Redner(in): Gerhard Schröder
Datum: 03.04.2001

Untertitel: Ich danke der Fraktion und besonders Günter Gloser, dass wir heute Gelegenheit haben, über die Erweiterung der Europäischen Union als Aufgabe für die Innen­politik zu diskutieren.
Anrede: Sehr geehrte Damen und Herren!
Quelle (evtl. nicht mehr verfügbar): http://archiv.bundesregierung.de/bpaexport/rede/70/35870/multi.htm


Ich danke der Fraktion und besonders Günter Gloser, dass wir heute Gelegenheit haben, über die Erweiterung der Europäischen Union als Aufgabe für die Innenpolitik zu diskutieren.

Im Gespräch mit den Bürgerinnen und Bürgern, nicht zuletzt auf meiner Sommerreise durch die neuen Länder habe ich den Eindruck gewonnen:

Die Zustimmung der Menschen zur Erweiterung ist groß.

Die Menschen in unserem Land, gerade in den Grenzregionen, wissen um die Vorteile und Chancen des Erweiterungsprozesses. Und sie sind bereit, solidarisch einen Beitrag dafür zu leisten, dass Europa sich neuen Mitgliedern öffnet.

Wir sind gewiss kein Land von Krämerseelen. Aber es gibt auch Sorgen im Hinblick auf die Erweiterung. Wer diese Sorgen übersieht oder mit Blick auf das große Ganze darüber hinweg redet, der setzt die Unterstützung der Bürgerinnen und Bürger für die Öffnung der Europäischen Union insgesamt aufs Spiel.

In Nizza haben wir auf Seiten der Europäischen Union die Voraussetzung für die Aufnahme neuer Mitglieder zum Jahr 2003 geschaffen. Damit treten nun auch die Erweiterungsverhandlungen in ein neues Stadium. Wir verlassen die abstrakte Ebene der Deklarationen. Von nun an geht es darum, konkrete und für beide Seiten tragfähige Lösungen in teils sehr schwierigen Sachfragen zu finden.

Viele dieser Fragen betreffen die Bürger unmittelbar. Und wahr ist auch: Die Erweiterung wird - zeitlich begrenzt und bezogen auf bestimmte Regionen und Branchen - Probleme mit sich bringen.

Unsere Bürgerinnen und Bürger erwarten deshalb mit Recht, dass wir ihnen klipp und klar sagen, was auf sie zukommt. Und sie haben Anspruch darauf, dass wir den absehbaren Schwierigkeiten das Notwendige entgegensetzen.

Die SPD-Bundestags-Fraktion hat hier sehr hilfreiche Ansätze entwickelt. Das ist der Rückenwind, den man sich als Regierung wünscht. Ich bin sicher, mit dieser Unterstützung werden wir die Dinge auf einen guten Weg bringen.

Unsere Botschaft ist: Alle profitieren von der Erweiterung, besonders wir Deutsche. Die mit ihr verbundenen Schwierigkeiten werden wir bewältigen. Lassen Sie uns diese Linie gemeinsam offensiv vertreten!

Meine Damen und Herren, die Sorgen der Menschen beziehen sich vor allem auf drei Felder: Verstärkte Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt durch Zuzug von Arbeitskräften aus Osteuropa, Absenkung der Standards im Umweltbereich, Zunahme der Kriminalität bei offenen Grenzen. Diese Sorgen mögen im Einzelfall überzogen sein, aber dass es sie gibt, ist eine Tatsache. Wir dürfen und werden nicht über sie hinweggehen. Ich habe deshalb am 18. Dezember ein 5-Punkte-Konzept für eine siebenjährige Übergangsfrist zur Regelung der Arbeitnehmerfreizügigkeit vorgeschlagen.

Mein Vorschlag folgt dem Grundsatz: Kein Kandidatenland darf diskriminiert werden, Differenzierung aber muss möglich sein. Außerdem brauchen wir Flexibilität für die Mitgliedstaaten.

