Redner(in): Angela Merkel
Datum: 14. April 2016
Anrede: Sehr geehrter Herr Prälat Neher,sehr geehrter Herr Kardinal Marx,
Quelle (evtl. nicht mehr verfügbar): https://www.bundesregierung.de/Content/DE/Rede/2016/04/2016-04-15-bkin-caritas.html
Liebe Kolleginnen und Kollegen aus dem Deutschen Bundestag und der Bundesregierung, aber vor allen Dingen Sie, meine Damen und Herren, die Sie von der Caritas oder für die Caritas oder als Freunde der Caritas heute hier mit dabei sind,
Dieser Jahresempfang steht unter der Thematik, mit der Sie sich schon gestern und auch heute beschäftigt haben, nämlich dem demografischen Wandel. Aber wie kann es einen Jahresempfang geben, ohne dass wir nicht auch über die Aufgabe sprechen, die wir in dieser Form heute noch vor einem Jahr gar nicht so vor uns gesehen haben: die Aufnahme der vielen Flüchtlinge, die zu uns nach Deutschland gekommen sind. Ich möchte nicht nur für den Dank danken, sondern den Dank auch zurückgeben, denn wir hätten das nicht geschafft, wenn es nicht so viele zupackende Hände und offene Herzen gegeben hätte ganz wesentlich auch gerade bei Ihnen als Hauptamtliche und Ehrenamtliche in der Caritas. Ein herzliches Dankeschön für das, was Sie geleistet haben und nach wie vor leisten.
Wir haben oft davon gesprochen und sprechen noch davon, was für eine unglaubliche Aufgabe wir zu leisten haben. Ein Blick in andere europäische Länder zeigt auch, dass das im Vergleich zu anderen sicherlich so ist. Ein Blick auf die Landkarte und ein Blick darauf, was der sogenannte Schengenraum, also der europäische Raum der Reisefreiheit, ist, zeigt auch, wenn wir uns einmal unsere Nachbarschaft anschauen, dass einer der Nachbarn des Schengenraums nicht nur gegenüber Griechenland die Türkei ist, sondern dass gegenüber Zypern auch Syrien ein Nachbar ist. Schauen wir uns einmal an, was die Nachbarn von Syrien geleistet haben Entwicklungsminister Gerd Müller ist auch hier: ein Land wie Libanon mit knapp fünf Millionen Einwohnern hat 1,5 Millionen Flüchtlinge, ein Land wie Jordanien mit sieben Millionen Einwohnern hat eine Million Flüchtlinge, ein Land wie die Türkei mit 75 Millionen Einwohnern hat 2,7 Millionen Flüchtlinge. Im Vergleich dazu scheint die Leistung der 500 Millionen Europäer mit wahrscheinlich etwas weniger als einer Million Flüchtlingen aus Syrien überschaubar zu sein. Dies ist eine Perspektive, die ich jetzt einfach nur einmal einnehme, um zu sagen, wo die Herausforderungen liegen, wo aber auch die Glaubwürdigkeit liegt, wenn wir durch die Welt reisen und Menschen erklären, was Demokratie, Solidarität, Gerechtigkeit, individuelle Freiheit und Würde des Menschen anbelangt. Diese Werte müssen uns leiten. Ich weiß, dass Sie das hier in diesem Raum auch so sehen.
Wir müssen aus den Erfahrungen, die wir gemacht haben, vieles lernen. Wir leben in einer Welt wir haben das oft gesagt; Sie bei der Caritas wahrscheinlich noch öfter als wir in der Politik. Diese eine Welt ist kein theoretisches Gebilde, sondern fordert uns ganz praktisch zum Handeln heraus. Entweder bekämpfen wir die Fluchtursachen durch politisches Handeln, durch kluge Entwicklungshilfe und andere Maßnahmen oder aber der Druck der Migration wird größer werden. Das heißt, wir werden viel mehr über unseren europäischen Tellerrand schauen müssen, um sowohl unsere Sicherheit als auch die Sicherheit unserer Umgebung zu garantieren; einmal durch Hilfe hier und auf der anderen Seite und das will ich ausdrücklich sagen auch durch Bekämpfung von Illegalität. Es kann nicht sein, dass Schlepper und Schmuggler sozusagen den Umfang unserer humanitären Taten bestimmen, sondern wir müssen versuchen, Menschenleben zu retten allein in diesem Jahr sind schon 400 Menschen in der Ägäis umgekommen und, indem wir legalem Handeln Vorschub leisten, unserer Verantwortung gerecht zu werden. Das wird in den nächsten Jahren viele Diskussionen mit sich bringen.
