gerade in den Dienstleistungsbranchen elementare Voraussetzungen für den Erfolg der Unternehmen und damit auch für den Erfolg der gesamten Volkswirtschaft.

Wenn es richtig ist - und es ist richtig - , dass die Unternehmen im weltweiten Wettbewerb in Zukunft am erfolgreichsten sein werden, die die Fantasie, die Fähigkeiten, die Kreativität ihrer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter am besten nutzen können, dann stimmt auch, dass das von den Beschäftigten, den Menschen in den Betrieben nur dann im vollen Umfang zur Verfügung gestellt wird, wenn Teilhabe am Haben und am Sagen, an den Werten, die die Menschen schaffen, aber auch an den Entscheidungen in der Gesellschaft das konstitutive Element einer demokratischen Gesellschaft bleibt und immer mehr wird.

Das ist der Hintergrund, vor dem wir die Auseinandersetzung mit jenen, die Zugang zu dieser Erkenntnis nicht oder noch nicht haben, über ein neues Betriebsverfassungsrecht führen. Keine einfache Auseinandersetzung, denn es ist so und soll nicht so bleiben, dass in nur 30 Prozent der Betriebe in unserem Land Betriebsräte ihre gute, ihre gerade in Krisenzeiten sichtbar gute Arbeit machen. Im Rest indessen nicht.

Hier liegt der Grund, warum wir durch ein demokratischeres Wahlverfahren dafür werben, dass auch diejenigen, die dem Gedanken der Mitbestimmung - aus welchen Gründen auch immer - ferner stehen, endlich begreifen, dass im Wettbewerb der Volkswirtschaften diejenige gewinnt, die durch Teilhabe am Haben und Sagen die Menschen, von denen jede Volkswirtschaft lebt, am besten motiviert. Das ist sichtbar, wenn ich mir die Entwicklung in Japan und anderswo ansehe.

Weil wir dieser Auffassung sind, stärken wir die Arbeit der Betriebsräte, verbessern ihre Kommunikationsmöglichkeiten, stärken die Beteiligungsrechte in Fragen der Beschäftigungssicherung, der Qualifizierung und beim Umweltschutz im Betrieb. All diejenigen, die in Gegnerschaft verharren - teilweise nicht mehr als ideologisch motiviert - , fordere ich auf, die Chancen eines modernen Betriebsverfassungsrechtes zu Gunsten ihrer Betriebe und der Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit zu erkennen, auch zu Gunsten der Motivierung der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in den Unternehmen.

Verehrte Kolleginnen und Kollegen, ich habe nicht ohne Grund von Frauenförderung gesprochen. Mit der Reform der Betriebsverfassung werden wir sicherstellen, dass Frauen gemäß ihrem Anteil in den Betrieben auch in den Betriebsräten vertreten sind. Das zu realisieren, wird auch große Anforderungen an die Gewerkschaften stellen. Unser gemeinsames Ziel - und das ist auch im Interesse einer modernen Wirtschaft - ist eine moderne Betriebsverfassung, die sowohl den Interessen der Beschäftigten nach Sicherheit und Verlässlichkeit als auch dem Bedürfnis der Unternehmen nach Flexibilität in ihrer täglichen Arbeit entspricht.

Verehrte Kolleginnen und Kollegen, ob bei der Reform der Betriebsverfassung, beim Rechtsanspruch auf Teilzeitarbeit, der so einfach nicht durchzusetzen war, bei der Neuregelung befristeter Beschäftigung oder in der Steuerpolitik: Nur eine Politik, die die Arbeitnehmerrechte im Auge hat, das Gemeinwohl wahrt und ihm verpflichtet ist, nur eine Politik, die zwischen den partikularen Interessen vermittelt und ausgleicht, ist in der Lage, in der modernen Welt Innovationen und Gerechtigkeit unter radikal veränderten Bedingungen herstellen zu helfen.

