Redner(in): Julian Nida-Rümelin
Datum: 22.03.2001

Untertitel: Eröffnungsvortrag von Staatsminister Nida-Rümelin zum Thema: "Sprache und Neugier - Anmerkungen zur interkulturellen Verständigung" am 22. März 2001 im Residenzschloss Weimar anlässlich der Verleihung der Goethe-Medaille
Anrede: Anrede,
Quelle (evtl. nicht mehr verfügbar): http://archiv.bundesregierung.de/bpaexport/rede/13/36313/multi.htm


zu den diesjährigen Preisträgern zählen ein libanesischer Dichter, eine russische Komponistin, ein deutscher Kunsthistoriker und der Präsident eines ungewöhnlichen philosophischen Instituts. Daher läge es nahe, in dieser Rede zu versuchen, diese unterschiedlichen Sparten der Kunst und der Wissenschaft mit zu besprechen oder mit zu behandeln. Ich werde dieser Versuchung - auch vor dem Hintergrund der Debatte, die wir gegenwärtig in Deutschland haben - widerstehen. Es ist überhaupt interessant, welche Diskussionen für die politische Öffentlichkeit derzeit wichtig zu sein scheinen. Etwas ironisch und von außen betrachtet, könnte man meinen, einem Land muss es sehr gut gehen, wenn die zentralen politischen Kontroversen darin bestehen, ob man sagen darf, oder sagen soll: "Ich bin stolz, ein Deutscher zu sein". Ich will das hier nicht kommentieren, sondern eine sehr viel interessantere, aber damit nicht völlig unzusammenhängende Frage behandeln, nämlich die Rolle der Sprache für interkulturelle Verständigung.

Die heutige Veranstaltung ist ein erfreulicher Anlass, um über Grenzüberschreitungen der Kunst, über geistige Freiheit und interkulturelle Neugier nachzudenken. Und das ist in einer Welt, die gegenwärtig zwischen dem Bemühen um eine vertiefte Verständigung - auch in dem Bemühen um eine gemeinsame Basis der sprachlichen Verständigung - und dem angedrohten "Clash of civilisations" hin und her schwankt. Einer Welt, in der die Öffnung zu einer gemeinsamen kulturellen Verfasstheit und der erschreckte Rückzug auf das Eigene oder oft nur vermeintlich Eigene miteinander in Konflikt stehen. Wir sehen uns am Beginn des 21. Jahrhunderts mit Fragen nach kultureller Identität konfrontiert, deren Beantwortung mir für die Zukunft einer zivilen, globalen Gesellschaft die zentrale Frage zu sein scheint. Auf der Suche nach einer Antwort müssen wir auch all diejenigen beteiligen, die sich orientierungslos fühlen, die sich in dieser neuen, sich globalisierenden Welt nicht zurechtfinden, und die deswegen durch Ausgrenzung anderer Kulturen, die Ausgrenzung anderer Religionen, die Ausgrenzung anderer Ethnien versuchen, ihr eigenes Selbstwertgefühl zu stabilisieren. Das mündet häufig genug, ein kurzer Blick auf die internationalen Konflikte zeigt das, in Krieg und Mord.

Entwickeln wir uns zu einer Menschheit, deren Kulturenvielfalt aus schierer Nützlichkeit - da spielen ja auch ökonomische Interessen international operierender Unternehmen eine wichtige Rolle - zu einem, polemisch formuliert,"postmodernen Patchwork" verarmen wird? Oder wird es uns gelingen, den kulturellen Reichtum in seiner Vielfalt zu erhalten und durch die Bereitschaft zu wechselseitiger Verständigung zu beleben? Wir brauchen dafür einen freien Blick auf die jeweils anderen Kulturen und eben jener Fähigkeit, die den hier Auszuzeichnenden in hohem Maße eigen ist. Nämlich der Fähigkeit, neugierig und mit Respekt über die Grenzen der eigenen Gewissheit hinauszusehen und Weltkultur als den Zusammenhang individueller Leistungen zu begreifen, indem sowohl zeitliche als auch örtliche Nähe und Ferne sich in einem unaufhörlichen Wechselspiel verändern. Nie war die Ferne so leicht in die Nähe zu rücken wie heute. Die Möglichkeiten, im Fremden den Spiegel des Eigenen zu sehen, haben wir durch globale Kommunikation und wachsende Reiselust erstaunlich erweitert.

