Redner(in): Julian Nida-Rümelin
Datum: 10.05.2001

Untertitel: Anlässlich der Verleihung des Preises "Das politische Buch" 2001 an Heinrich August Winkler hielt Staatsminister Julian Nida-Rümelin am 10. Mai 2001 eine Festrede zum Thema: Zivilgesellschaft - Staat - Bürger.
Anrede: Anrede,
Quelle (evtl. nicht mehr verfügbar): http://archiv.bundesregierung.de/bpaexport/rede/49/39749/multi.htm


Der deutsche Sonderweg, Schrecken für die einen, Gegenstand des Stolzes für die anderen, galt lange als das Signum der deutschen Nationalgeschichte, vornehmlich in den letzten zweihundert Jahren. Zu seinen Eigenarten gehörte nicht nur die schroffe Entgegensetzung von Kultur und Zivilisation, sondern auch das Schwanken zwischen Staatsvergottung und Bewegungsromantik. Heinrich August Winkler hat in seiner zweibändigen deutschen Geschichte für die These argumentiert, dass der deutsche Sonderweg spätestens seit dem 3. Oktober 1990 endgültig der Vergangenheit angehört. Deutschland ist heute im Westen angekommen, es gibt keinen deutschen Sonderweg, keine offenen Territorialfragen und das Land ist demokratisch stabil, kurz: eine ganz normale westliche Demokratie. Wenn es so ist - und es spricht vieles dafür - , heißt dies natürlich nicht, dass damit ernsthafte Gefährdungen der Demokratie in Zukunft nicht mehr zu erwarten seien. Vielmehr ist damit zu rechnen, dass die Probleme, die auf die deutsche Demokratie zukommen, von nun an vornehmlich von der gleichen Art sein werden, wie sie auch die anderen westlichen Demokratien beschäftigen. Eines dieser Probleme ist die Entfremdung zwischen Politik und Bürger und das komplizierte Verhältnis von Zivilgesellschaft und Staat.

Nicht erst seit 1989, aber seitdem verstärkt, ist in der politischen Öffentlichkeit wieder von der "Zivilgesellschaft" oder "Bürgergesellschaft" die Rede. In den 70er und 80er Jahren war es vor allem die Alternativ- und Umweltbewegung, die mit diesen Begriffen eine gegen die staatliche Politik gerichtete oder zumindest staatsferne Praxis theoretisch zu verorten trachtete. Fast gleichzeitig gingen auch viele Dissidenten im Ostblock dazu über, den Begriff der "Zivilgesellschaft" als Gegenbegriff zur verstaatlichten Gesellschaft der kommunistischen Massenorga-nisationen und als Inbegriff des sich formierenden gesellschaftlichen Widerstands zu gebrauchen. Im sich ausbreitenden neoliberalen Klima der 80er und 90er Jahre schließlich wurden die Begriffe "Zivilgesellschaft" und "Bürgergesellschaft", wenn man sie nicht überhaupt im Namen des Individuums negierte, häufig mit dem Geflecht von Marktbeziehungen ineinsgesetzt.

In allen drei Bedeutungen steht "Zivilgesellschaft" oder "Bürgergesellschaft" in einem pointierten Gegensatz zum Staat, was in Diktaturen seine offensichtliche Berechtigung hat, in der Demokratie aber auf gefährliche Abwege führen kann. Ich möchte hier ein Verständnis von Zivilgesellschaft einbringen, demzufolge der demokratische Staat auf der einen und die institutionellen Strukturen und die kooperative Praxis der Zivilgesellschaft auf der anderen Seite einander notwendig bedingen und ergänzen. Weil die Demokratie ohne die kooperative Praxis der Zivilgesellschaft auf Dauer nicht bestehen kann und weil bei anhaltender Dominanz der neoliberalen Ideologie die Gefahr besteht, dass die Bürgerschaft in lauter konkurrierende Interessenmaximierer zerfallen und diese Praxis mehr und mehr erodieren könnte, ist die Aktivierung der Zivil- oder Bürgergesellschaft meiner Auffassung nach heute eine der vordringlichen Aufgaben der Politik.