Die Erfolge der Politik sind sichtbar. Das wirtschaftliche Wachstum in Deutschland ist robust. Ich sage all denjenigen, die sich hinter Zahlen verstecken: Wir haben keinen Grund, davon auszugehen, dass das, was wir in den letzten zweieinviertel Jahren geschaffen haben, abbricht. Das Wirtschaftswachstum in Europa, zumal in Deutschland, ist robust. Wir haben allen Grund, davon auszugehen, dass wir die aufgestellten Ziele erreichen und in dieser Legislaturperiode die Arbeitslosigkeit unter die Marke von dreieinhalb Millionen werden drücken können. Ich bleibe dabei: Am Abbau der Arbeitslosigkeit soll und wird meine Regierung gemessen werden, verehrte Kolleginnen und Kollegen.

Ich weiß sehr wohl: Als wir begonnen haben, war die Arbeitslosigkeit noch Anfang 1998 bei über 4,8 Millionen; in 2000 lag sie bei 3,8 Millionen. Das sind eine Million Arbeitslose weniger. Ich behaupte nicht, dass das irgendjemandem in diesem Saal reichen sollte - mir auch nicht - ; aber es ist eine Leistung, die gewürdigt zu werden verdient, und es ist ein Weg, der weiter beschritten zu werden verdient, verehrte Kolleginnen und Kollegen.

Und nicht nur das! Das, was wir geschaffen haben, ist keineswegs ausschließlich der Demografie geschuldet. Wir haben in den letzten zweieinviertel Jahren den Aufbau von rund einer Million neuer Arbeitsplätze, und zwar sozialversicherungspflichtiger Arbeitsplätze, hinbekommen. Das ist nicht allein die Leistung einer Regierung; ganz im Gegenteil: Es ist vor allen Dingen die Leistung von Millionen von Menschen, die jeden Tag in den Fabriken und in den Dienstleistungszentren ihre Pflicht tun. Auf deren Leistung - lasst mich das so sagen - bin ich wirklich stolz. Die Politik, die wir eingeschlagen haben und die - das sage ich hier trotz und entgegen aller Kritik daran - im Bündnis für Arbeit verabredet worden ist, beginnt Erfolge zu zeitigen. Deswegen muss sie unbeirrt weitergeführt werden.

Wir sind über das hinaus, was wir bei der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit haben leisten können, in einem anderen Sektor auf einem richtigen, weil notwendigen Wege. Dieser Sektor heißt Qualifizierung. Dieser Begriff, der alle Felder dieses Themas einschließt, meint zunächst, dass wir nicht nachlassen dürfen in unserer Anstrengung, Gerechtigkeit zum zentralen Maßstab unseres Bildungswesens zu machen. Wir werden weiter dafür sorgen - und das, was wir bei der Studentenförderung, für die wir zuständig sind, draufgelegt haben, beweist das - , dass die Frage, ob eine junge Frau / ein junger Mann zu Deutschlands hohen und höchsten Schulen gehen kann, eben nicht vom Geldbeutel von Papa oder Mama abhängig ist, sondern nur von dem, was er oder sie im Kopf hat.

Ich bin froh darüber, dass wir bei allem, was an Schwierigkeiten besteht, weitergekommen sind in dem Willen, Qualifizierung nicht nur zu einer Aufgabe zu machen, für die der Staat auf allen seinen Ebenen zuständig ist, sondern auch weitergekommen sind bei dem Bemühen, die Qualifizierung der Beschäftigten - derer, die neue Fähigkeiten und Fertigkeiten erwerben wollen und müssen, weil alte angesichts des dramatischen Wandels in der Industriegesellschaft entwertet worden sind - in den Mittelpunkt tarifvertraglicher Anstrengungen zu stellen. Das sage ich, weil mich das freut, in vollem Respekt natürlich vor der Tarifhoheit der Tarifparteien.

Werte Kolleginnen und Kollegen, in der halben Stunde, die mir für meine kurzen Bemerkungen eingeräumt worden ist, möchte ich auf ein Thema eingehen, das euch und das die gesamte Gesellschaft elementar betrifft: Wir haben auch und nicht zuletzt im Bündnis für Arbeit über die Osterweiterung der Europäischen Union gesprochen. Die Osterweiterung ist eine große Chance für Deutschland, aber mehr noch: eine große Chance für diesen Kontinent, der so oft Ort der Austragung blutigster Konflikte gewesen ist; blutigster Konflikte, die doch immer - und das weist die Geschichte aus - vor allen Dingen zu Lasten der abhängig Beschäftigten ausgegangen und auf deren Rücken ausgetragen worden sind.