Fraglich ist nur, ob wir auch geistig den Techniken gewachsen sind, die unserer Neugier fast unbeschränkten Spielraum eröffnen. Ob wir uns beispielsweise nicht all zu leicht täuschen lassen durch den Anschein der Verfügbarkeit der ganzen Welt im Internet oder ob wir unserer eigentlichen sinnlichen Erfahrungsinstrumente bewusst bleiben. Das heisst, ob wir uns unmittelbar dem Reichtum der Fremde aussetzen und die Ängste vor Distanzverlust beherrschen, die mit dem informativen Zusammenwachsen der Kulturen immer auch zugleich entstehen. Es ist ja auffällig, dass gerade in dieser wirtschaftlich, aber auch in der Mobilität der Menschen zusammenwachsenden Welt - an verschiedenen Orten und nicht nur dort, wo man vielleicht eine angebliche "kulturelle Rückständigkeit" unterstellt - plötzliche Rückfälle in die Barbarei zu beobachten sind. Eine Barbarei, die sich häufig genug religiös tarnt oder als Recht auf ethnische Identität camoufliert. Menschenverachtung und Bildersturm sind aus meiner Sicht zwei Seiten der selben Medaille. Die Angst, in einer sich verdichtenden Welt zugrunde nivelliert zu werden, schlägt allzu häufig in mörderischen Hass um. Das ist die eine Seite. Die andere, optimistisch stimmende, sind transnational wandernde Ausstellungen und eine weltübergreifende Konzertkultur auf hohem Niveau. Wir verzeichnen einen stetiger Anstieg literarischer Übersetzungen, immer noch erstaunliche Einschaltquoten für Kulturdokumentationen des Fernsehens - auch wenn die Zeiten, in denen diese gesendet werden, nicht immer menschenfreundlich sind - , überfüllte Museen und ansteigende Besucherzahlen fast aller Kulturinstitute in Deutschland. Städte des Weltkulturerbes werden von Touristen überlaufen. All das sind Signale, die nicht durchgängig immer nur positive Seiten haben, die aber doch zeigen, dass es eine Neugier auf das kulturell Andere gibt und dass diese Neugierde wächst.

Vorerst, scheint mir, können wir skeptisch hoffen. Eigene Kulturerfahrung gibt uns die Chance, fremde Fantasien zu achten und zu schätzen. Weltweit wächst das Interesse am Erlernen von Sprachen. Ich hoffe, dass wir auf dem europäischen Kontinent zu einem kulturellen Mindeststandard kommen, der das Erlernen der eigenen Sprache gegenüber der Entwicklung der vergangenen Jahre aufwertet. Als Hochschullehrer fand ich es gelegentlich schon merkwürdig, dass Studierende in den ersten Semestern zunächst mühsam die Grundregeln der deutschen Grammatik lernen müssen, damit die Hausarbeiten lesbar sind. Da ist eine Fehlentwicklung im Gang, und ich wiederhole deshalb noch einmal meinen Vorschlag, dass man von der Wahlfreiheit an den Schulen in einer Hinsicht abrückt und Deutsch als verpflichtendes Abiturfach etabliert. Ich weiß - das schränkt die Wahlmöglichkeiten der Studierenden ein. Aber ohne Deutsch kommt man nicht durch im Leben. Es gibt eine Tradition, die in der Antike bedeutsam war, die wir allzu sehr vernachlässigen - sowohl an den schulischen Einrichtungen, als auch an den Universitäten - und die dem mündlichen, nicht nur dem schriftlichen Ausdruck einen hohen Stellenwert beimisst. Das ganze Berufsleben, vielleicht nicht jede berufliche Tätigkeit, aber ein Gutteil der beruflichen Tätigkeiten, hängt davon ab, dass man seine Gedanken halbwegs verständlich, halbwegs gegliedert in freiem, mündlichen Vortrag vermitteln kann. Üben wir das an den Schulen hinreichend? Üben wir das an den Universitäten? Mir scheint: Nein. Und da hilft auch der einzige Rhetoriklehrstuhl, den es in Deutschland gibt, nicht viel weiter.

