Redner(in): k.A.
Datum: 03.05.2001

Untertitel: Rede des Bundesministers des Auswärtigen Joschka Fischer anlässlich der Jahrestagung des American Jewish Committee am 3. Mai 2001 in Washington, D.C.
Anrede: Herr Vorsitzender, Herr Präsident, lieber Shimon Peres, Herr Präsident Ramer, liebe Freunde und Mitglieder des American Jewish Committee, meine Damen und Herren,
Quelle (evtl. nicht mehr verfügbar): http://archiv.bundesregierung.de/bpaexport/rede/35/38835/multi.htm


es ist für mich eine große Ehre, heute Abend hier zu sein. Die Vereinigten Staaten haben mehr als jeder andere Staat dazu beigetragen, dass Deutschland nach dem furchtbarsten Kapital seiner Geschichte, dem Holocaust, den Weg zurück in die Staatengemeinschaft fand. Amerikas politische Weitsicht und Großzügigkeit haben entscheidend dazu beigetragen, dass in Deutschland nach dem Krieg eine demokratische Gesellschaft herangewachsen ist, die sich ihrer Vergangenheit stellt und Lehren daraus zieht, um eine bessere Zukunft zu gestalten. Die fortdauernde Präsenz Amerikas in Europa seit 1945 hat zu zwei äußerst bemerkenswerten Entwicklungen auf dem Kontinent beigetragen: dem großen Friedensprojekt der europäischen Einigung, dem Deutschland die Aussöhung mit seinen Nachbarn verdankt, und der friedlichen Verwirklichung der deutschen Einheit. Der Historiker Fritz Stern, der in Breslau geboren wurde und 1938 in den Vereinigten Staaten Zuflucht vor den Nazis fand, hat mit Blick auf die Wiedervereinigung von einer "zweiten Chance" Deutschlands gesprochen. Laut Stern soll Deutschland "sein Streben für den Frieden und die Vernunft einsetzen, dass es nicht nur rhetorisch Europa beschwört, sondern auch hilft, es realistisch zu verwirklichen". Die Vollendung der europäischen Integration ist in der Tat die höchste Priorität der deutschen Außenpolitik. Denn sie ist die definitive Antwort auf die "deutsche Frage", die so viel Leid über unsere Nachbarn und die Welt und auch über uns selbst gebracht hat. Deutschland findet jetzt als demokratischer Staat seinen Platz in allseits anerkannten Grenzen in einem sich einigenden, freien Europa. Wie aber steht es um eine "zweite Chance" im Verhältnis Deutschlands und der Deutschen zum jüdischen Volk? Und wie gehen wir mit ihr um? Erinnerung betrifft die Opfer, Erinnerung betrifft auch uns. Vor allem trauern wir um die sechs Millionen Söhne und Töchter des jüdischen Volkes. Wir trauern damit auch um viele unserer Landsleute. Albert Einstein, Lion Feuchtwanger, Kurt Weill und Fritz Stern sie alle waren, wie Hunderttausende andere, Deutsche und Juden zugleich, Deutsche im besten Sinne des Wortes. Es war der Rassenwahn der Nazis, der dazwischen einen tödlichen Abgrund aufriss. Sie vernichteten eine jahrhundertealte, blühende deutsche und europäische Kultur. Die entstandene Lücke ist bis heute schmerzlich spürbar gerade dort, wo ich lebe: im alten jüdischen Viertel von Berlin, der Stadt Moses Mendelssohns, der nicht weit von meiner Wohnung auf dem alten jüdischen Friedhof begraben liegt. Unser Land und unsere Kultur sind ärmer geworden seither, und uns Nachgeborenen bleibt eine Mischung aus Zorn und Scham über die Schandtaten Nazi-Deutschlands. Das Holocaust-Mahnmal in der Mitte Berlins wird deshalb auch Symbol sein für diesen Verlust, für diese schmerzende Leerstelle in der deutschen Kultur, die uns die Barbarei jener Zeit hinterlassen hat. Die Ursprünge und die Identität der Bundesrepublik Deutschland können bis zum heutigen Tag nur vor diesem Hintergrund der Verantwortung Deutschlands für den Holocaust verstanden werden. Die Erinnerung an dieses Verbrechen gegen die Menschlichkeit und die sich daraus ergebenden Verpflichtungen werden die deutsche Politik auch weiterhin bestimmen. Dank Amerikas Engagement und Entschlossenheit ist die Stadt Berlin im Kalten Krieg zum Symbol für die Freiheit geworden. Und heute, zehn Jahre nach der deutschen Einheit, ist die jüdische Gemeinde in Berlin die am schnellsten wachsende in ganz Europa. 