Wenn wir unsere Nachbarschaft anschauen vom Nordpol über Russland, Weißrussland, Ukraine, Moldau, Georgien, Türkei, Syrien, Libanon, Israel, Ägypten, Libyen, Tunesien, Algerien und Marokko, dann wissen wir, dass es in dieser Nachbarschaft viele Konfliktpotentiale gibt und dass auch wir einen politischen Beitrag leisten müssen, um sie zu lösen. Dabei ist die gesamte Europäische Union gefragt.
Wenn wir uns auf der anderen Seite anschauen, welche großen Mitspieler der Globalisierung wir haben Indien mit über einer Milliarde Einwohnern, China, die starken Vereinigten Staaten, dann wissen wir auch: Wenn die Europäische Union es nicht schafft, zusammenzustehen, für gemeinsame Werte zu kämpfen und auch ein Stück weit sichtbar werden zu lassen, was wir unter einem christlich-jüdischen Abendland verstehen, dann wird manches an Weltentwicklung an uns vorbeiziehen. Deshalb ist dies jetzt auch eine Zeit, in der sich viel über Glaubwürdigkeit entscheidet.
Ich möchte, weil wir gestern Abend viele Stunden im Koalitionsausschuss zusammengesessen haben, die Gelegenheit nutzen, um Ihnen von unseren neuesten Ergebnissen zu berichten, weil wir nämlich etwas ganz Wichtiges gemacht haben. Wir haben daran gearbeitet und uns nun entschieden, ein Integrationsgesetz auf den Weg zu bringen.
Integration das ist die Aufgabe der Gesellschaft, in die Flüchtlinge kommen, offen zu sein. Das ist aber auch die Aufgabe derer, die kommen, sich auf unsere Gesellschaft einzulassen mit ihren Erfahrungen, aber eben auch auf der Grundlage unserer Gesetze. So wird das Integrationsgesetz ein Gesetz des Forderns und Förderns mit neuen Arbeitsmöglichkeiten für Flüchtlinge werden.
Wir werden die Voraussetzungen dafür schaffen, dass wir für hunderttausende Flüchtlinge sehr schnell Arbeitsplätze schaffen können. Wir wollen und zwar je nach Bleibeperspektive der Flüchtlinge unterschiedliche Bildungsangebote machen: von der Vorbereitung auf Ausbildung bis hin zu Ausbildungsmodulen und einer sicheren Berufsausbildung mit der Möglichkeit, anschließend zwei Jahre in Deutschland zu arbeiten, und auch für Flüchtlinge mit einer geringen Bleibeperspektive Orientierungskurse und Möglichkeiten des Lernens, die ihnen auch bei einer Rückkehr in die Heimat zugutekommen.
Wir werden die Sprachkurse verbessern und intensivieren und vor allen Dingen dafür Sorge tragen, dass jeder schneller Zugang zu einem Sprachkurs bekommt. Wir werden Anreize dafür setzen, dass die Bleibeperspektiven besser werden, wenn man sich im Rahmen der Integration engagiert. Auf der anderen Seite werden wir natürlich deutlich machen, dass, wenn Pflichten verletzt werden, dann auch Abstriche bei den Integrationsangeboten notwendig sind.
Das alles, also Fördern und Fordern, soll den Rahmen dieses Integrationsgesetzes bestimmen. Wir gehen damit einen neuen Weg. Es gibt bis jetzt kein solches Gesetz. Wir haben aber auch in den letzten Jahrzehnten gemerkt, dass es nicht gut war, dass wir nicht von Anfang an den Fokus auf Integration gerichtet haben.
Nun zu Ihrem zweiten großen Thema hier beim Jahresempfang. Es ist richtig und wichtig, auch die Probleme, die wir haben und die wir hatten, als es noch nicht so viele Flüchtlinge gab, in den Blick zu nehmen. Dazu zählt das Thema Generationengerechtigkeit, wenn sie den demografischen Wandel betrachten. Ich möchte der Caritas ganz herzlich dafür danken, dass das nicht sozusagen alarmistisch, nicht unter Benennung aller denkbaren Risiken passiert, die Menschen zum Teil entmutigen, sondern dass die Diskussion Mut machen soll. In diesem Geist führen Sie diese Diskussion. Das ist wichtig, und zwar für alle Altersgruppen.
Der Zusammenhalt unserer Gesellschaft wird bei der Veränderung der Stärke der einzelnen Generationen das große Thema sein. Wenn Generationen erst einmal misstrauisch aufeinander schauen, dann kann gesellschaftlicher Zusammenhalt eben nicht gelingen. Deshalb versuchen wir auch vonseiten der Bundesregierung, alle Generationen in den Blick zu nehmen und dementsprechend so ist die Aufgabe gesetzliche Vorkehrungen zu treffen.