Es geht mir also um die Beherrschung der deutschen Sprache in schriftlicher und mündlicher Form. Ein zweiter Aspekt ist: Die sich globalisierende Welt bedarf eines universalen Kommunikationsmittels, eines Verständigungsmittels. Nicht unbedingt auf höchstem Niveau, aber auf einem gewissen minimalen Niveau, auch unter funktionalen Gesichtspunkten. Das war früher das Lateinische und das ist heute das Englische. Wir versündigen uns an den Zukunftschancen nachwachsender Generationen, wenn wir ihnen weismachen wollten, es geht ohne Englisch. Es geht nicht ohne Englisch. Das müssen sie lernen.

Es gibt aber auch noch einen dritten Gesichtspunkt: Ich habe vom Englischen als einem Verständigungsmittel gesprochen, das einfach für die internationale Kommunikation notwendig ist. Aber Sprache ist auch der Schlüssel für den Zugang zu einer Kultur. Europa war immer multikulturell. Jeder Versuch einer Sprache, einer Kultur, in Europa zu dominieren, ist gescheitert. Den letzten und grausigsten Versuch hat Nazideutschland unternommen - mit verheerenden Folgen. Dazu gehört auch ein intellektueller und kultureller Verlust, der in ganz Europa bis heute nicht wieder aufgeholt wurde. Dieses Europa ist multisprachlich. Und wir müssen wieder Zugänge schaffen zu unseren Nachbarkulturen, da Europa durch den Wegfall der Systemgrenze zwischen Ost und West neue Konturen gewinnt, sich die alten historischen Räume öffnen und traditionelle kulturelle Zusammenhänge wieder erlebbar werden.

Nun sind die Sprachen, die hier in Europa gesprochen werden, viel zu zahlreich, als dass man erwarten könnte, sich jeder anderen Kultur in der jeweiligen Heimatsprache nähern zu können. Aber wir brauchen zumindest die Sensibilität für die Nachbarkulturen. Wir brauchen ein Netzwerk der kulturellen Verständigung über das Eintauchen in die jeweilige gesprochene, gelebte Sprache in der kulturellen Lebenswelt, in der sie zu Hause ist. Und deswegen hoffe ich, dass die heranwachsenden zukünftigen Generationen es für eine Selbstverständlichkeit nehmen, möglichst noch vor ihrem 12. Geburtstag - denn bis zu diesem Alter ist das Gehirn formbarer und es lässt sich noch akzentfrei eine Sprache lernen - in einer anderen Kultur diese Sprache, die jeweilige Lebensform, die Mentalitäten gewissermaßen spielerisch kennen zu lernen, sich anzueignen und damit auch eine gewisse Distanz und in Folge dieser Distanz möglicherweise auch eine besondere Wertschätzung für die eigene Kultur und für die eigene Sprache zu entwickeln.

Ich plädiere also für einen Mindeststandard, der so ausschauen sollte:

1. Deutsch in schriftlichem und mündlichem Ausdruck auf hohem Niveau.

2. Englisch als Mindeststandard der internationalen Verständigung, und

3. eine Nachbarsprache in Europa.

Ich rede von einem Mindeststandard, man kann sich natürlich sehr viel mehr wünschen. In dem dritten Punkt habe ich von der Sprache als Zugang zu einer Kultur gesprochen. Dazu würde ich gern einen kurzen philosophischen Exkurs einfügen.

