Redner(in): Julian Nida-Rümelin
Datum: 26.03.2001

Untertitel: Staatsminister Nida-Rümelin in einer Festrede vor dem 51. Hochschulverbandstag zum Thema "Innovation in Wissenschaft und Kunst"...
Anrede: Anrede,
Quelle (evtl. nicht mehr verfügbar): http://archiv.bundesregierung.de/bpaexport/rede/49/35749/multi.htm


Rede von Staatsminister Nida-Rümelin vor dem 51. Hochschulverbandstag am 26. März 2001 in Saarbrücken ( leicht überarbeitete Fassung eines frei gehaltenen Vortrages )

Mein Thema lautet "Innovation in Wissenschaft und Kunst". Ich beginne mit der Innovation in der Wissenschaft, mache einige Vergleiche mit der Innovation in der Kunst, versuche beides in Verbindung zu bringen, und ziehe schließlich einige konkrete Schlussfolgerungen für die Kultur- und die Wissenschaftspolitik. Es sind allerdings eher Prinzipien als konkrete Projekte, die damit umschrieben sind.

Den "Philosophischen Untersuchungen" Wittgensteins ist ein Nestroy-Motto vorangestellt: "Überhaupt hat der Fortschritt das an sich, dass er viel größer ausschaut, als er wirklich ist." Hier ist eine wesentliche Wahrheit eingeschlossen: Das letzte Kriterium des Fortschritts ist das Kriterium der Humanität. Humanität ausbuchstabiert heißt Selbstachtung der einzelnen Person, heißt Respekt vor anderen, auch in ihrem kulturellen Anderssein und heißt schließlich eine Grundeinstellung der Sympathie oder der Kooperationsbereitschaft mit anderen Menschen, unabhängig von ihrer Herkunft, von ihrem Glauben, von ihrer Lebensform. Wenn man dies als letztes Kriterium des Fortschritts nimmt, dann sehen viele "Fortschritte" in der Geschichte der Wissenschaften, der Technik, der Gesellschaft, der Ökonomie nicht mehr so bedeutend aus. An diesem Kriterium gemessen relativiert sich manches. Diese Feststellung impliziert keine Fortschrittsfeindlichkeit. Es geht darum, die Potenziale für mehr Humanität auszuschöpfen, die in der Entwicklung der Technik, der Wissenschaft und auch in der Entwicklung der Kunst liegen.

Wenn ich jetzt - eher kursorisch - eingehe auf eine Interpretation der Wissenschaftsentwicklung, die mit dem Namen Thomas S. Kuhn verbunden ist, so ist das keine Identifikation mit dieser Auffassung. Mein verehrter akademischer Lehrer, Wolfgang Stegmüller, hat ein Gutteil seiner Arbeitskraft darauf verwendet, diesen Ansatz auf seinen Kern zurückzuführen und ihn vor allem vor seinen irrationalistischen Interpretationen zu schützen. Es gibt eine wesentliche Einsicht bei Kuhn, die für das Verständnis von Innovation in der Wissenschaft unverzichtbar ist. Kuhn unterscheidet zwischen zwei Arten von Wissenschaft. Die eine nennt er die "normale Wissenschaft", eine Wissenschaft, die sich entwickelt im Rahmen eines etablierten Paradigmas. Mit diesem Begriff lehnt er sich an den späten Wittgenstein an. Paradigmen sind, ich zitiere Kuhn,"Modelle aus denen bestimmte festgefügte Traditionen wissenschaftlicher Forschung erwachsen". Paradigmen sind keine Theorien, sie sind eher Interpretationsmuster von Phänomenen, oft nur eines Einzelphänomens. Ein Paradigma entfaltet dadurch seine Kraft, dass Wissenschaftler versuchen, nach dem Muster dieser Interpretation andere Phänomene zu interpretieren. Paradigmen legen Regeln fest und steuern so die Systematisierung von Daten. Die Art und Weise, wie wir Daten sammeln, nach ihnen suchen, sie unter bestimmte Begriffe fassen, ist jeweils abhängig von einem Paradigma. Die normale Wissenschaft stellt das jeweils etablierte Paradigma nicht in Frage, sondern sie entwickelt es fort, sie weitet den Anwendungsbereich dieses Paradigmas aus, sie versucht, vergleichbare Fälle zu finden, die ebenfalls mit Hilfe der anerkannten Sichtweise plausibel erklärt werden können.

