Redner(in): Gerhard Schröder
Datum: 02.05.2001

Anrede: Sehr geehrter Herr Bundestagspräsident, sehr verehrte Frau Präsidentin des Bundesverfassungsgerichts, verehrter, lieber Helmut Schmidt, sehr geehrter Herr Schultes, sehr geehrte Frau Frank, meine sehr verehrten Damen und Herren,
Quelle (evtl. nicht mehr verfügbar): http://archiv.bundesregierung.de/bpaexport/rede/63/39863/multi.htm


ich möchte zuerst das Wort an Sie, liebe Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, richten. In den vergangenen Tagen und Wochen ist viel über Architektur geredet, geschrieben und auch viel kritisiert worden. Es ist heftig über die Amts- und Repräsentationsräume des Bundeskanzlers und über die Anmutung dieses imposanten Bauwerkes in der Hauptstadt Berlin diskutiert worden. Diese Diskussion war ebenso gut wie notwendig. Von Ihnen aber, die Sie ab heute hier arbeiten und damit in gewisser Weise auch leben werden, war dabei eher selten die Rede.

Wir haben in letzter Zeit eine Diskussion erlebt, die nach meiner Ansicht in zwei Richtungen ein wenig an der Sache vorbeigeht. Die Form folge der Funktion, sagen die einen - und leiten daraus ihre Kritik ab. In diesem Neubau werde zu viel inszeniert und zu wenig funktional gedacht. Dieses Gebäude sei nicht bloß ein Gebäude, sagen die anderen, sondern ein Statement, eine Selbstrepräsentation unseres Landes, gerade so, als sei das Kanzleramt vor allen Dingen Symbol. Dieser Argumentation muss ich widersprechen. Die deutsche Demokratie manifestiert sich, wenn das überhaupt an Bauwerken festzumachen ist, hier gegenüber, im Reichstagsgebäude, in dem der demokratisch gewählte Deutsche Bundestag seine Arbeit macht.

Im Kern aber führt der ganze Streit zu gar nichts, weil er das Wichtigste nicht im Blick hat, nämlich Sie, die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, also die Menschen, die hier arbeiten. Von Ihnen oder - sagen wir es ruhig - von uns und denen, die danach kommen, wird es abhängen, wie dieses Kanzleramt von den Bürgerinnen und Bürgern in Deutschland, aber auch im Ausland wahrgenommen wird. Da geht es dann nicht in erster Linie um Architektur, sondern um die Arbeitsinhalte, die hier produziert werden. Obwohl ich durch die Berichterstattung in den letzten Tagen manchmal den Eindruck hatte, als würden wir heute ganz von vorne anfangen, bin ich doch ziemlich sicher: Wir werden in diesem Gebäude genauso gut sein, wie wir es in den früheren Amtssitzen dieser Regierung gewesen sind, und wir werden und wollen alles daran setzen, noch besser zu werden. Die neue Umgebung mit den Innenhöfen und den Wintergärten wird unsere Kreativität jedenfalls nicht behindern, sondern - da stimme ich dem Architekten zu - sie wird sie befördern.

Mit dem heutigen Einzug und der Schlüsselübergabe ist nicht nur das Ende auf dem langen Weg zur Fertigstellung des neuen Bundeskanzleramtes erreicht. Mit dem heutigen Tag ist auch der Regierungsumzug nach Berlin abgeschlossen. Das ist ein Moment, in dem wir den für diese gewaltige Operation Zuständigen danken sollten - angefangen von Klaus Töpfer bis hin zu Kurt Bodewig sowie der Bundesbaugesellschaft, vor allem aber den vielen Arbeitern, den Handwerkern, also den "Leuten vom Bau", und nicht zuletzt all den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des inneren Dienstes, der Informations- und Sicherheitstechnik - , die diesen Umzug so reibungslos möglich gemacht haben und die - das sage ich mit Dankbarkeit und viel Respekt - manches Wochenende drangegeben haben, und das freiwillig.