Die Sprache ist über Jahrhunderte hinweg primär verstanden worden zum einen als Mittel der Repräsentation der äußeren Welt - wir sprechen über Sachverhalte und Dinge, und dazu benötigen wir sprachliche Mittel, wir teilen mit, wir informieren. Sprache repräsentiert aber zum anderen auch mentale Zustände. Wir haben Gedanken, und in einer sprachlichen Gestalt bringen wir diese Gedanken zum Ausdruck, teilen sie anderen mit. Beides hängt natürlich zusammen. Es ist ein merkwürdiges Phänomen der Geistesgeschichte, der Philosophiegeschichte speziell, dass der Handlungscharakter der Sprache eine relativ späte Entdeckung ist. Das datiert erst in das erste Drittel des 20. Jahrhunderts. Ich gebe zu, es gibt Vorläufer, aber als ein Programm des Verständnisses, was Sprache eigentlich ausmacht, beginnt das erst insbesondere mit Ludwig Wittgenstein, Gilbert Ryle und John Langshaw Austin. Oder mit dem von mir besonders geschätzten Grice, der eine Art intentionalistische Semantik entwickelt hat, die ein sehr interessantes Modell darstellt, was Sprache eigentlich ausmacht.

Nach diesem Verständnis von Sprache beruht das Spracherlernen ganz wesentlich darauf, dass mit sprachlichen Mitteln Absichten ( und mit Absichten sind Handlungsweisen und Einzelhandlungen verbunden ) ausgetauscht werden. Die intentionalistische Semantik geht sogar so weit zu sagen, dass das Austauschen von Absichten primär ist und die Entwicklung der Sprache sekundär. Wenn es also nicht möglich wäre, außersprachlich Intentionen einer anderen Person zu erfassen, wäre der ganze Prozess des Spracherwerbs nicht nachzuvollziehen. Das will ich hier offen lassen. Wichtig ist nur folgendes: Die gesprochene Sprache ist, um Wittgenstein zu zitieren, eine Lebensform. Vielleicht sollte man das ist streichen, aber es ist noch charakteristischer, wenn man das ist einfach so lässt, als Identitätsbehauptung. Die Sprache bringt jedenfalls eine Lebensform zum Ausdruck. Sie ist eingebettet in eine Lebensform. Diese Lebensform ist im umfassenden Sinne zu verstehen nicht als individuelle Lebensform, sondern als die Lebensform einer Sprachgemeinschaft. Und die Bedeutung der einzelnen sprachlichen Ausdrücke ist in dieser Sprache selbst mit sprachlichen Mitteln nur unvollständig zu charakterisieren, sonst wäre die jeweilige Sprache unendlich redundant. Wir könnten ja dann einzelne sprachliche Ausdrücke jeweils ersetzen durch andere sprachliche Ausdrücke. Die Forderung akribischer Lehrer - nach dem Motte: "Definier doch mal, was du unter Gesellschaft verstehst..." - hat schon ihre systematischen Grenzen. Denn wenn es immer so einfach wäre, Definitionen anzugeben, dann würden wir eine sehr redundante Sprache sprechen.

Das heißt, die Bedeutung der sprachlichen Ausdrücke ergibt sich aus dem Gebrauch, um noch einmal Wittgenstein zu zitieren, sie ergibt sich daraus, was wir damit tun, welche Handlungen wir vollziehen, und zu den Handlungen kann auch eine Mitteilung gehören, auch das ist eine Form von Handlung. Dadurch erhellt sich der Satz: "Die Sprache ist das Tor zur jeweiligen Kultur". Und es wird verständlich, dass aus einer Sprache in die andere nicht ohne Verlust übersetzt werden kann, weil die Lebensformen nicht identisch sind und damit die Bedeutungen, die durch den Gebrauch im jeweiligen kulturellen Kontext bestimmt sind, sich nicht einfach eins zu eins übertragen lassen. Verwandtere Kulturen tun sich damit leichter, als Kulturen, die weiter auseinander liegen.

Deshalb mein Appell, den Zugang zu einer anderen Kultur über die Sprache und eingebettet in die kulturelle Lebensform zu erschließen. Also wenigstens in einem, möglichst in zwei oder mehr Fällen einen genuinen Zugang zu finden, der nicht über die Mediation der Übersetzung vermittelt werden muss.