Was die Älteren im Bereich der Pflege angeht, die ganz besonders vom Bundesgesundheitsminister, aber auch von der ganzen Bundesregierung in dieser Legislaturperiode in den Blick genommen werden, ist der neue Pflegebegriff ganz wichtig. Demenzkranke können jetzt einen Platz in der Pflege finden, der angemessen und richtig ist. Ebenso wichtig sind die Fragen der Verbesserung der Leistungen für diejenigen, die pflegen ob zu Hause oder professionell im Pflegeheim, sowie der altersgerechte Umbau von Wohnungen, die Stadtplanung und vieles andere mehr.
Kardinal Marx hat die "Woche für das Leben" eröffnet und das Altern in Würde herausgestellt. Kardinal Lehmann hat über das Alter gesagt: "Diese Annahme des Alters bringt es mit sich, dass das Älterwerden und erst recht das Altsein nicht als bloßer Verfall, sondern als eine ursprüngliche Form positiven Lebens wahrgenommen wird, das eine eigene Produktivität entfalten kann." Das sollten wir bei allen Beschwernissen des Alters immer wieder im Blick haben. Menschen in der Mitte des Lebens, die weder sozusagen die ganz Kleinen aufmerksam betrachten, noch die, die am Ende des Lebensbogens stehen, werden auch die Mitte des Lebens nicht voll erfassen können. Deshalb ist der Zusammenhalt der Generationen so wichtig.
Es gibt in diesem Jahr eine erhebliche Rentensteigerung. Das sagt aber noch nichts darüber aus, dass das Thema Rente für diejenigen, die heute 40 oder 45 Jahre alt sind, bereits gelöst ist. Wir haben gestern Abend im Koalitionsausschuss gesagt: Wir müssen uns diesem Thema noch einmal widmen möglichst gemeinsam und mit den gesellschaftlichen Gruppen. Es hat ja keinen Sinn, wenn sozusagen zu viele politische Schlachten ausgetragen werden.
Wir haben natürlich Familien und Kinder im Fokus. Sie in der Caritas wissen, wie viele Familien auch zu kämpfen haben. Wir haben verschiedene Leistungen vom Kindergeld über die Unterstützung von Alleinerziehenden und vieles andere mehr verbessert. Aber auch hierbei reicht es nicht aus, einfach Leistungen zu verbessern, sondern es muss auch Ermutigung geben, es muss ein gesellschaftliches Klima geben, in dem Ja zu Kindern, Ja zu Mutter- und Vaterschaft, Ja zur Vereinbarkeit von Beruf und Familie gesagt wird. Familienbedürfnisse müssen im gesellschaftlichen Leben einen festen Platz haben. Dabei sind wir ja vorangekommen, wenn ich sehe, wie die Elterngeldzeiten inzwischen auch von Vätern in Anspruch genommen werden. Manche Revolutionen passieren einfach. Man merkt oft erst im Rückblick, dass sie stattgefunden haben. So viel Begeisterung hat man von Vätern, die auch von der Sorge um kleine Kinder erfüllt sind, früher nicht gehört.
Es ist aber auch weiterhin viel zu tun, auch viel mit dem Herzen zu tun. Wir machen Gesetze, wir diskutieren oft sehr theoretisch über Probleme. Sie packen an, Sie stehen in der Praxis. Manches, was wir an Sonntagen sagen, ist für Sie gelebter Alltag. Es wird, auch wenn es um Leistungen geht, eine bleibende Aufgabe sein, diejenigen, die den Menschen dienen, die mit den Menschen arbeiten, nicht zu vergessen und nicht nur an diejenigen zu denken, die mit den Maschinen arbeiten. Es ist noch viel zu tun, um eine gerechte Welt zu erreichen.
Auch ich möchte mit einem ganz herzlichen Dank schließen. Es gibt an vielen Stellen ein gutes und partnerschaftliches Miteinander der Bundesregierung und der Caritas. Danke schön vor allem Ihnen, die Sie heute beim Jahresempfang hier in Berlin dabei sind. Tragen Sie diesen Dank bitte zu denen, die auch über diese Kongresstage hinweg vor Ort tätig sind immer wieder mit großer Leidenschaft und mit großem Engagement. Unsere Gesellschaft wäre nicht das, wenn es diese Menschen nicht gäbe. Herzlichen Dank der Caritas.