Nun gibt es aber eine zweite Form von Wissenschaft, die Kuhn "außerordentliche Wissenschaft" nennt und die vor allem für die Innovation in der Forschung relevant wird. Eine Phase außerordentlicher Wissenschaft beginnt, wenn die etablierten Paradigmen immer wieder in ihrer Anwendung auf bestimmte Phänomene Probleme aufwerfen - ich möchte nicht sagen "scheitern", weil dies schon relativ nah an dem mit Karl Popper verbundenen Konzept der Falsifikation läge. Die eigentliche Autorität des Kuhnschen Ansatzes beruht auf seiner diffizilen wissenschaftshistorischen Analyse. Dort bestätigt sich ein Gutteil dieser Sichtweise. Einer Innovation in der Wissenschaft, die einen Paradigmenwechsel beinhaltet, geht das wiederholte Scheitern von Versuchen der Akkomodation konfligierender Daten voraus. Es entstehen "Anomalien" im Rahmen des jeweils etablierten Paradigmas. Dann verfällt Kuhn allerdings in eine psychologisierende und soziologische Betrachtungsweise des wissenschaftlichen Fortschrittes, die ich für unzureichend halte, denn sie beleuchtet nur einen Teil des Prozesses: Er spricht davon, dass sich ein Gefühl der Unzufriedenheit in der Forschergemeinschaft ausbreitet und schließlich jüngere Forscher sich mit der Etablierung eines neueren Paradigmas nicht dadurch durchsetzen, dass sie die besseren Argumente haben - diese haben sie meist zu diesem Zeitpunkt nicht - ; vielmehr verdrängen sie die ältere Generation der Wissenschaftler. Dann stellt sich oft im Nachhinein heraus, dass mit diesem neuen Paradigma doch Beträchtliches zu leisten ist, und im Rückblick betrachtet mag es dann als überlegen erscheinen. Zum Zeitpunkt des Entstehens des Paradigmas ist das in den seltensten Fällen schon erkennbar, so Kuhn. Wissenschaftliche Revolutionen " - ein Terminus, den Kuhn verwendet - tauschen ein wirkungsmächtiges Paradigma gegen ein anderes aus. Die beiden konkurrierenden Paradigmen und die Theorien, die dann im Rahmen dieser Paradigmen entwickelt werden, sind in einem bestimmten Sinne inkompatibel. Sie verwenden neue Begrifflichkeiten, die nicht ineinander übersetzt werden können, sie legen andere Maßstäbe an zur Rechtfertigung bestimmter Argumente im Rahmen dieses Paradigmas, sie führen in letzter Konsequenz zu einem neuen Regelsystem der Forschung. Das für mich Faszinierende dabei ist, dass diese Innovationen natürlich in einem historischen und kulturellen Kontext stehen. Sie sind nicht creationes ex nihilo, sie nehmen Bezug auf etwas, was schon da ist, so revolutionär sie sich auch immer selbst empfinden mögen. Und oft ist erst aus dem historischen Abstand von Jahrzehnten und Jahrhunderten erkennbar, wie sehr sie doch ihrer jeweiligen Zeit, ihrer jeweiligen Tradition verpflichtet waren. Besonders sorgfältig ist das zum Beispiel untersucht bei Thomas Hobbes, der sich selbst als wissenschaftlichen Revolutionär verstand und auch als Revolutionär wahrgenommen wurde. Wenn man genau hinsieht, ist er doch sehr viel stärker, als er selbst gesehen hat, der Tradition verhaftet.