Bürgerschaftliches Engagement in der Übernahme öffentlicher Aufgaben und Ämter und im freiwilligen Dienst an den Mitbürgern ist freilich ein altes Konzept. Bewusst oder unbewusst knüpfen alle neueren Diskussionen zu diesem Thema auch an den antiken Demokratiediskurs ( etwa bei Perikles ) und den klassischen Republikanismus an. In diesen frühen Demokratietheorien herrscht die Vorstellung, dass die Bürgerfreiheit notwendig mit der Verantwortung gegenüber dem Gemeinwesen verbunden ist und die Demokratie auf der aktiven Partizipation der Bürger und nicht allein auf einem Verfassungsarrangement beruht. Erst im 20. Jahrhundert, vornehmlich in der ökonomischen Demokratietheorie von Joseph Schumpeter und Anthony Downs sowie in allen folgenden Versuchen, die Demokratie auf dem Modell von Elitenherrschaft und Konsumentenwahl zu begründen, geht dieser Gedanke wieder verloren.

Freilich hat sich bisher jedenfalls - auch gerade in Deutschland - die Praxis gegenüber solchen Theorien als erstaunlich resistent erwiesen. Auch wenn immer mal wieder behauptet wird, die Deutschen stellten immer nur Ansprüche an den Staat und seine Vorsorge- und Versorgungseinrichtungen, ohne je auf die Idee zu kommen, die Lösung eines Problems selbst in die Hand zu nehmen, ist doch die Tradition zivilgesellschaftlicher - oder wie es früher hieß: ehrenamtlicher -Selbsttätigkeit in Vereinen, Verbänden und Initiativen im ganzen beachtlich, übrigens auch bei jungen Menschen. Keinesfalls kann davon die Rede sein, dass in Deutschland die zivilgesellschaftliche Kooperation im internationalen Vergleich dramatisch unterentwickelt sei. Das zeigen auch jüngere vergleichende Untersuchungen wie die von Helmut Klages ( "Engagement und Engagementpotential in Deutschland", in: U. Beck,"Die Zukunft von Arbeit und Demokratie", Frankfurt / Main 1999 ) und Rosenbladt / Picot ( "Freiwilligenarbeit, ehrenamtliche Tätigkeit und bürgerschaftliches Engagement", 1999 ) .

Wenn heute von "Aktivierung der Bürgergesellschaft" die Rede ist, so geht es vor allem darum, das vorhandene Potential effizienter zu nutzen. Begreiflicherweise spielt dabei auch die Forderung nach Begrenzung oder Reduzierung der öffentlichen Ausgaben eine Rolle. Die angespannte Lage der öffentlichen Finanzen und der populäre Ruf nach einer "Verschlankung des Staates", veranlassen heute Politiker aller Parteien, nach Möglichkeiten Ausschau zu halten, den Staat von - insbesondere finanziell folgenreichen - Interventionsforderungen zu entlasten. Die Bürger selbst, so die verbreitete Auffassung, könnten und sollten einen Teil der Aufgaben übernehmen, die bisher vom Staat und den öffentlichen Körperschaften wahrgenommen wurden, und so die öffentlichen Kassen entlasten.

Auch wenn ich es für durchaus legitim halte, in der gegenwärtigen Lage solche Möglichkeiten der Entlastung der öffentlichen Haushalte in Erwägung zu ziehen, so glaube ich doch, dass es völlig unangemessen wäre, das Thema der "Aktivierung der Bürgergesellschaft" auf diesen Aspekt zu begrenzen. Das, was wir "Bürger-" oder "Zivilgesellschaft" nennen, ist eine Sphäre eigenen Rechts, deren Funktion sich keineswegs darin erschöpft, Finanzierungs- oder Effizienzdefizite des Staates auszugleichen. Das sich zwischen dem Individuum und dem Staat aus-breitende Institutionengefüge, für das Tocqueville den Begriff der "pouvoirs in-termédiaires" prägte, die vielen kleinen und größeren Netze der Kommunikation und Kooperation bis hin zu den global operierenden Nichtregierungsorganisationen sind das eigentliche Unterfutter der Demokratie. Hier vor allem werden die entscheidenden Sozialisationsleistungen erbracht, die zur Ausbildung ich-starker Individuen und verantwortungsbewusster Bürger notwendig sind. Hier bilden und behaupten sich auch die Widerstandspotentiale, die als Vorkehrung gegen totalitäre Ansprüche des Staates und Übergriffe der ökonomisch Mächtigen unverzichtbar sind. Hier bildet sich in der freiwilligen und selbstorganisierten Bearbeitung öffentlicher Aufgaben jener Bürgersinn, ohne den ein demokratisches Gemeinwesen nicht bestehen kann.