Eine derartige Übergangsregelung ist nichts Neues. Auch bei der Erweiterung der Union um Spanien und Portugal 1985 - wie zuvor im Fall Griechenlands - wurde eine siebenjährige Übergangsfrist bis zur Gewährung der vollen Arbeitnehmerfreizügigkeit beschlossen. Die Kommission wird noch im April ihren Vorschlag für einen gemeinsamen Standpunkt der 15 Mitgliedstaaten in dieser Frage vorlegen.

Ich habe beim Europäischen Rat in Stockholm darauf hingewiesen, dass die Frage der Arbeitnehmerfreizügigkeit für Deutschland essentiell ist und gehe fest davon aus, dass der Kommission dies bewusst ist.

Die Bundesregierung hat nie einen Zweifel daran gelassen, dass wir uns einen zügigen Abschluss der Beitrittsverhandlungen wünschen. Dabei darf es aber keine Abstriche auf Kosten der Qualität geben.

Jedes Verhandlungsergebnis muss der Realität standhalten. Wir werden deshalb einem gemeinsamen Standpunkt nur dann zustimmen, wenn die objektiven deutschen Belange in dieser Frage berücksichtigt sind.

Mit einer Übergangsfrist allein wird es im Übrigen nicht getan sein. Wir werden darüber hinaus mögliche Verwerfungen auf dem Arbeitsmarkt, speziell im grenznahen Bereich, mit Hilfe einer aktiven Arbeitsmarktpolitik abfedern müssen. Dabei wird der Qualifizierung ein großes Gewicht zukommen. Die Instrumente hierfür stehen bereit. Die Beitrittskandidaten ihrerseits drängen auf teils großzügige Übergangsfristen im Umweltbereich. Hierfür haben wir im Grundsatz Verständnis: Nicht alles, was über Jahrzehnte versäumt wurde, lässt sich von heute auf morgen nachholen.

Und nicht alles, was erledigt werden muss, ist notwendige Voraussetzung für das reibungslose Zusammenleben und Wirtschaften in einem Binnenmarkt. Als ein Beispiel nenne ich nur die kommunale Abwasserentsorgung. Zumal wir auch im Blick behalten müssen: Alles muss im Finanzrahmen der Agenda 2000 finanzierbar sein und darf auch die Haushalte der Beitrittskandidaten selbst nicht überstrapazieren. Andererseits werden wir als Anrainer und Nachbar nicht hinnehmen können, dass auf gerade für uns wichtigen Feldern wie etwa der Luftreinhaltung oder beim Gewässerschutz faule Kompromisse gemacht werden.

Ebenso wenig werden wir zulassen, dass es durch Unterlaufen der hohen Umweltstandards zum Umweltdumping bei den Produktionsbedingungen oder zum Mülltourismus in die Beitrittsländer kommt. Die Beitrittskandidaten unternehmen schon heute große Anstrengungen, um zu den europäischen Umweltstandards aufzuschließen. Dabei unterstützen wir sie nach Kräften.

Mit wachsendem Erfolg und zum Nutzen beider Seiten: Ob es sich nun um gemeinsame deutsch-polnische Abwasserkläranlagen handelt wie in Guben oder Swinemünde oder um das trilaterale Messnetz zur Überwachung der Luftqualität im Dreiländereck Deutschland, Polen und Tschechien, um nur zwei Beispiele zu nennen.