Die Vollendung des Regierungsumzuges sollte ein Anlass ein, einen Augenblick über die Gestaltung der neuen Hauptstadt und ihrer Regierungsbauten nachzudenken. Eines will ich gleich vorweg sagen: Nichts ist hier endgültig. Welches Urteil sich die Menschen einmal auch über dieses Kanzleramt bilden werden, wird in erster Linie von der Politik, vom Stil der Regierung, unserer Regierung, aber auch künftiger Regierungen, abhängen. Aber auch was die Baulichkeiten angeht, bleiben die Dinge im Fluss. Die Menschen werden vieles, was heute noch Baustelle ist, so oder so in ihr eigenes Stadtbild integrieren. Wir alle wissen heute noch nicht, wie das Ensemble aus Kanzleramt, Abgeordnetenbauten und Lehrter Stadtbahnhof einmal wirken wird. Deswegen sollte ein gewisses Maß an Offenheit - da ist den Architekten Recht zu geben - gewährleistet sein. Das ist die Schwierigkeit bei allen Planungen. Sie müssen immer so auftreten, als seien sie für die Ewigkeit gemacht, dabei wissen wir zu genau, dass sich Gebäude und urbane Konstruktionen durch die tägliche Aneignung auch ein bisschen verändern.

Eines kann man den Entwürfen von Axel Schultes und Charlotte Frank ganz gewiss nicht vorwerfen, nämlich dass sie geschichtsvergessen wären. Dem, wenn man so will, demokratischen Bauauftrag nach Öffentlichkeit, nach Transparenz, nach Kommunikation, ja nach Begegnung ist wirklich in hervorragender, in großzügiger Weise genügt worden. Das tragende Element dieses Entwurfes ist das so genannte Band des Bundes, eine stadträumliche Idee, die sich sowohl historisch als auch politisch sehr gut deuten lässt.

Dieses Band des Bundes sollte sich wie ein Verband über Wunden legen, die einst die Stadthälften getrennt hatten. Hier im Spreebogen wollte Hitler einst das Kultzentrum seiner projektierten Reichshauptstadt errichten. Der geplante Kuppelbau hätte - ganz im Sinne des Diktators - den Reichstag gleichsam zur Hundehütte herabgewürdigt. Von dort aus sollte eine bombastische Aufmarschallee entstehen: 120 Meter breit, mehrere Kilometer lang, nach Süden von Kolossalbauten gesäumt. Man muss sich das heute noch einmal vor Augen führen: Diese bombastische Rollbahn des Bösen, so hat es ein kluger Kritiker genannt, ist erst durch das Band des Bundes endgültig überwunden. Eine große Leistung, wie ich denke.

Wo Hitler und Speer einen Nord-Süd-Strang durch die Stadt treiben wollten, stellt der Ost-West-Gebäuderiegel im Band des Bundes eine sichtbare Verbindung zwischen den ehemals getrennten Stadtteilen her. Die Mauer des Kalten Krieges wird so durch ein Band der Einheit ersetzt - so habe ich es jedenfalls verstanden. Dieser Entwurf setzt historische Erkenntnis und politischen Auftrag ohne jede Frage beispielhaft um.

Das Bundeskanzleramt ist wirklich ein prächtiger, ein beeindruckender Bau. Das Besondere an ihm ist, dass er viele Gesichter besitzt, Gesichter, die sich erst zeigen, wenn man das Gebäude von außen und von innen betrachtet hat. So präsentieren sich die Seitenflügel streng und diszipliniert, wirkt der Leitungsbau bisweilen undiszipliniert und verspielt, erfreut sich barocker Formenlust - für wen auch immer.