Die Aktivierung der Bürgergesellschaft ist also unter drei Aspekten von Bedeutung:

1. unter dem der Sozialisation, d. h. der Vermittlung und Einübung von Einstellungen und Verhaltensweisen, die das Individuum im Wortsinne "gesellschaftsfähig" machen;

2. unter dem der Partizipation, d. h. der Teilhabe der Bürger an der demokratischen Willensbildung und der Ermöglichung direkter Demokratie;

3. unter dem der effizienten und bedürfnisgerechten Bearbeitung und Lösung gesellschaftlicher Probleme.

Ausdrücklich möchte ich betonen, dass ich den Gedanken der Subsidiarität für die Organisation moderner Gemeinwesen für unverzichtbar halte. Dass er mittlerweile nicht nur im nationalen Rahmen, sondern auch auf der Ebene der Europäischen Union weitgehend akzeptiert wird, darf vielleicht als Zeichen dafür gelten, dass die Ära des Staatspaternalismus und der zentralistischen Steuerungssysteme endgültig vorbei ist. Freilich gilt es nun, nicht in das andere Extrem zu fallen und einer modischen Staatsfeindschaft und einer heute ebenfalls verbreiteten romantischen Überhöhung der Zivil- oder Bürgergesellschaft das Wort zu reden. Die Erfahrung zeigt, dass die Bürgergesellschaft des rechtsstaatlichen Rahmens und des sozialstaatlichen Fundaments bedarf. Richtig verstanden erfüllt sich der Gedanke der Subsidiarität erst im produktiven Miteinander von Zivilgesellschaft und Staat, im wechselseitigen Bedingungsverhältnis von freier Gesellung und verlässlichem Rechtsrahmen.

Die großen, in Jahrzehnten der politischen Auseinandersetzung erkämpften staatlichen Solidarsysteme sind auch in Zukunft für eine humane Gesellschaft unverzichtbar. Sie sind Ausdruck einer auf Kooperation angelegten Gesellschaft, die ein Band der Solidarität zwischen Alten und Jungen, zwischen Arbeitsplatzbesitzern und Arbeitslosen, zwischen Gesunden und Kranken knüpft. Die Aufgabe dieser Solidarsysteme ist es, vor individueller Not zu schützen und das individuelle soziale Engagement zu stützen. Dass sie neuen Bedingungen und Ansprüchen angepasst werden müssen, dass Fehlentwicklungen korrigiert und Lasten hier und da neu verteilt werden müssen, kann niemand bezweifeln, der sich mit der Materie näher befasst. Aber der Sozialstaat darf nicht in Frage gestellt werden - auch um der Demokratie willen nicht. Worauf es vielmehr ankommt, ist, eine verlässliche Brücke zwischen Solidarität und Subsidiarität zu bauen. Und eben hierzu bedarf es der Aktivierung der Bürgergesellschaft.

Das Staatsverständnis, das einer solchen Sicht der Dinge zugrunde liegt unterscheidet sich grundlegend von allen obrigkeitsstaatlichen Modellen, aber auch von dem des paternalistischen Versorgungsstaats. Ich habe dafür in früheren Arbeiten den Begriff des "zivilen Staates" gewählt. Der Grundgedanke dieses Konzepts lautet: Staatliche Institutionen haben die Funktion, das gesellschaftliche Kooperationsgefüge zu stützen. Das Leitbild des Bürgers im zivilen Staat ist nicht der Untertan, auch nicht der Empfänger staatlicher Leistungen, sondern der aktiv mit anderen seine Belange selbst regelnde, sich in die öffentlichen Angelegenheiten selbstbewusst einmischende Citoyen. In diesem Leitbild verbindet sich also das kommunitaristische Moment mit dem der Citoyennité .