Die Regel, dass das Erreichen europäischer Standards uns ebenso wie den Beitrittskandidaten nützt, gilt auch für den dritten großen Bereich, auf den sich die Sorgen vieler Menschen richten: die Furcht vor ungeschützter Zuwanderung und vor einer Zunahme der Kriminalität bei Wegfall der Außengrenzen. Diese Frage müssen wir sehr sachlich diskutieren. Hier dürfen nicht Emotionen den Ausschlag geben, sondern Fakten. Zunächst gilt es festzuhalten: Das Problem der grenzüberschreitenden Kriminalität und der illegalen Zuwanderung haben wir schon heute. Und wir hätten es übrigens auch, wenn es die EU-Erweiterung gar nicht gäbe. Im Gegenteil: Würden wir uns dauerhaft nach Osten abschotten, wäre der Druck auf unsere Grenzen noch sehr viel höher. Zumal es - auch das muss festgestellt werden - ja nicht die Bürger aus den Beitrittsländern sind, die bei uns um Asyl nachsuchen.

Ich bin der festen Überzeugung, dass der Kampf gegen das moderne grenzüberschreitende Verbrechen nur auf europäischer Ebene zu gewinnen ist, wie auch eine Lösung für das Problem der illegalen Zuwanderung auf Dauer nur im europäischen Rahmen möglich sein wird. Diese Lösung wird um so wirksamer sein, desto umfassender wir die Beitrittskandidaten in unsere Anstrengungen einbeziehen.

Ein Unterlaufen der Standards, etwa bei den Außengrenzenkontrollen, werden wir nicht akzeptieren. Unsere Kontrollen an den Grenzen im Osten können erst fallen, wenn wir die absolute Gewähr haben, dass die neuen Mitgliedstaaten in der Lage sind, die europäischen Standards anzuwenden. Deshalb kann es in diesem Bereich auch keine Ausnahmeregeln und Übergangsfristen geben. Ich bin zuversichtlich, dass wir eine solche Diskussion mit den Kandidatenländern erst gar nicht führen müssen. Diese Länder selbst haben das größte Interesse daran, für ihre Bürger spürbare Verbesserungen auf dem Feld der inneren Sicherheit zu erreichen. Dabei werden wir sie auch in Zukunft massiv unterstützen.

Fazit kann also nur sein: Ob es nun um den Arbeitsmarkt, die Umwelt oder die innere Sicherheit geht, die meisten Probleme hätten wir auch ohne die Erweiterung der Europäischen Union. Dadurch aber, dass wir sie im europäischen Rahmen anpacken, werden wir unter dem Strich deutlich bessere Ergebnisse erzielen als durch nationale Alleingänge.

Meine Damen und Herren, Sie alle wissen: Die größten Anpassungsleistungen haben die Grenzregionen zu tragen. Zwar bieten die Erweiterung und mit ihr die Öffnung von Grenzen und Märkten gerade ihnen mittelfristig große Wachstumschancen, kurzfristig aber werden auf die Grenzregionen angesichts des erheblichen Wohlstands- und Lohngefälles zu den Nachbarn im Osten nicht unerhebliche Anpassungsschwierigkeiten zukommen.

Es wäre unredlich, wenn wir so tun würden, als ob wir den Grenzregionen diese Schwierigkeiten nehmen könnten. Aber ich bin sehr zuversichtlich, dass unsere Grenzregionen mit dieser Aufgabe fertig werden können. Schon heute finden wir dort viele Beispiele für erfolgreiche Eigeninitiative. Dieses Engagement verdient unser aller Unterstützung. Klar ist, dass die Grenzregionen im Anpassungsprozess der Erweiterung unserer Solidarität bedürfen. Um hier wirksam zu flankieren, brauchen wir vor allem eine nachhaltige Regionalpolitik.