In dem Zusammenhang noch einen pragmatischen Vorschlag. Ich habe keine genaue Statistik, aber ich vermute, Deutschland ist im Filmbereich Synchronisationsweltmeister. Warum eigentlich? Warum werden so wenig Filme - und zwar auch im Fernsehen - in der Originalsprache gesendet? Man kann Untertitel unterlegen. Wer Sorge hat, dass die Filme dann kaum gesehen würden, sei auf Skandinavien verwiesen, dort werden die englischsprachigen Filme durchgängig in englischer Originalsprache gezeigt. Wir können ja behutsam beginnen. Fangen wir mit fünf Prozent aller Filme an, zum Beispiel europäische Filme aus Frankreich, aus Spanien, aus Italien. Diese könnten in der Originalfassung mit ihrer ganz eigenen Sprachmelodie im Zweikanalton gesendet werden. Damit kann jeder, der es will - und auch diejenigen, die die Sprache nicht gut sprechen - diesen Film in der Originalsprache sehen. Dadurch würde sich der Zugang zu der Kultur, den die Filme repräsentieren, ganz anders darstellen.

Sie sehen, grundsätzliche philosophische Überlegungen haben ganz konkrete kulturpolitische Konsequenzen.

Wer über Sprachen und ihre Wegweisung zwischen den Kulturen zu sprechen unternimmt, sieht sich natürlich unvermeidlich auch mit der Frage konfrontiert, wie wir über unsere eigene Sprache sprechen und uns mit ihr auseinandersetzen. Es geht darum, dass die jeweiligen Gedanken, die wir in unserer eigenen Sprache äußern, so klar, so nachvollziehbar wie möglich formuliert werden. Um jetzt ein letztes Mal Wittgenstein zu zitieren: "Alles, was sich sagen lässt, lässt sich klar sagen. Über den Rest muss man schweigen". Nun könnte es sein, dass dann ein Gutteil der öffentlichen Diskurse in Stillschweigen verfiele, was wahrscheinlich auch keine Katastrophe wäre. Aber diese Anstrengung, die eigene Sprache so klar wie möglich zu verwenden, scheint mir doch in wichtiges Ziel zu sein.

In diesem Zusammenhang kann man auch sehr kritisch über die Unart diskutieren, unnötige Anglizismen zu verwenden. Was soll der Unsinn? Wir haben in der Regel sprachliche Ausdrücke, die verstanden werden. Warum diese modische, angeberische, wichtigtuerische Ersetzung durch andere, die zudem ein Teil der Menschen nicht versteht? Insbesondere gibt es ja auch noch eine gewisse Grenze zwischen den neuen Ländern und den alten Ländern, die Rolle des Englischen spielt da für die ältere Generation eine geringere Rolle. Also grenzt man sie damit auch aus.

Der Reichtum der Ausdrucksweisen, die unbegrenzbare Variation der Metaphorik mag ja weltweit und zeitunabhängig auf immer die gleichen Themen zurückzuführen sein, ja sogar - ich gebe zu, ich übertreibe - auf drei Grundstoffe: Liebe, Tod und Transzendenz. Ihre jeweilige Gestalt aber ist ebenso so individuell wie der Summenklang eines Volkes, den wir hilfsweise und oft missbräuchlich Nationalcharakter oder Mentalität nennen. Wenn nun Sprachen einander begegnen, wenn ihre Ideen- , Handlungs- und Bildwelten aufeinandertreffen, kommt alles darauf an, ob es uns gelingt, im fremden Wort-Schatz den kulturellen Reichtum zu entdecken, dem er Ausdruck gibt.