Wer die Aktivierung der Bürgergesellschaft will, muss die Subjektstellung des Bürgers stärken, und zwar nicht nur des Bürgers als Konsument, sondern vor allem als Citoyen. Dazu genügt es freilich nicht, an den Gemeinsinn der Bürger zu appellieren. Vielmehr ist es Aufgabe der Politik, die Bedingungen für zivilgesellschaftliche Kooperation und damit für die reflexive Selbststabilisierung der demokratischen Gesellschaft zu erhalten und nach Möglichkeit zu verbessern.

Zwar ist es richtig, dass auch ein Zuviel an regulierenden Eingriffen des Staates hier hinderlich sein kann, aber keinesfalls darf daraus im Umkehrschluß gefolgert werden, dass es um die zivilgesellschaftliche Kooperationsfähigkeit umso besser steht, je mehr sich der Staat aus der Gestaltung der Lebensbedingungen heraushält.

Überhaupt ist die solchen Fehlschlüssen zugrunde liegende rein quantitative Betrachtung staatsinterventionistischer Aktivitäten irrig. Nicht der Umfang staatlicher Eingriffe ist entscheidend, sondern ihre Qualität, nicht wie viel öffentliche Gelder ausgegeben werden, sondern wofür und zu welchen Bedingungen. Der Staat als Ermöglicher und Förderer gesellschaftlicher Selbstorganisation und ziviler Kooperation braucht andere Steuerungsinstrumente und ein anderes Interventionsmodell als der traditionelle Obrigkeits- und Versorgungsstaat.

Wenn es also die Aufgabe des demokratischen oder zivilen Staates ist, das gesellschaftliche Kooperationsgefüge zu unterstützen, so wäre nun zu fragen, mit welchen Mitteln dies heute geschehen könnte. Diese Frage lässt sich nur beantworten, wenn man sich vergegenwärtigt, welche Ressourcen den Bürgern verfügbar sein müssen, damit sie in einem hohen Maße eigenaktiv und selbstorganisiert tätig werden können. Ganz allgemein gesprochen sind dies die folgenden:

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Geld oder andere Formen verfügbaren Einkommens;

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frei gestaltbare Lebenszeit;

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Gesundheit;

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Wissen, handwerkliche und sonstige Fertigkeiten;

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ein die Eigentätigkeit begünstigendes Wohnumfeld;

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stabile soziale Beziehungen;

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eine Kultur der sozialen Eigenverantwortung.

Es ist offensichtlich, dass die Politik auf die Verfügbarkeit und Verteilung dieser Ressourcen in vielfältiger Weise Einfluss nehmen kann und tatsächlich auch nimmt, und zwar auf allen Ebenen:

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So kann z. B. die Kommunalpolitik durch die Gestaltung des Wohnumfelds die selbstorganisierte Problemlösung durch Individuen und Gruppen erleichtern oder erschweren. Sie kann die zivilgesellschaftliche Kooperation fördern, wenn sie bei Planung und Neugestaltung von Wohnquartieren, darauf achtet, dass die Kommunikation unter den Bewohnern erleichtert wird, dass es in Mietshäusern Räume gibt, in denen Reparaturarbeiten durchgeführt, eine gemeinsame Kinderbetreuung oder Hausaufgabenhilfe organisiert werden kann. Öffentlich zugängliche Sportanlagen, eine Bibliothek mit benutzerfreundlichen Öffnungszeiten, Räume für Jugendtreffs, Alten- und Internetcafés, für Tauschbörsen und andere Vermittlungstätigkeiten, ein auf die Bedürfnisse der Menschen - auch der Kinder und der Alten - abgestimmtes Verkehrssystem - all das kann die Selbstorganisationsfähigkeit und die Selbsthilfekompetenz der Bewohner stärken.

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Auf der Länderebene spielt vor allem die Bildungspolitik eine entscheidende Rolle bei der Förderung zivilgesellschaftlicher Aktivitäten und einer Kultur der sozialen Eigenverantwortung, übrigens nicht nur in der Schul- und Hochschulbildung, sondern besonders auch auf dem Feld der Erwachsenen- und Weiterbildung.