Ich möchte in diesem Zusammenhang noch einen kurzen historischen Blick auf den Beginn des 20. Jahrhunderts werfen. Dort hat die Grundlagenwissenschaft der Naturwissenschaften - jedenfalls verstand sie sich selbst so und wird über lange Phasen des 20. Jahrhunderts als solche verstanden - , nämlich die Physik, in relativ kurzer Zeit mehrere Revolutionen in diesem Sinne durchlaufen, ohne dass die Physiker deswegen auf einmal die normale Wissenschaft im Sinne Kuhns aufgegeben hätten. Nach Phasen der Beunruhigung, des Konflikts, der Unsicherheit über die je zu etablierenden Regelsysteme ( die heute noch einen fernen Nachklang haben in Schriften, die nicht mehr im Zentrum der physikalischen Forschung stehen und immer noch versuchen, die spezielle Relativitätstheorie zu widerlegen ) kommt die Wissenschaft wieder in die Bahnen normaler Forschung. Es gibt eine Arbeitsteilung zwischen kleinteiliger, an der Ausweitung des Anwendungsgebiets des jeweiligen Paradigmas interessierten Forschung einerseits und gelegentlichen kühnen Entwürfen eines alternativen Paradigmas zum Beispiel in den Bereichen der Kosmologie oder der Elementarteilchenphysik andererseits.

In derselben Phase geschieht etwas Vergleichbares in der Kunst. Die Kunst verändert sich Ende des 19. Jahrhunderts und gibt bestimmte wohl etablierte "Paradigmen" auf, um sie dann in rascher Folge durch ganz unterschiedliche, neue Paradigmen zu ersetzen. Ein Beispiel: Das seit der Renaissance gültige Paradigma der realistischen Darstellung mittels der Zentralperspektive in der Malerei, das gewissermaßen für normale Kunst stand, wird innerhalb kurzer Zeit von Künstlern der jüngeren Generation verabschiedet. Sie betrachten diese Form der Repräsentation eines Gegenstandes nicht mehr als ihre Aufgabe.

Cézannes Bilder zeigen, wie die Sichtbarkeit eines Gegenstandes durch eine Sichtweise interpretiert oder ersetzt werden kann. Der Durchbruch der Abstraktion kommt bei Kandinsky. Deutlich wird der radikale Wandel im Bildverständnis bei Malewitsch - das schwarze Quadrat auf weißem Grund von 1915 repräsentiert auch nach eigenem Verständnis nichts. Das ist nicht das Ende der Kunstentwicklung, sie "mäandert", führt auch zurück zu einer "Neuen Sachlichkeit" oder zu figurativer Kunst in der Gegenwart. Im Unterschied zur Entwicklung der Physik häufen sich jedoch in der Kunst seit der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert die Paradigmenwechsel, sie werden geradezu zur Essenz künstlerischer Kreativität, künstlerischer Innovation. Der Wechsel von einem Paradigma in das nächste wird eigentlicher Ausweis der modernen Kunstentwicklung und damit verändert sich im Übrigen auch das Verhältnis von Kunst und Lebenswelt.

Die "Art World", die aus den Künstlern, insbesondere den am Diskurs beteiligten, den Museumsdirektoren, den Theoretikern, den Galeristen, der kleinen, kunstinteressierten Elite gebildete Welt der Kunst, definiert nach internen Kriterien neu, was Kunst ist oder Kunst zu sein hat in der jeweiligen Zeit. Und das Publikum reagiert, zum Teil wenigstens, ratlos oder mit der typischen zeitlichen Verzögerung. Die Hochschätzung, die die klassische Moderne heute in weiten Teilen der Bevölkerung erfährt, hatte bei den Zeitgenossen keine Entsprechung.

Die Frage "Was ist eigentlich Kunst?" begleitet die Kunst seit Beginn des 20. Jahrhunderts. Ob sie an Duchamps Ready-mades denken oder daran, wie Warhol Gebrauchsgegenstände der kommerzialisierten Lebenswelt zu Kunstobjekten umdefiniert und so das Alltägliche monumentalisiert, oder an Beuys' Erweiterung des Kunstbegriffs in die soziale und politische Aktion hinein, die von Beuys so verstandene Entmusealisierung der Kunst. Da ging es jeweils nicht nur um die Etablierung eines neuen Paradigmas innerhalb der Kunst, sondern um eine neues Verständnis von Kunst überhaupt, um die Frage "Was macht Kunst eigentlich aus?".