11.000 jüdische Mitbürger, viele von ihnen aus der ehemaligen Sowjetunion zugewandert, bemühen sich in der deutschen Hauptstadt um den Aufbau des jüdischen Gemeindelebens. Neue jüdische Schulen entstehen, Seminare zur Ausbildung von Rabbinern werden eröffnet. Wir wollen, dass die jüdischen Gemeinden in Deutschland weiterwachsen und fester Bestandteil unseres gesellschaftlichen Lebens sind. Erst wenn jüdische Mitbürger in Deutschland sicher und frei leben können, ist Hitlers schrecklicher Antisemitismus endgültig gescheitert. Erst dann haben wir diese "zweite Chance" wirklich genutzt. Ich kann und will nicht verschweigen, dass wir dieses Ziel noch nicht ganz erreicht haben, auch wenn die deutsche Demokratie einen weiten Weg hinter sich hat. Antisemitische und rassistische Angriffe kommen immer noch vor und ihre Zahl hat im vergangenen Jahr zu unserer großen Sorge deutlich zugenommen. Die Antwort des deutschen Staates, der Justiz und der großen Mehrheit der Gesellschaft ist eindeutig und entschlossen: Nie wieder werden wir akzeptieren, dass Menschen aufgrund ihrer Religion, ihrer Hautfarbe oder ihrer Herkunft ausgegrenzt und verfolgt werden. Diese Angriffe richten sich nicht nur gegen die Schwachen, sondern gegen die deutsche Demokratie und den elementaren Grundsatz der Unantastbarkeit der Menschenwürde, auf dem sie aufbaut. Hinter der Frage, ob Juden in Deutschland als gleichberechtigte Bürger in unserer Gesellschaft sicher leben können, verbirgt sich zugleich die Frage nach der deutschen Identität. Außenpolitisch hat die "deutsche Frage" ihre definitive Antwort gefunden. Aber hat sie dies auch im Innern? Seit Jahrzehnten wandern Menschen aus Deutschland aus viele von ihnen in die Vereinigten Staaten. Unsere alternde Gesellschaft steht vor einem tiefen Umbruch. Berlin ist bereits eine wirklich multikulturelle Stadt sie ist übrigens die "größte türkische Stadt westlich von Istanbul" mit über 100.000 Türken und Deutschen türkischer Abstammung. Wir werden in den kommenden Jahren in großem Umfang auf Zuwanderung angewiesen sein. Die Deutschen werden sich erst jetzt angesichts der dramatischen demographischen Entwicklung dieser Tatsache bewusst. Wie gehen wir mit diesen Zuwanderern um? Wie wollen wir sie integrieren? Werden wir die ethnische Selbstdefinition des späten 19. Jahrhunderts, wer Deutscher ist, endgültig ad acta legen und Deutschlands Umgestaltung zu einem Einwanderungsland akzeptieren? Diese Fragen sind für unsere Zukunft von grundlegender Bedeutung. Wie es uns gelingt, das Wachsen der jüdischen Gemeinden bei uns zu fördern und zu unterstützen, ist ein Gradmesser für unsere Fähigkeit, eine offene und tolerante Gesellschaft zu schaffen nicht nur am 9. November und am Jahrestag der Befreiung von Auschwitz. Wir sind, dessen können Sie gewiss sein, entschlossen, diese "zweite Chance" zu nutzen. Deutschlands moralische Verantwortung hat jedoch nicht nur einen innenpolitischen Kontext. Deshalb hat Bundeskanzler Schröder die Initiative für die Stiftung "Erinnerung, Verantwortung, Zukunft" ergriffen. Die Stiftung soll das Unrecht und Leid anerkennen, das jenen Millionen Menschen zugefügt wurde, die während des Deutschen Reichs Sklaven- und Zwangsarbeit leisten mussten. Diese Anerkennung kommt zu spät für jene, die Verschleppung, Entrechtung und systematische Vernichtung durch Arbeit nicht überlebten. Zu spät auch für die vielen, die seither starben. Ich hoffe aber sehr, dass wir nach den quälenden Verzögerungen der letzten Monate bald die ersehnte Nachricht verkünden können, dass alle verbleibenden Hindernisse aus dem Weg geräumt sind. Präsident Bush und Bundeskanzler Schröder haben vor wenigen Wochen erneut ihren Willen bekräftigt, dass diese Geste die Opfer rasch erreichen soll. Die moralische Verpflichtung der Erinnerung an den Holocaust prägt auch Deutschlands Außenpolitik. Wir unterstützen entschieden das Existenzrecht Israels und das Recht seiner Bürger, in sicheren Grenzen und im Frieden mit seinen Nachbarn