So vielfältig wie die Griechen das Wort Xénos gebrauchten - Fremder, Gast, Gastfreund, Feind - so vielfältig sind unsere Möglichkeiten, mit der nachbabylonischen Polyphonie der Welt zu verfahren. Die blanke Neugier ist hier der beste Anfang, um am Ende beschenkt zu werden. Herder hat das so ausgedrückt: "Nicht um meine Sprache zu verlernen, lerne ich andere Sprachen, sondern ich gehe bloß durch fremde Gärten, um für meine Sprache Blumen zu holen" - der Namensgeber unserer heute zu verleihenden Medaillen hingegen sagte es brutal: "Die Gewalt einer Sprache ( gemeint ist ihre Kraft ) ist nicht, dass sie das Fremde abweist, sondern dass sie es verschlingt."

Vielleicht haben beide Unrecht, Nützlichkeitserwägungen derart in den Vordergrund zu stellen. Denn zunächst wissen wir nicht, in welcher Weise die fremde Sprache unsere eigene zu bereichern vermag. Wir müssen erst in sie hineinhorchen, uns langsam auf ihrem Terrain zurechtfinden, die Landschaft, die Häuser kennen lernen, in denen sie gesprochen wird. Als Fremder, Xénos, kommen wir, von außen. Als Gast, ebenfalls Xénos, bleiben wir, wenn wir willkommen sind. Als Freund lernen wir im besten Fall, sie weiterzutragen - und damit die Kultur, der sie Ausdruck gibt.

Wir haben uns angewöhnt, Fremdsprachenkenntnisse besonders unter dem Aspekt zu befürworten und zu fördern, dass sie uns für die Eroberung fremder Märkte nützlich sind, oder im beruflichen Fortkommen individuelle Vorteile verschaffen. Wie ja überhaupt viele Erscheinungen gegenwärtig auf diese Art der Bewertung eingegrenzt erscheinen, denken Sie nur an die Begründung von Kulturpolitik mit Hilfe des Standortargumentes. Selbst die in Deutschland beklagte Fremdenfeindlichkeit wird immer wieder wegen ihrer schädlichen Wirkung nach außen, auch für den Export, bedauert. Dabei wäre zuförderst ihre Wirkung nach innen, auf uns selbst und unsere Selbstbeschädigung durch Ausgrenzung zu bewerten. So ist auch die Kenntnis fremder Sprachen in erster Linie als Bereicherung nach innen, für unsere eigene geistige, ethische, kulturelle Entwicklung zu sehen, bevor wir sie ökonomisch instrumentalisieren.

Wer meint, es genüge, eine andere Sprache zu erlernen, um in ihr seine persönlichen Interessen artikulieren und besser verfolgen zu können, verfehlt den Gewinn, den ihm seine Mühe bescheren könnte. Er erntet gleichsam nur ein Feld ab und sieht nichts vom Um-Feld, dem Himmel, dem Horizont. Anders gesagt: Er lässt die Kultur, deren Essenz in der Sprache Gestalt geworden ist, nicht mit seiner Neugier zusammen treffen. Wollen wir uns einlassen auf die Sprache einer anderen Kultur, gehört dazu mehr, als der Erwerb eines Wortschatzes und seiner Grammatik. Obwohl ich gleich anfügen will, dass auch die Grammatik genaue Aufmerksamkeit verdient. Sie ist auch Ausdruck eines Weltbildes. Hätten zum Beispiel die Griechen nicht aus einer besonderen Vergangenheitsform ihres Verbums für "Sehen", die meint, dass ich soeben etwas gesehen habe, ein neues Verbum abgeleitet, das "Wissen" heißt - wir wüssten nicht, dass sie ihre Gewissheit aus der Ansicht der Dinge bezogen.

Es fällt schon auf, dass sich in unserer veröffentlichten Muttersprache - auch in anspruchsvollen Zeitungen - , vor allem aber in den mündlichen Verlautbarungen in den Massenmedien grammatikalische Unsicherheiten häufen. Falsche Konjunktive en gros, falsche Superlative - vor allem in den Talkshows - , die hartnäckige Verwirrung von Genitiv und Dativ, der Verlust kräftiger Verben zugunsten von Hilfsverben, denen dann gelegentlich mit einem Adverb abgeholfen wird, und so fort.