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Auf der Ebene des Bundes sind Maßnahmen zur Förderung von Familien und familienähnlichen Formen des Zusammenlebens von Erwachsenen mit Kindern von besonderer Bedeutung, aber auch eine aktive Arbeitsmarkt- und Einkommenssicherungspolitik oder ein zeitgemäßes Stiftungsrecht, wie es die Bundesregierung kürzlich auf den Weg gebracht hat.

Dennoch, das eigentliche Bewährungsfeld einer Politik, die sich die Aktivierung der Bürgergesellschaft zum Ziel setzt, ist die Kommune. Hier, im unmittelbaren

Lebensumfeld der Menschen werden auch heute noch am häufigsten jene Netze der Kommunikation und der Kooperation geknüpft, die das ausmachen, was man "Zivilgesellschaft" oder "Bürgergesellschaft" nennt. Freilich bleiben die Kooperationsbezüge - gerade heute im Zeitalter der digitalen Kommunikation - nicht auf den Nahbereich beschränkt. Mit den modernen Kommunikationsmitteln sind, wie wir an den international operierenden NGO's studieren können, Kooperationsnetzwerke möglich, die sich von Kontinent zu Kontinent über den ganzen Erdball erstrecken.

Die politischen Institutionen der Demokratie von der kommunalen Ebene über die des Landes oder der Region bis hin zum Nationalstaat und darüber hinaus der Europäischen Union und der UNO können ohne die Unterstützung durch zivilgesellschaftliche Aktivitäten auf Dauer nicht funktionieren. Aber auch umgekehrt gilt, dass die Selbstorganisationsfähigkeit der Zivilgesellschaft im hohen Maße von politischer Rahmensetzung abhängig ist. Hierbei spielt der gesetzliche Regelungstyp eine herausragender Rolle. Ein Staat, der in seinen Gesetzen, eine Verwaltung, die in ihren Anordnungen nicht nur das zu erreichende Ziel, sondern auch noch die Mittel zur Erreichung des Ziels in allen Details vorschreibt, lässt den Bürgern zu wenig Raum, entsprechend den je unterschiedlichen lokalen und regionalen Bedingungen an der Lösung öffentlicher Probleme mitzuwirken. Würde aber ganz auf eine gesetzliche Regelung verzichtet, wie es von neoliberaler Seite oft gefordert wird, dann kommt es zumeist zu unerträglichen Ungleichheiten bei den Lebenschancen der Bürger und nicht selten auch zu einer Gefährdung der öffentlichen Sicherheit. Eine klare rechtsverbindliche Festlegung der öffentlichen Aufgaben und Ziele bei weitgehender Offenlassung der Mittel und Wege zu ihrer Erfüllung erscheint mir also als die angemessene Vorgehensweise, um die Aktivierung der Bürgergesellschaft zu fördern.

In der Praxis geht die Unterstützung der zivilgesellschaftlichen Kooperation durch den Staat und die Kommunen freilich aus guten Gründen über die bloße Rahmensetzung und infrastrukturelle Vorleistungen hinaus. Die Erfahrung ( auch meine eigene als kommunaler Kulturpolitiker in München ) zeigt nämlich, dass zivilgesellschaftliche Selbsttätigkeit in vielen Fällen am effektivsten ist, wenn professionelle Leistung und Laienmitwirkung, Selbsthilfe und staatliche bzw. kommunale Leistung sich ergänzen. Viele hervorragende Beispiele von sozialen und kulturellen Initiativen haben sich in den letzten Jahren um Kernbereiche öffentlich verwalteter Dienstleistungen herum gebildet. Allerdings funktionieren solche flexiblen Kooperationen nur dann, wenn die Angehörigen der Verwaltung und des Öffentlichen Dienstes den Wert der zivilgesellschaftlichen Selbsttätigkeit begreifen und diese nicht als Bedrohung ihres "Leistungsmonopols" empfinden.