Das Zusammenwachsen des ganzen Europas nach dem Fall des Eisernen Vorhangs bietet die einmalige Chance, dass diese Generation - unsere Generation - entschlossen und kraftvoll dieses alte, gute Europa zu einem Ort dauerhaften Friedens und Wohlergehens für seine Menschen macht. Das ist das große Ziel, dem wir uns verpflichtet fühlen. Deshalb begreifen wir die Erweiterung des integrierten Europas - denn die Länder, um die es geht, haben in ihrer Geschichte immer zu Europa gehört und seine Bewohner sich immer als Europäer gefühlt - als eine Chance für unser Land, weil es eine Chance für Frieden und Wohlstand ist.

Ich weiß natürlich um die Befürchtungen und Ängste längs der Grenzen, die wir überwinden wollen - aber nicht nur längst der Grenzen - , vor Preisdumping in den Dienstleistungsbereichen, vor allen Dingen Lohndumping, was die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer angeht. Ich habe deshalb - das beginnt sich allmählich in Europa als notwendig herumzusprechen - für die Erweiterungsverhandlungen ein Fünf-Punkte-Konzept zur Freizügigkeit vorgeschlagen.

Erstens: Eine angemessene Übergangsfrist mit einer Beschränkung der Arbeitnehmerfreizügigkeit für sieben Jahre.

Zweitens: ein flexibles Modell, das die Verkürzung der Übergangsfristen für einzelne Beitrittsländer zulässt. Hierzu sind Prüfungen und Besichtigungstermine nach fünf Jahren erforderlich.

Drittens: Auf Antrag können bei geeigneten Kandidaten, wenn die Voraussetzungen dafür vorliegen, bereits vorher Aufhebungen der Beschränkungen erfolgen.

Viertens: Bei allgemeinem und nicht durch Qualifizierung aufhebbaren Arbeitskräftemangel in den bisherigen Mitgliedsstaaten können wir gemäß nationalem Recht bereits während der Übergangszeit Zugangsmöglichkeiten schaffen.

Fünftens: Parallel brauchen wir für die Dauer der Übergangsfrist eine Einschränkung der Dienstleistungsfreiheit in Teilbereichen, etwa in der Bauwirtschaft oder auch im Handwerk.

Verehrte Kolleginnen und Kollegen, sowohl der Chef des Bundeskanzleramtes als auch ich selbst haben im Bündnis für Arbeit wiederholt mit Frank Bsirske über die EU-Osterweiterung und die Forderungen aus Euren Reihen gesprochen. Diese Diskussionen werden fortgesetzt. Wir alle wissen, dass die Osterweiterung viele Chancen auch für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer bringen wird. Darüber besteht im Bündnis Einigkeit. Aber - ich sagte es - es gibt auch Probleme. Viele Menschen befürchten Lohndumping und die Missachtung tariflicher Standards - eine Situation, wie sie heute bereits in großen Teilen der Bauwirtschaft bedauerliche Realität ist. Deshalb habe ich in der vergangenen Woche beim Spitzengespräch der deutschen Wirtschaft gesagt, dass wir den Grundsatz der Tariftreue genauer in den Blick nehmen müssen.

Auch mir ist klar, dass die Probleme schon jetzt nicht auf die Bauwirtschaft beschränkt sind und sie sich mit der Osterweiterung verschärfen könnten, und zwar dort, wo Leistungen und Dienstleistungen für die öffentliche Hand erbracht werden. Wir müssen und wir werden unsere Vergabepraxis und ihre rechtlichen Vorgaben überprüfen. Die Gespräche dazu mit den Ländern sind aufgenommen. Wir wollen sie zu einem vernünftigen und zügigen Abschluss bringen.