Natürlich, die Sprache lebt und man kann nur davor warnen, dass der Staat sich in Form eines Sprachengesetzes in diesen Prozess einmischt. Es gibt andere Formen des verantwortungsvollen Umgangs mit unserer Sprache - und eine davon ist eben, in den Bildungseinrichtungen mehr Wert auf das Erlernen der eigenen Muttersprache zu legen. Einige Politiker verfolgen derzeit Bestrebungen, unsere Sprache, statt sie vor der selbstverursachten Verarmung zu schützen, unter eine Art Reinheitsgebot zu stellen. Mit auffälligem Mut wird da für die Reinheit des Deutschen gefochten. So, als habe der englische Wortschatz auf seinem weltweiten Siegeszug unsere Jungfer Deutsch geschändet, die wir doch längst selbst nach Belieben verstümmeln.

Man kann durchaus bezweifeln, ob die Lawinen von Anglizismen dem Verständnis der Welt förderlich sind. Aber wir sollten uns hüten vor falschen Reinheitsvorstellungen unseres Idioms. Wir sind und wir waren zu allen Zeiten eine Kultur, die davon abhing, aus Nachbarkulturen zu empfangen. Und das hat sich getreulich in der Entwicklung der deutschen Sprache niedergeschlagen. Stellen Sie sich unsere Sprache vor, bereinigt allein von ihren griechischen, lateinischen, französischen und arabischen Ausdrücken! Es bliebe eine Rumpfform übrig, in der wir uns nicht mehr verständigen könnten. Insofern will ich auch die Kritik an den Anglizismen ein wenig relativieren. Ein Teil der Anglizismen dringt in die deutsche Sprache als Begleitphänomen von Technologieimporten, zum Beispiel durch das Internet. Es gibt ganze Wissenschaftsbereiche, in denen Publikationen spät oder überhaupt nicht mehr übersetzt werden. Die Folge ist, dass die, die den Zugang zu diesen Wissensbereichen durch englische Lektüre - das ist die Regel - erwerben, nur mühselig deutsche Entsprechungen finden. Oft gibt es diese auch nicht, sie wären künstlich. Und in diesen Fällen empfehle ich Gelassenheit im Umgang mit dieser Veränderung unserer Sprache, mit der Aufnahme von Termini, die aus dem Kontext einer anderen Sprache kommen, dem wir uns aber öffnen, indem wir von den entsprechenden Technologien Gebrauch machen.

Mir geht es also im Wesentlichen darum, dass wir das Deutsche mit Sensibilität, aber auch mit Selbstbewusstsein gebrauchen. Nicht schwanken zwischen ängstlicher Unterwerfung, indem wir albern jeden Jargon übernehmen, aber auch nicht in einer neuen Form von Ausgrenzung versuchen, die Essenz unserer Kultur zu bewahren, indem wir sprachliche Einflüsse abblocken. Hätten wir diese Gewissheit noch - wir empfänden die Wörter der anderen als Erweiterung unserer Phantasie und würden ihre Anwendung lediglich nach der einfachen Empfehlung Voltaires beurteilen: "Verwende ein neues Wort dann, wenn es drei Eigenschaften besitzt: es muss notwendig, es muss verständlich und es muss wohlklingend sein." Hätten wir diese Gewissheit noch, wir würden die Fremden in unserem Lande ob ihrer Fremdheit dazu auffordern, uns ihre mitgebrachte Phantasie zu schenken, anstatt ihnen bloß als Pflicht aufzuerlegen, unsere Sprache zu verstehen. Die deutsche Sprache ist für einen Fremden ebenso ein Geschenk wie die seine an die Deutschen.

Wo immer wir uns auf die Suche nach dem kulturellen Kontext der Menschheit begeben, finden wir keinen einzigen großen Strom, sondern gleichsam ein Delta der Kulturen. Die Kunst setzt uns über von einem der Flussarme dieses Deltas zum anderen. Wir bedürfen für solches Übersetzen guter Fährleute. Einige solcher guten Fährleute werden heute geehrt.