Diese Fragestellung zieht sich bis in die Kunst der Gegenwart. Ich nehme als Beispiel Carsten Nicolai, der bildender Künstler und zugleich Musiker bzw. Disc Jockey ist - Bild- und Klangraum überlappen sich. Er versteht sich selbst aber auch als Forscher, der die Grenzen zwischen U und E überschreitet, zwischen Museum und Lounge, zwischen Popkultur und White Cube. Künstler wie Nicolai gehen von der Autonomie der Kunst ab und schreiben der Kunst ausdrücklich auch eine Dienstleistungsfunktion zu.

Ein anderes Beispiel ist die schwedische Künstlerin Ann-Sofi Sidén. Sie betreibt für ihre Installationen und Videodokumentationen Recherchen, die auf den ersten Eindruck eher den Charakter einer ethnologischen Studie haben. Psychologie spielt hinein, auch ein gewisser politischer Impetus, sehr zurückgenommen. Eine ihrer letzten Arbeiten hat den deutschen Titel "Warte mal". Sie versammelt Videointerviews und Filmmaterial über das Leben von Prostituierten an der deutsch-tschechischen Grenze und untersucht, wie sich Menschen einrichten in der Entfremdung zwischen Geld, Körper und Gewalt. Auch bei diesem Projekt geht es letztlich um die Frage, was Kunst eigentlich ausmacht.

Ich habe bewusst eine Naturwissenschaft, die Physik, und die bildende Kunst im 20. Jahrhundert herangezogen. Die Geisteswissenschaft nehmen in diesem Spektrum eine Zwischenrolle ein. Sie beruhen einerseits auf akzeptierten Rationalitätsstandards, auf akzeptierten Paradigmen, haben insofern eine Gemeinsamkeit mit der Physik, wenn auch die Methoden natürlich ganz andere sind. Andererseits scheinen die Geisteswissenschaften, jeweils in ihren gerade als besonders aktuell empfundenen Ausprägungen, gelegentlich den Gesetzen eines "Kunstmarktes" zu unterliegen, die ästhetische Originalität einer Position spielt eine große Rolle. Nehmen Sie zum Beispiel den Einfluss, den die "französische" Philosophie, der ich persönlich eher kritisch gegenüber stehe, gegenwärtig auf die US-amerikanischen Humanities hat. Die Vertreter dieser Art von "continental philosophy" ( wie sie dort bezeichnet wird, offenbar in seltsamer Verkleinerung des europäischen Kontinents ) ähneln im Habitus gelegentlich Stars der europäischen Kunstszene und entsprechen weniger dem Geist nüchterner Wissenschaft - ich denke etwa an den Auftritt von Foucault in den USA.

Die Geisteswissenschaften stehen zwischen den universalen Erklärungsansprüchen der Naturwissenschaften und dem Spezifitätsbewusstsein der Kunst. Sie bilden einen wesentlichen Teil des kulturellen Gedächtnisses und berühren sich auf dieser Ebene stärker mit der Kunst. Das Historische spielt für die Geisteswissenschaften konstitutiv eine andere Rolle als für die Naturwissenschaften. Die Geschichte der Physik ist ein ganz anderes Fach als die Physik. Gleiches kann man von der Philosophie nicht sagen. Die Geschichte der Philosophie ist Teil der Philosophie.

Ich möchte jetzt noch einen kurzen Exkurs zur Rolle von Regeln machen. Ich hatte bereits von Regeln im Zusammenhang des Kuhnschen Paradigmenbegriffs gesprochen und möchte jetzt noch auf einen anderen Aspekt hinweisen, den der Verständigung. Jede Art von Verständigung ist von gemeinsam akzeptierten Regeln abhängig. Wo diese Regeln in einem Wandel begriffen sind, muss es als Begleitphänomen immer auch Verständigungsprobleme geben. Dies ist kein Plädoyer für den Stillstand, die Regeln müssen sich verändern, aber man muss wissen, was das jeweils mit sich bringt. Rationalität basiert auf gemeinsam akzeptierten Regeln. Sie setzt zum Beispiel Regeln der Begründung voraus, oder Regeln, die festlegen, was überhaupt als Datum gelten oder nicht gelten darf. Regelunsicherheit stellt damit auch Rationalität auf einen Prüfstand, indem beispielsweise die Kriterien von Begründung unsicher werden. Das heißt, solange Kommunikation eine Gemeinschaft eint - ich denke jetzt an die Wissenschaftlergemeinschaft oder auch an die Gemeinschaft der Kunst, die "Art World" - , muss es einen gemeinsamen Regelbestand geben, der so grundlegend ist, dass er Veränderungen verkraftet, ohne dass die Verständigung kollabiert.