zu leben. Diese Unterstützung ist heute und in Zukunft ein Eckpfeiler der deutschen Außenpolitik. Diese Position ist nicht zu relativieren und wird auch künftig den einzigartigen Charakter unserer Beziehungen zu Israel bestimmen. Wir vertreten sie mit Nachdruck in allen multilateralen und internationalen Institutionen. Wir vertreten sie in aller Offenheit auch gegenüber Ländern, die Israel feindlich gesonnen sind. Manche hier im Saal wissen dies aus vielen vertraulichen Gesprächen. Über die Jahrzehnte hinweg ist aus moralischer Verantwortung gegenüber Israel eine umfassende und sehr praktische Zusammenarbeit geworden. Roger Cohen hat diese Partnerschaft in der New York Times neulich als "a curious friendship" bezeichnet: in Wirtschaft und Wissenschaft, in der Forschung und im Jugendaustausch, aber auch in allen Fragen, die Israels Sicherheit betreffen, ist ein dichtes Beziehungsnetz gewachsen, das Deutschland heute viele von Ihnen wissen das zum wichtigsten Partner Israels nach den Vereinigten Staaten macht. Es steht einem Deutschen kaum zu, von sich aus das Wort "Freundschaft" für diese Beziehung zu verwenden. Aber gerade weil wir Israel so eng verbunden sind, sehen wir die gegenwärtige Entwicklung im Nahen Osten mit sehr großer Sorge. Bestürzt verfolgen wir die täglichen Bilder von Terror und Gewalt. Bestürzt sind wir auch, weil trotz all der Opfer die Agenda der zu lösenden Probleme die gleiche bleibt. Ich fürchte, dass Jahre verloren gehen und sich Tragödien ereignen werden, und man am Ende eines Tages an demselben Tisch wieder Platz nehmen und die Verhandlungen zur Lösung derselben alten Fragen fortführen wird. Verantwortung und Vernunft gebieten es, Terror und Gewalt schnellstmöglich zu beenden und an den Verhandlungstisch zurückzukehren. Wir begrüßen und unterstützen deshalb die gegenwärtigen Bemühungen auch von Shimon Peres in Washington, auf der Grundlage der ägyptisch-jordanischen Vorschläge den Weg zurück an den Verhandlungstisch zu ebnen. Mit Empörung haben wir die Aufrufe zu immer neuem Terror vernommen, die vergangene Woche von einer Konferenz aus Teheran zu hören waren. Wir verurteilen diese Aufrufe und die dahinter stehende verantwortungslose Haltung aufs Schärfste. Herr Präsident, meine Damen und Herren, Deutschland ist mit seinen Partnern in der Europäischen Union bereit, an der Seite der USA alles zu tun, um den gefährlichen Stillstand im Friedensprozess zu überwinden. In Europa gelang es uns mit vereinten Kräften, den Frieden dauerhaft zu sichern. Aber in dem Maße, in dem die transatlantische Partnerschaft über das Projekt der europäischen Friedensordnung hinausreicht, das seit 50 Jahren die Tagesordnung beherrscht, wird sie auch komplexer. Ein politischer Gleichklang zwischen Amerika und Europa ist keine Selbstverständlichkeit. Er ist das Ergebnis steter Anstrengungen. Das bedeutet für beide Seiten die Notwendigkeit, mehr in diese Partnerschaft zu investieren: mehr Abstimmung, mehr politische und kulturelle Ressourcen und mehr Austausch von Menschen und Ideen. Das American Jewish Committee investiert diese Energie seit vielen Jahrzehnten in beispielhafter Weise. Gerade das neue Berliner Büro des AJC ist für immer mehr amerikanische Juden eine Brücke der Verständigung mit dem Deutschland von heute geworden. Ich möchte Ihnen, Präsident Ramer, und Ihren Kollegen für die offene und auch in der Kritik immer freundliche Zusammenarbeit herzlich danken. Und ich möchte diese Gelegenheit nutzen, den künftigen Präsidenten des AJC, Harold Tanner, herzlich nach Deutschland einzuladen. Wie das amerikanische Volk hat das American Jewish Committee sehr früh Vertrauen in Deutschlands "zweite Chance" gesetzt und in der jüdischen Gemeinschaft weltweit für sie geworben. Wir werden das sage ich für mich persönlich, für die deutsche Bundesregierung und für viele, viele Menschen in Deutschland, denen ich mich mit diesem Ziel verbunden weiß diesem Vertrauen gerecht werden und niemanden enttäuschen. Ich danke Ihnen.