Verehrte Kolleginnen und Kollegen, wenn ich von Talenten spreche, die wir fördern müssen, dann ist es für uns selbstverständlich, vor allem die Startchancen derjenigen zu fördern, um die es uns besonders geht. Das sind die jungen Leute, die ein Recht darauf haben, Einkommen und Auskommen durch eigene Arbeit zu erwerben. Um das zu können, brauchen wir eine hinreichende Zahl an Ausbildungsplätzen. Wir haben auch durch die Verabredungen im Bündnis dafür sorgen können, dass die Zahl der angebotenen Ausbildungsplätze - leider nur im Westen unseres Landes - erstmals wieder die Zahl der Nachfrage übersteigt. Wir wissen um unsere Verantwortung, dass wir im Osten des Landes eine Situation schaffen müssen, um auch dort ein ausgeglichenes Verhältnis zwischen den angebotenen Ausbildungsplätzen und der Nachfrage danach zu schaffen.

Hier liegt der Grund dafür, dass wir nicht nur darum wissen, sondern auch entsprechend handeln werden, damit überall dort, wo betriebliche Ausbildungsplätze auch wegen des Fehlens der Betriebe - keineswegs nur wegen Ausbildungsunwilligkeit - nicht hinreichend zur Verfügung gestellt worden sind und zur Verfügung gestellt werden können, der Staat - zum Beispiel mit dem Zwei-Milliarden-Programm, das wir jährlich auflegen - dafür zu sorgen hat, dass diese jungen Menschen eine Chance erhalten. Dies ist - lasst mich das zum Schluss dessen ausdrücken, was ich sagen wollte - nicht nur eine Pflicht den einzelnen jungen Menschen gegenüber, sondern dies ist, richtig verstanden, auch eine Pflicht einer demokratischen Gesellschaft gegenüber.

Es kann kein Zweifel bestehen - das gehört zu den unangenehmen und unschönen Ereignissen in unserem Land - , dass wir einen inzwischen offen auftretenden, ja gewaltbereiten Rechtsradikalismus haben. Ich bin weit davon entfernt, dies als ein Kennzeichen Deutschlands anzusehen oder ansehen zu lassen. Aber ernst nehmen müssen wir diese Entwicklung. Ihr kann nur begegnet werden, wenn wir entschieden drei Elemente einer politischen Strategie verfolgen.

Erstens: Gegenüber rechter Gewalt dürfen Polizei und Justiz keinen Pardon kennen. Übrigens gibt es viele, die sagen, das seien wir unserem internationalen Ansehen schuldig. Das auch, aber mehr noch sind wir unserer Selbstachtung schuldig, dafür zu sorgen, dass der rechte Sumpf in diesem Land nie wieder eine Chance hat. Das ist die zentrale Frage, um die es dabei geht.

Zweitens: Hier knüpfe ich an das an, was ich vorher gesagt habe. Denen, die den Braunen aus Dummheit, aus Unkenntnis, aus Mangel an Perspektiven hinterherlaufen, müssen wir durch Aufklärung, aber auch durch soziale Chancen eine Perspektive zum Einstieg in die Gesellschaft bieten, damit sie nicht auf Dauer aus der Gesellschaft aussteigen.

Drittens - das können Politik, Justiz und Polizei nicht allein - brauchen wir zur Bekämpfung des Rechtsradikalismus das, was ich den Aufstand der Anständigen genannt habe, also das Engagement der Zivilgesellschaft. Ich und alle, die gutwillig sind, bauen darauf, dass Kern dieses Engagements - ich sage dies erneut - für die Verteidigung der Demokratie gegen den braunen Sumpf wieder einmal die Gewerkschaften sind und sein werden.

Ich hatte eingangs gesagt: Die Bundesregierung hat ein großes Interesse an einer fairen Partnerschaft. Sie erwartet keine Kritiklosigkeit und sie erwartet nicht pauschale Zustimmung zu allem, was sie macht. Wir wünschen uns aber von dieser größten Gewerkschaft im Deutschen Gewerkschaftsbund ein Verhältnis kritischer Solidarität. Ein solches Verhältnis würde die Chancen, die wir gemeinsam nutzen wollen, mehren und die Schwierigkeiten, die vor uns sind, überwinden helfen.

Vor diesem Hintergrund und auf dieser Basis wünsche ich von Herzen einem Gewerkschaftsvorstand, der eine gewaltige Integrationsaufgabe vor sich hat, wirklich allen Erfolg. - Fast hätte ich, liebe Kolleginnen und Kollegen, gesagt: allen Erfolg, basta!