Ich will diesen kurzen Exkurs abschließen mit der Idee eines Spektrums. Die Lebenswelt - der Bereich der alltäglichen Erfahrung und Verständigung - beruht auf einem von uns selten diskutierten, weil als selbstverständlich vorausgesetzten, gemeinsamen Bestand an Regeln, an fundamentalen Urteilen, an Gewissheiten. Wir haben Gewissheiten, die niemand in Frage stellt. Man kann zum Beispiel Anti-Realist sein, allerdings nur im philosophischen Seminarraum. In dem Moment, in dem man ihn verlässt, kann man nicht mehr Anti-Realist sein, nicht wirklich. Wer außerhalb des philosophischen Seminarraums Anti-Realist ist, läuft Gefahr, als "Halbirrer" betrachtet zu werden, um Wittgenstein aus seiner letzten Schrift "Über Gewissheit" zu zitieren. In der Lebenswelt gibt es also einen hohen Bestand an Überzeugungen und Regeln, die sich nur sehr langsam ändern. Das betrifft übrigens auch den Bereich unserer gemeinsamen moralischen Überzeugungen, der sich nicht einfach über einen Theorieentwurf verändern lässt. Er lässt sich behutsam modifizieren - dort wo Inkohärenzen bestehen - , aber die Moral, die uns im Leben leitet, steht nicht in toto zur Disposition einer wissenschaftlichen Analyse.

Folgerungen für die Kultur und Wissenschaftspolitik1. Vor dem skizzierten Hintergrund wird etwas klarer, was Autonomie in Kunst und Wissenschaft bedeutet, und warum diese Autonomie so wichtig ist. Prozesse der Innovation sind Vorgänge, die von außen nicht steuerbar sind. Sie verlangen eine Offenheit, ein Nichtkontrollieren, damit Ungewöhnliches, auch Widerspenstiges, überhaupt möglich wird. Eine kontrollierte Wissenschafts- und Technikentwicklung ist ebenso wenig denkbar wie eine kontrollierte Kunstentwicklung. Der Sinn dieser Autonomie ist es, Freiheit zu schaffen, Freiheit für die Wissenschaft und die Kunst.

2. Zugleich gibt es Grenzen der Autonomie. Diese Grenzen hängen im wesentlichen mit der Einbettung in den gesellschaftlichen, auch den politischen Kontext von Kunst und Wissenschaft zusammen. Ich habe einen Aspekt genannt: Die Verständigung in die Lebenswelt hinein ist für Kunst und Wissenschaft nicht einfach vernachlässigbar. Es muss Berührungspunkte geben, Menschen müssen zum Beispiel wissen, was denn an den Universitäten, was in den Forschungsinstituten, was in den wissenschaftlichen Brain-Trusts denn tatsächlich getrieben wird, um auch bereit zu sein, diese Wissenschaft mit ihren Steuermitteln zu fördern. Wir brauchen also eine Öffnung der Wissenschaft in die Lebenswelt hinein und wir brauchen Mittler, Wissenschaftler, die bereit sind, einen Teil ihrer zeitlichen Ressourcen zur Verfügung zu stellen für das Vermitteln dieser Ergebnisse nach außen. Diese Kultur des Vermittelns könnte besser entwickelt sein, besonders auch in Deutschland. Wir sollten versuchen, weitere Schritte zu gehen, um die Akzeptanz für das Besondere der Wissenschaft und das Besondere der Kunst in der Gesellschaft zu fördern. Diese Einbettung umfasst auch die Dimension der Kooperation. Es kann nicht sein, dass sich das Subsystem Wissenschaft und das Subsystem Kunst ablösen und keinerlei kooperative Bezüge zum Rest der Gesellschaft mehr aufweisen. Sie wirken in die Gesellschaft hinein. Die Entwicklung der Gesellschaft wird ganz wesentlich geprägt von wissenschaftlichen und künstlerischen Entwicklungen. Weil dies ein so zentraler Bereich der gesellschaftlichen Entwicklung ist, erwarten andere Bereiche der Gesellschaft zu Recht Kooperation - ob das die Wirtschaft oder die Technik sind, die Bildungsinstitutionen oder dergleichen mehr.

