Redner(in): Monika Grütters
Datum: 01. März 2016

Untertitel: Was macht eine lebendige Erinnerungskultur aus? In ihrer Rede vor Studierenden und Lehrenden der US-amerikanischen Standford University ging Kulturstaatsministerin Grütters auf diese Frage ein. Es gehörte auch dazu, aufzustehen gegen Antisemitismus, Rassismus, Ausgrenzung und Fremdenhass, betonte Grütters.
Quelle (evtl. nicht mehr verfügbar): https://www.bundesregierung.de/Content/DE/Rede/2016/03/2016-03-01-gruetters-stanford-university.html


Was macht eine lebendige Erinnerungskultur aus? In ihrer Rede vor Studierenden und Lehrenden der US-amerikanischen Standford University ging Kulturstaatsministerin Grütters auf diese Frage ein. Es gehörte auch dazu, aufzustehen gegen Antisemitismus, Rassismus, Ausgrenzung und Fremdenhass, betonte Grütters.

In Stanford zu studieren, wo die "Luft der Freiheit weht", davon träumen auch in Deutschland viele junge Leute.

Wenn man sich darauf keine Hoffnungen mehr machen kann, so wie ich, dann gibt es nur eines, was darüber hinweg trösten kann: nämlich in Stanford einen Vortrag halten zu dürfen.

Vielen Dank für die freundliche Einladung, lieber Herr Prof. Naimark!

Ihre Arbeiten zur osteuropäischen Geschichte, zur Zeit des Stalinismus und zur Geschichte der Zwangsmigrationen tragen zum weltweit hohen Ansehen der Stanford University bei. Es ist mir eine Ehre, mit Ihnen und Ihren Studentinnen und Studenten heute über die deutsche Erinnerungskultur zu diskutieren - und über die Frage, was eine lebendige Erinnerungskultur ausmacht. Die Luft der Freiheit weht " : Ja, heute kann man wieder an Deutschland denken, wenn man diesen schönen Satz des Humanisten Ulrich von Hutten hier in Stanford als Universitätsmotto liest. Doch Deutschlands Weg zur Freiheit, zu Demokratie und Rechtsstaatlichkeit war lang, steil und steinig. Er war geprägt von Rückschlägen und Irrwegen. Und er führte im 20. Jahrhundert durch den dunkelsten Abgrund der Geschichte, der auch hier in den USA sichtbar und gegenwärtig ist.

Das United States Holocaust Memorial Museum in Washington, das ich über-morgen besichtigen werde, führt uns die Shoa vor Augen. Das Schicksal der Emigranten, die Zuflucht in den USA gefunden haben - darunter zum Beispiel der Historiker Fritz Stern - offenbart, was Deutschland mit der Ausgrenzung der deutschen Juden verloren hat. Gedenkorte für die GIs, die für die Befreiung Europas vom Nationalsozialismus ihr Leben gegeben haben, zeigen, wie hoch der Einsatz der USA für die Freiheit im Zweiten Weltkrieg war.

Nicht zuletzt mit Blick auf die Abgründe der eigenen Geschichte kommt der Erinnerungskultur innerhalb der deutschen Kulturpolitik eine Sonderrolle zu, und zwar insofern, als die Politik sich hier nicht auf die Verantwortung nur für die Rahmenbedingungen - den Grundsatz unserer Kulturpolitik generell - zurückziehen darf, sondern den Gegenstand selbst prägt. Nationales Erinnern und Gedenken lassen sich natürlich nicht amtlich verordnen; sie sind aber auch nicht rein bürgerschaftlich zu bewältigen. Erinnerungskultur ist deshalb immer auch eine öffentliche Angelegenheit - das heißt in staatlicher Gesamtverantwortung. Hier berühren wir Fragen des Selbstverständnisses unserer Nation. Wir formulieren den Anspruch, auch moralisch angemessen mit der eigenen Geschichte umzugehen und nicht zuletzt dadurch ein Fundament für die Gegenwart und Zukunft zu legen.

Die Erinnerung an den systematischen Völkermord an den europäischen Juden als Menschheitsverbrechen bisher nicht gekannten Ausmaßes, an die Schrecken und Gräuel, die unter der nationalsozialistischen Terrorherrschaft in deutschem Namen geschehen sind - diese Erinnerung bleibt für uns Deutsche eine immerwährende Verantwortung und Verpflichtung. Wir sind dankbar, dass Holocaust-Überlebende in den sieben Jahrzehnten, die seit der Befreiung von Auschwitz vergangen sind, Worte gefunden haben für Erfahrungen, die alle normalen Maßstäbe des Denk- und Vorstellbaren sprengen. Denn ihre Worte haben dazu beigetragen, hinter der schrecklich- nüchternen Bilanz des millionenfachen Mordes den einzelnen Menschen sichtbar zu machen: Menschen, denen die Nationalsozialisten alles genommen haben bis auf ihr Leben; Menschen, die Eltern, Kinder und Geschwister verloren haben; Menschen, die ihrer Heimat, ihrer Zukunftsträume, ihrer Lebensfreude, ihrer Würde beraubt wurden; Menschen, die an dem Leid, das man ihnen zugefügt hat, seelisch zerbrochen sind.