Da die beiden Milieus, der Öffentliche Dienst und die freien Initiativen, sich anfänglich oft sehr fremd sind, ist es unumgänglich, dass Beamte und Angestellte auf die neuen Aufgaben im Zusammenhang mit der Aktivierung der Zivilgesellschaft speziell vorbereitet werden. Insbesondere dort, wo freie Initiativen, Vereine oder Verbände öffentliche Gelder in Anspruch nehmen, besteht die Gefahr, dass Kontrollauflagen und Abrechnungsmodalitäten die freiwillig Tätigen überfordern oder ihnen ein Maß an bürokratischer Formalisierung und Professionalisierung aufzwingen, das sich nachteilig auf das Engagement der Freiwilligen auswirkt. Natürlich muss über die Verwendung öffentlicher Gelder in einer Demokratie sorgfältig Rechenschaft abgelegt werden. Aber kluge Verwaltungen sollten den damit verbundenen Aufwand nicht allein den freien Initiativen aufbürden, sondern im Gegenteil ihnen bei der unvermeidlichen bürokratischen Arbeit helfend zur Hand gehen.

Der Satz, dass der Staat für die Menschen da sei, und nicht umgekehrt die Menschen für den Staat, ist der richtige Kerngedanke des politischen Liberalismus. Die neoliberalen Marktradikalisten unserer Tage übersehen aber, dass der Einzelne nicht unvermittelt dem Staat gegenüber steht, sondern dass sich zwischen beiden das vielfältige Kooperationsgefüge der Zivilgesellschaft erstreckt, ohne das ein produktiv-demokratisches Verhältnis zwischen Mensch und Staat gar nicht möglich ist. Wenn Margaret Thatcher einmal sagte, dass es so etwas wie "Gesellschaft" gar nicht gebe, so lieferte sie damit einen deutlichen Beleg für die Blindheit der Neoliberalen gegenüber der lebendigen Gesellschaftlichkeit, die in der Vielfalt von Vereinen, Verbänden, Initiativen und informellen Kooperationsgemeinschaften zum Ausdruck kommt und die kein noch so perfekt organisierter Markt simulieren kann.

Ohne diesen Reichtum kooperativer Formen wäre auch die moderne Gesellschaft

nicht lebensfähig und gewiss auch nicht lebenswert. Die Vielfalt der Kultur - im weiteren und im engeren Sinne - ruht auf diesem Fundament gesellschaftlicher Selbsttätigkeit. Jeder Versuch, sie in staatliche Regie zu nehmen oder sie allein als profitable Produktion für den Markt zu organisieren, müsste zwangsläufig zu einer kulturellen Verarmung und zur Erosion der Grundlagen der Demokratie führen.

Ohnehin geben sinkende Wahlbeteiligung und verbreitete Staats- , Parteien- und Politikverdrossenheit heute Anlass zur Sorge. Bloße Appelle - das hat sich in den letzten Jahren gezeigt - helfen da nicht. Die Entfremdung zwischen der Politik und dem täglichen Leben der Menschen ist eher noch größer geworden. Ich bin davon überzeugt, dass eine Politik, die auf allen Ebenen die Bedingungen für zivilgesellschaftliche Selbsttätigkeit verbesserte, wesentlich dazu beitragen könnte, die oft - und nicht ganz zu Unrecht - beklagte Kluft zwischen Politik und Leben, wenn nicht zu schließen, so doch zu verringern. Meiner Ansicht nach kann nur die gezielte Aktivierung der Zivilgesellschaft verhindern, dass die Demokratie allmählich an Auszehrung stirbt.

Bürgersinn kann sich immer noch am besten in den konkreten Kooperationszusammenhängen der Zivilgesellschaft herausbilden und stabilisieren. Der Citoyen braucht Gegenstände, an denen er sich ausprobieren und bewähren kann, und die findet er am ehesten vor der eigenen Haustür, in der Kommune, in den enger und weiter gespannten Netzen der Kooperation mit anderen. Die hier eingeübte Haltung demokratischer Verantwortung und Mitwirkung wird sich, so hoffe ich, in dem Maße auch auf die Fragen der großen Politik übertragen, vielleicht am Ende sogar zu einer wieder wachsenden Wahlbeteiligung und Mitarbeit in den Parteien führen, in dem deutlich wird, dass die kleine Politik der zivilgesellschaftlichen Kooperation und die große Politik des zivilen Staates aufeinander angewiesen sind.