3. Innovation in Wissenschaft und Kunst verlangt ein Klima der Toleranz. Irren ist weder in der Wissenschaft noch in der Kunst eine Schande. Ich gehe so weit zu sagen, es gehört zum Ethos dieser beiden großen Kreativitätspotenziale der Gesellschaft, Abweichendes, Unbequemes, den meisten vielleicht sogar abwegig Erscheinendes zu fördern. Es gibt eine schöne Formulierung von Karl Popper, dass die Wissenschaft voranschreitet durch den Prozess kühner Entwürfe und kritischer Prüfung. Kühne Entwürfe müssen es sein. Wenn Wissenschaft und Kunst aus lauter Anpassern bestehen würde, dann wäre die Innovation in Wissenschaft und Kunst gefährdet - Toleranz intern.

4. Extern heißt das: Weder die Wissenschafts- noch die Kulturpolitik hat Kriterien zur Beurteilung, was gute Wissenschaft und was gute Kunst ist. Aber dennoch muss sie Mittel bereitstellen um zu fördern. Ein wesentliches Kriterium dieser Förderung ist schlicht das Kriterium der Vielfalt. Die Wissenschaftspolitik, die Kultur- und Kunstpolitik muss Vielfalt fördern. Wo Vereinheitlichung droht, wie zum Beispiel gegenwärtig im Film, muss sie gegensteuern, muss sie Steuermittel zur Verfügung stellen. Das öffentliche Gut einer lebendigen künstlerischen, einer lebendigen wissenschaftlichen Entwicklung hat einen hohen Rang. Das rechtfertigt es, mit Steuermitteln die Vielfalt herzustellen und zu sichern. Es gibt beispielsweise in den drei deutschsprachigen Ländern in Mitteleuropa ebenso viele Theater- und Opernbühnen wie im Rest der Welt. Da sagen manche: "Die sind ja wohl verrückt geworden." Das Gegenteil ist der Fall. Das genau ist Förderung von Vielfalt und künstlerischer Kreativität, auch wenn es manchmal finanziell weh tut.

5. Förderung von Interdisziplinarität. Es besteht in allen Bereichen immer eine Tendenz, sich auf das Sichere zurückzuziehen. Es ist interessant zu sehen, dass die großen Innovationsschübe oft ausgelöst wurden durch Begegnungen, die niemand geplant hat. Begegnungen zwischen den Disziplinen, die bei dem einen oder anderen neue Sichtweisen ermöglichen und neue Durchbrüche. Das gilt für die Kunst gleichermaßen wie für die Wissenschaft.

6. Förderung der Internationalität. Wenn der Bezugsrahmen von Wissenschaft und Kunst jeweils die nahe Stehenden sind, die darüber entscheiden, ob die weitere Laufbahn der Wissenschaft vorangetrieben wird oder nicht, dann besteht immer die Gefahr einer gewissen Bequemlichkeit, sich auf das nahe Liegende zu beziehen und es damit auch sein Bewenden sein zu lassen. Die Konfrontation mit dem, was außerhalb der nationalen Grenzen ist, der Austausch, die Begegnung über die nationalen Grenzen hinweg, ist wesentlich für Innovation in Wissenschaft und Kunst.