Je weniger Holocaust-Überlebende es gibt, die uns ihre Geschichte erzählen können, desto schwieriger wird die Annäherung an das Unfassbare, und desto wichtiger werden die authentischen Gedenkorte, um deren Erhalt sich Bund und Länder in Deutschland gemeinsam kümmern. Wir erhalten insbesondere Konzentrationslager als Zeitzeugnisse für künftige Generationen. Auch zahlreiche Museen und Denkmäler - etwa das Denkmal für die ermordeten Juden Europas im Herzen der Hauptstadt Berlin - legen Zeugnis ab von der Singularität des Holocaust, dem systematischen, auf völlige Vernichtung zielenden Völkermord an sechs Millionen Juden als Menschheitsverbrechen bisher nicht gekannten Ausmaßes.

Zum Erbe des wiedervereinigten Deutschlands zählt aber auch die SED-Diktatur in der ehemaligen DDR. Während im Westen Deutschlands nach 1945 der Aufbau eines demokratischen Rechtsstaats gelang, entstand in der Sowjetischen Besatzungszone eine kommunistische Diktatur.

Für uns, die wir in Freiheit aufgewachsen sind, ist es kaum vorstellbar, wie das allgegenwärtige, menschenverachtende System des Ministeriums für Staatssicherheit im Auftrag der Staatspartei mit seinen Spitzeln ins Leben jedes Einzelnen eindrang - in Betriebe, Universitäten, Sportvereine, Kirchen-gemeinden, ja selbst in den privatesten Kreis der Familie. Für uns ist es kaum vorstellbar, wie zermürbend die Bespitzelung und die Schikanen im Alltag waren, die Verunsicherung und die Angst - denn die Denunzianten im engmaschigen Überwachungsnetz der Staatssicherheit waren Bekannte, Nachbarn, manchmal engste Freunde und Vertraute. Es gab willkürliche und politisch motivierte Verhaftungen, Gerichtsverfahren ohne rechtsstaatliche Standards und oft langjährige Haftstrafen. An der Berliner Mauer und an der innerdeutschen Grenze bezahlten zahlreiche Flüchtlinge für ihre Hoffnung auf ein Leben in Freiheit mit ihrem Leben. Auch daran erinnern in Deutschland zahlreiche Gedenkstätten und Erinnerungsorte, Museen und Ausstellungen - beispielsweise die Gedenkstätte Berliner Mauer, das ehemalige Stasi-Gefängnis in Berlin-Hohenschönhausen oder auch die Gedenkstätte "Point Alpha", einst Beobachtungsstation der amerikanischen Streitkräfte an der ehemaligen deutsch-deutschen Grenze zwischen Hessen und Thüringen.

Sieben Jahrzehnte nach Ende des Zweiten Weltkriegs und gut ein Vierteljahrhundert nach der Wiedervereinigung Deutschlands gehört die offene und schonungslose Auseinandersetzung mit den Menschheitsverbrechen der Nationalsozialisten, mit den Erfahrungen zweier Diktaturen und mit der Verantwortung, die daraus erwächst, zu den hart erkämpften, moralischen Errungenschaften unseres Landes. Dennoch erleben wir nach wie vor, wie schwierig es ist, Vergangenheit aufzuarbeiten und dabei unterschiedlichen Perspektiven und Erfahrungen, unterschiedlichen historischen Erzählungen wie auch unterschiedlichen persönlichen Geschichten gerecht zu werden. Geschichte vergeht ja nicht einfach. Die Art und Weise, wie wir sie erzählend vergegenwärtigen, prägt zum einen unsere Sicht auf die Gegenwart und damit auch unser Bild von uns selbst und unserer Zukunft. Der deutsche Soziologe Max Weber hat moderne Nationen deshalb einmal als "Erinnerungsgemeinschaften" bezeichnet, und wir sehen auf europäischer Ebene, wie es schwer Verständnis und Verständigung zwischen unterschiedlichen "Erinnerungsgemeinschaften" häufig sind.

Zum anderen sind historische Erzählungen immer auch Kristallisationspunkte sehr unterschiedlicher, vielfach leidvoller individueller Erfahrungen und Erinnerungen. Auch unter Deutschen hat es unzählige zivile Opfer gegeben, und auch sie beanspruchen Raum in unserer Auseinandersetzung mit der Vergangenheit. Die Erinnerung an Flucht und Vertreibung ist dafür ein gutes Beispiel. Seit 2008 gibt es die "Stiftung Flucht, Vertreibung, Versöhnung" mit dem gesetzlichen Auftrag, - ich zitiere - "im Geiste der Versöhnung die Erinnerung und das Gedenken an Flucht und Vertreibung im 20. Jahrhundert im historischen Kontext des Zweiten Weltkriegs und der nationalsozialistischen Expansions- und Vernichtungspolitik und ihrer Folgen wachzuhalten."