Die Regionalpolitik wird - Sie alle wissen es - auf der europäischen, der nationalen und der Ebene der Länder gestaltet. Die Europäische Union unterstützt schon heute in erheblichem Umfang die regionale Entwicklung in Deutschland. Speziell die neuen Länder, aber auch die Grenzregionen Bayerns, profitieren von den Mitteln der Strukturfonds wie von der Gemeinschaftsinitiative INTERREG, die speziell auf grenzüberschreitende Maßnahmen abzielt. Dies ist nicht zuletzt ein Erfolg des Berliner EU-Gipfel vom März 1999. Und außerdem ist es in Nizza im vergangenen Dezember auf deutsche und österreichische Initiative erstmals gelungen eine gesonderte europäische Förderung der Grenzregionen einzufordern. Die Kommission ist jetzt am Zuge, geeignete Vorschläge vorzulegen. Daneben müssen die Mitgliedstaaten weiterhin die Möglichkeit haben, den regionalen Anpassungsdruck mit eigenen Mitteln aufzufangen. Das wird aber nur möglich sein, wenn die Kommission der Strukturpolitik der Mitgliedstaaten einen angemessenen Beihilfespielraum belässt.

In jedem Fall werden wir die bestehenden Instrumente zur Förderung von Investitionen der gewerblichen Wirtschaft und der wirtschaftsnahen Infrastruktur konsequent nutzen.

Allein im Rahmen der Gemeinschaftsaufgabe "Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur" stehen den vier Grenzländern Bayern, Mecklenburg-Vorpommern, Brandenburg und Sachsen Mittel in Höhe von 2,2 Milliarden Mark zur Verfügung.

Seit dem 1. Januar dieses Jahres haben wir außerdem die Zulagen für Investitionen in den ostdeutschen Grenzregionen erhöht. Dort liegen wir jetzt bei Fördersätzen von 15 Prozent für Großunternehmen und 27,5 Prozent für kleine und mittelständische Unternehmen. Dies sind die höchsten Fördersätze in Deutschland.

Eine zusätzliche Flankierung des Anpassungsprozesses kann durch eine stärkere Fokussierung, etwa der Verkehrs- oder Arbeitsmarktpolitik oder der Förderung von kleinen und mittleren Unternehmen auf die Grenzregionen erfolgen. Aber auch die Länder können einen noch größeren Beitrag leisten, indem sie insbesondere Schwerpunkte im Rahmen der Regionalförderung zugunsten der Grenzregionen setzen. Mit Geld allein aber ist es nicht getan: Wir müssen den Grenzregionen noch stärker als bisher das Gefühl vermitteln, dass sie nicht alleine stehen, und vor allem auch, dass wir auf ihre wertvollen Erfahrungen im Zusammenleben mit unseren Nachbarn in Polen oder Tschechien nicht verzichten können. Nicht zuletzt deshalb wird mich meine diesjährige Sommerreise in die Grenzregionen der neuen, aber auch der alten Länder führen.

Meine Damen und Herren, die Menschen in den Beitrittsländern erbringen erhebliche Anpassungsleistungen in Vorbereitung auf eine Mitgliedschaft in der Europäischen Union. Leistungen, die in ihrem Ausmaß bei uns wohl nur die Menschen in den ostdeutschen Ländern wirklich nachvollziehen können. Unsere Generation hat die einmalige und großartige Chance, diesen Kontinent, auf dem so unendlich viel Blut so vieler Völker vergossen wurde, zu einem Ort dauerhaften Friedens und der Wohlfahrt für die Menschen zu machen. Die Erweiterung ist gewiss nicht allein ein sozialdemokratisches Projekt. Unser Land als Ganzes und die Europäische Union insgesamt tragen für ihr Gelingen Verantwortung. Die Öffnung der Europäischen Union nach Mittel- und Südosteuropa wäre aber ohne die vorangegangenen Friedenspolitik Willy Brandts nicht denkbar. Im Prozess der Erweiterung findet das Lebenswerk Willy Brandts seine Vollendung. Es wächst zusammen, was zusammengehört. Deshalb fühlen wir Sozialdemokraten uns dem Projekt der Erweiterung besonders verpflichtet. Gehen wir es offensiv und engagiert an - und nehmen wir die Menschen auf dem Weg dorthin mit.

Europa und die Erweiterung brauchen die Unterstützung unserer Bürgerinnen und Bürger.