7. Es gab einmal ein relativ enges Verhältnis zwischen Wissenschaft und Kunst. Dieses enge Verhältnis datiert - bei allen Unterschieden - in die Antike und reicht zweifellos bis weit in das 19. Jahrhundert hinein. Die ganze experimentelle Tradition in den Naturwissenschaften ist von ihrer Entstehung her eng an künstlerische Performances gebunden, zum Beispiel in den Salons vornehmer Damen, die Künstler und Wissenschaftler einluden, um dort bestimmte Experimente mit viel Licht und Geräusch zu inszenieren. Das ist ein wesentlicher Teil der Entwicklung der Naturwissenschaft im 18. und 19. Jahrhundert. Beide Bereiche - Wissenschaft im Sinne von Science und Kunst - haben sich zunächst einmal auseinander entwickelt, schienen nicht mehr viel miteinander zu tun zu haben. Die Kunst verachtete über lange Zeiten hinweg die Verbindung zur Technik und zum Handwerk, die früher sehr eng war. Die Wissenschaft versuchte als präzise an Rationalitätsstandards ausgerichtete Tätigkeit Abschied zu nehmen von den Unwägbarkeiten der künstlerischen Kreativität. Mein Eindruck ist, dass heute eine neue wechselseitige Aufmerksamkeit besteht. Künstler sind interessiert an der Wissenschaft. Es gibt zum Beispiel Kunstprojekte, die sich mit der Gentechnik und der Biotechnologie auseinandersetzen, weil Künstler merken, das hat kulturelle Einflüsse, da verändert sich etwas und wir müssen darauf reagieren. Es gibt Künstler, die sich als Forscher verstehen, es gibt Wissenschaftler, die sich für die Kreativitätspotenziale der Kunst interessieren. Ich glaube, es ist gut für die Gesellschaft, Kunst und Wissenschaft in ein engeres Verhältnis zu bringen.

8. Die Innovationspotenziale in der Kunst und der Wissenschaft hängen davon ab, dass Bezüge zur Lebenswelt bestehen bleiben und vertieft werden. Die Wissenschaft kann gewinnen, wenn sie ich für die Erwartung der Menschen öffnet, wenn sie merkt, welche gesellschaftlichen Entwicklungen welche wissenschaftlichen Antworten erforderlich machen. Jüngere zeitgenössische Künstler wollen die Auseinandersetzung, den Dialog mit der Gesellschaft, nicht nur mit den wenigen, die sich für eine Ausstellung in einer Galerie interessieren. Sie wollen diesen Dialog, sie verstehen ihre Kunstprojekte als Teil öffentlicher Diskurse. Interventionistische Kunst ist ein Begriff in diesem Zusammenhang, es gibt viele Projekte, die darauf abzielen, Einfluss zu nehmen, sich auszutauschen, Wechselwirkungen zwischen Lebenswelt und Kunst zu zulassen. Stichwort also Reintegration von Kunst und Wissenschaft in die Lebenswelt. Ich denke, dass die Kulturpolitik dazu beitragen kann, indem sie Räume bereitstellt, in denen diese Begegnungen stattfinden können. Das ist ein zentrales kultur- und wissenschaftspolitisches Projekt, dem wir uns alle widmen sollten.

Zum Schluss: Ich denke, wir sollten den Kulturstaat, der mit diesem Terminus nicht im Grundgesetz steht, der aber zur Essenz der Verfassungsrealität gehört, so umfassend wie möglich verstehen. Kultur bedeutet nicht nur Museum, Orchester, nicht nur das eine oder andere Projekt, sondern Kultur ist die Art und Weise, wie wir uns miteinander verständigen, wie wir Innovationen aufnehmen und fördern. Kultur ist letztlich dasjenige, was dem Leben der einzelnen Person erst ihren Sinn gibt. Und im Sinne dieses umfassenderen Verständnisses von Kulturstaat denke ich, dass die Innovationspotenziale der beiden Bereiche Wissenschaft und Kunst im Mittelpunkt stehen sollten, nicht nur der Kultur- und Wissenschaftspolitik, sondern der Politik generell, weil dies die Zukunftschancen der Gesellschaft ganz wesentlich beeinflussen wird. Danke schön.