Sie ahnen natürlich schon, dass jetzt ein "Aber" kommt. Etwas anderes wäre der Debatte auch nicht gerecht geworden. Also kommt es. Doch dieses "Aber" hat nichts mit Architektenschelte zu tun. Ich möchte es mir auch nicht so leicht machen und sagen: "Das habe ja nicht ich in Auftrag gegeben." Meine Zweifel haben mit Zwängen zu tun, mit Zwängen, die sich bei der Verteilung der Funktionen auf die ungleichen Hälften in diesem Band des Bundes ergeben haben. So musste das Haus für die Abgeordneten, das deutlich mehr Nutzfläche beansprucht, im östlichen Abschnitt untergebracht werden, weil das näher am Reichstag liegt. Damit aber hatte das Band des Bundes im Westtrakt plötzlich enorm viel Raum zur Verfügung, den die Architekten nun mit Kanzlergarten und Kanzlerpark - so heißt das jedenfalls - und auf der Vorderseite mit dem Großen Ehrenhof ausgefüllt haben. Das sah im Modell gut aus, in der Wirklichkeit allerdings haben manche Dimensionen dann doch eine andere Wirkung. Ich finde, das sollte Kern der Diskussion sein.

Wir beziehen heute nicht - und das ist wirklich gut so - Sanssouci oder Neuschwanstein. Von hier aus wird nicht geherrscht, sondern von hier aus wird regiert. Das ist durchaus etwas anderes. Ich habe in der Tat gesagt, dass mir der Bau wuchtig erscheine, in seiner Gesamtheit vielleicht ein bisschen zu groß für seinen Platz in der Mitte der Hauptstadt. Aber wenn manche Kritiker schon heute ausmalen, der Bundeskanzler könnte Skylobby, Galerie und Freitreppen zu Auftritten nutzen wie sonst nur Show- und Filmstars, kann ich nur dringend empfehlen: Lasst uns den Ball flachhalten. Und meine Scheu vor Auftritten und Publicity ist ja sprichwörtlich. - Am Ende entscheiden die Regierenden und die Regierten darüber, was dieser Bau ist und wie er wahrgenommen wird. Das ist auch gut so.

Wir alle leisten hier eine Arbeit, mit der uns die Bundesbürger, die Wählerinnen und Wähler beauftragt haben. Das Bundeskanzleramt ist daher auch kein pathetischer Ort. Es ist kein Platz der großen Geste. Wir wollen gerade in dieser Stadt, in der die Menschen durch ihre friedliche Revolution die schmerzliche Teilung Europas überwunden haben, unseren europäischen Nachbarn, aber nicht nur denen, unter Beweis stellen, dass wir gute Nachbarn, verlässliche Freunde und selbstbewusste, vertrauenswürdige Partner sind. Dazu brauchen wir kein großes oder kein kleines Kanzleramt. Unser Selbstbewusstsein als erwachsene Nation, die nicht über, aber auch nicht unter anderen Völkern stehen möchte, müssen wir nicht in Stein meißeln.

Wo der eine oder andere das Gefühl hat, die neue Umgebung werde den funktionalen Anforderungen nicht gerecht, wird er das zu ändern versuchen, wird er sich einrichten. Wo wir unser Land der Welt präsentieren wollen, werden wir das hier in der Mitte Berlins, in Sichtweite des Parlaments, mit dem Tiergarten im Rücken und mit dem Haus der Kulturen der Welt als Nachbarn vorzüglich leisten können. Das ist durchaus als Kompliment an die Architekten gedacht.

Feiern wollen wir heute nicht beziehungsweise noch nicht. Das tun wir am 1. September. Dann werden wir einen Tag der offenen Tür machen. Dann werden sich die Menschen in Berlin und von außerhalb ihr eigenes Bild machen können. Übrigens wird das Kabinett gleich im Anschluss an diese kleine Feierstunde völlig unpathetisch zu seiner ersten Arbeitssitzung im neuen Haus zusammenkommen. Ich weiß jetzt schon: Das wird in dem Bewusstsein geschehen: Dieses Land, unser Land, zeichnet sich vor allem durch die Qualität seiner Demokratie aus.

Ich wünsche Ihnen und uns allen eine gute Zeit in diesem neuen Haus, gutes Regieren, kreative Ideen und Verantwortung gegenüber den Menschen, die uns hierhin entsandt haben. Also: An die Arbeit!