Das geht nicht ohne Irritationen und hier und da auch hitzige öffentliche Debatten. Es ist Teil demokratischer Aufarbeitung der Vergangenheit, solche Konflikte zuzulassen und sichtbar zu machen, so schmerzhaft das auch ist.

Ich bin Ihnen, lieber Herr Prof. Naimark, sehr dankbar, dass Sie als Mitglied im Wissenschaftlichen Beraterkreis Ihre Expertise in den Aufbau der Stiftung eingebracht haben und hoffe, dass Sie uns - und auch die neue Direktorin Frau Dr. Bavendamm, bisher Direktorin des Alliiertenmuseums - weiterhin unterstützen.

Meine Hoffnung ist, dass der Erfahrungsschatz der deutschen Vertriebenen uns auch in besonderer Weise fähig macht zur Empathie mit Menschen, die heute Zuflucht suchen in Deutschland. Auch wenn man die Flucht aus Syrien, Irak oder Afghanistan aus vielerlei Gründen nicht mit der Vertreibung aus Ostpreußen, Schlesien oder Pommern vergleichen kann, so sind die Erfahrungen entwurzelter und ihrer Heimat beraubter Menschen doch vielfach ähnlich, heute wie damals.

Was also macht eine lebendige Erinnerungskultur aus?

Das nationale Gedächtnis sollte zunächst einmal natürlich auf historischen Fakten beruhen, nicht auf Geschichtsklitterung, Legendenbildung, unzulässigen Vereinfachungen oder politischen Deutungsmonopolen. Unverzichtbar für das Offenlegen der Wahrheit ist deshalb neben wissenschaftlicher Expertise ein öffentlicher und kontroverser Diskurs, in dem unterschiedliche subjektive Wahrnehmungen von Betroffenen und Zeitzeugen genauso ihren Platz haben wie die ganze Bandbreite wissenschaftlicher Arbeiten und publizistischer Meinungsäußerungen. Deshalb braucht es einen "geschützter Raum für den Strom der Erzählungen", so hat es der deutsche Historiker Karl Schlögel einmal formuliert. Das bedeutet, ich zitiere weiter: eine "Sphäre von Öffentlichkeit, die den Pressionen von außen, von gleich wem standhält, und sich die Freiheit bewahrt und die Zumutungen aushält, die in den Erzählungen präzedenzlosen Unglücks im Europa des 20. Jahrhunderts enthalten sind." Diesen geschützten Raum für den Strom der Erzählungen zu schaffen und zu verteidigen, ist Teil einer lebendigen Erinnerungskultur. Dahinter steht die aus unseren Erfahrungen mit der Diktatur des Nationalsozialismus gewonnene Überzeugung, dass Meinungsvielfalt, eine kritische, informierte Öffentlichkeit und ein lebendiger Diskurs die stärksten Garanten sind für Demokratie und gegen staatliche Willkür. Und ich finde, man kann die Reife einer Demokratie gut daran erkennen, wie weit sie die Entwicklung von Geschichtsbildern dem öffentlichen Diskurs anvertraut.

Zu einer lebendigen Erinnerungskultur gehört nicht zuletzt aber auch, aufzustehen gegen Antisemitismus, Rassismus, Ausgrenzung und Fremdenhass, wo immer wir ihn erleben. Erinnern heißt, nicht schweigen zu können, wenn Hass gegen Juden oder Moslems, gegen Flüchtlinge und Einwanderer geschürt wird. Erinnern heißt, sich niemals zurück zu ziehen auf die ebenso bequeme wie verantwortungslose Haltung, dass es auf die eigene Stimme, auf das eigene Handeln nicht ankommt! Das Gegenteil ist richtig: Auf jeden einzelnen kommt es an! Vergessen wir nicht: Erst das Schweigen der Mehrheit machte in Deutschland die so genannte "Endlösung der Judenfrage" möglich, die europaweite, systematische Organisation des Völkermords, die vor 74 Jahren im Rahmen der Wannsee-Konferenz besprochen und beschlossen wurde. Das mutige und beherzte Engagement einiger weniger dagegen hat im Dritten Reich Leben gerettet und in einem geistig und moralisch verwüsteten Land Inseln der Menschlichkeit bewahrt.

Um das Motto der Stanford-University noch einmal aufzugreifen: "Die Luft der Freiheit weht" nur dort, wo Menschen bereit sind, für die Freiheit aufzustehen und einzustehen. Unsere Erinnerungskultur kann - und sie sollte! - dazu beitragen.